Prof. Dr. Michael Simon
Universität Mainz
Deutschland sucht den Superstar – zwischen „Volksvergnügen und Politik“
Der 9. November ist in Deutschland ein wichtiges Datum von großer historischer Bedeutung. Einigermaßen pikant ist es daher, dass ausgerechnet an diesem Tag vor gut dreizehneinhalb Jahren der Privatsender RTL mit der Ausstrahlung einer Fernsehshow begann, von der inzwischen 13 Staffeln mit insgesamt 267 Folgen gezeigt wurden. Die Rede ist von der Castingshow „Deutschland sucht den Superstar“, kurz DSDS genannt, eine Abkürzung, die unter älteren Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sicherlich keiner Erläuterung bedarf. Allen anderen sei kurz erklärt, dass es sich hierbei um einen Talentwettbewerb handelt, bei dem unter Beteiligung einer Jury und der Zuschauer nach einem neuen musikalischen „Superstar“ gesucht wird. Das Format zog von Beginn an ein Millionenpublikum vor den Fernseher; allerdings hat sich das Interesse über die Jahre deutlich verringert, was nicht zuletzt an der wachsenden Konkurrenz ähnlicher Sendungen liegen dürfte. Für den Sender RTL bleibt die Serie aber bis heute ein Megaevent, das 2016 mit dem „größten DSDS-Finale aller Zeiten“ schloss, wie es auf der Homepage zur 13. Staffel heißt.
Andere äußern sich weniger begeistert. Der Kreis der Kritiker ist groß. Es heißt, viele der präsentierten Nachwuchstalente seien überhaupt nicht besonders begabt, sondern man würde ihnen nur die Chance für einen Fernsehauftritt einräumen, um sie vor einem möglichst großen Publikum vorzuführen und sich auf ihre Kosten zu amüsieren. Anstelle von Talenten seien die Verantwortlichen eher an schrägen Typen und „Opfern“ interessiert, die sich quotenwirksam vermarkten lassen und den Zuschauern immer wieder das wohlige Gefühl bescheren würden, auf andere herabsehen zu können. Statt nachvollziehbarer Kriterien bei der Auswahl der besten Teilnehmer käme es eher auf deren Wohlverhalten gegenüber der sogenannten Jury an, die seit der ersten Folge von dem Musiker und Produzenten Dieter Bohlen dominiert würde. Er geriere sich als der eigentliche Macher der neuen Superstars, der ihnen mit guten Ratschlägen und wertvollen Beziehungen zur großen Karriere verhelfen würde. Tatsächlich bleibe der Erfolg der Sieger dieser Show aber bescheiden. Wahrnehmbarer sei dagegen die immer wieder praktizierte Herabwürdigung ihrer Konkurrenten, die beschimpft, gedemütigt und lächerlich gemacht werden würden. Gerade für die vielen jugendlichen Zuschauer sei DSDS gefährlich, weil die Show falsche Werte und Vorbilder sowie mehr Schein als Sein vermitteln würde.
Angesichts solcher Bedenken stellt sich für einen nachdenklichen Menschen die Frage, ob es solche Sendungen im deutschen Fernsehen wirklich geben muss bzw. warum sie überhaupt ausgestrahlt werden. Der Verdacht liegt nahe, dass mit derartigen Formaten systematisch zur Verdummung der Massen beigetragen werden soll. Um ihr Interesse zu finden, würden die niederen Instinkte angesprochen und aus einer Mischung von Voyeurismus und Exhibitionismus billige Unterhaltungsangebote produziert, mit denen sich ganz nach der antiken Strategie „Panem et circensis“ von den eigentlichen Problemen unserer Gesellschaft ablenken lasse. Statt die Menschen medial wachzurütteln, ihnen Bildungsangebote zu unterbreiten und ihre Kritikfähigkeit zu fördern, offeriere man ihnen einen seichten, wenn nicht narkotischen Unterhaltungsbrei, der sie immer weiter abstumpfen lasse und aus ihnen am Ende eine politisch leicht manipulierbare Masse mache.
Die Sorge um diese Gefahr ist alt, wie sich schon aus dem zitierten lateinischen Spruch ableiten lässt. Um historisch näher an der Gegenwart zu bleiben, reicht es, in das 19. Jahrhundert zurückzuschauen. Mit dem Wachsen medialer Angebote an breite Bevölkerungsgruppen setzte damals seitens kulturbeflissener Kreise der Kampf gegen die aufkommenden Kolportageromane und billigen Groschenhefte ein, die man für „Schmutz und Schund“ hielt. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt die Sorge vieler Eltern dem um sich greifenden Interesse ihrer Zöglinge an den immer beliebter werdenden Comics, deren Lektüre manchem als „Untergang des Abendlandes“ erschien. Inzwischen zählen Micky Maus und Donald Duck zu den Klassikern. Ob es die Sendung DSDS in einigen Jahrzehnten auch dahin bringen wird, sei dahingestellt, sie aber allein aus einer elitären Perspektive zu kritisieren, bleibt einseitig. Ihr Gefahrenpotential sollte nicht verharmlost, aber auch nicht übertrieben werden. Immerhin ist unsere Medienlandschaft pluralistisch und es gibt weiterhin eine Vielzahl konkurrierender Angebote für alle Fernsehzuschauer. Auch die Rezeption von DSDS fällt ja keineswegs einseitig bejahend aus, sondern die Ausstrahlung der einzelnen Staffeln ruft regelmäßig in der Öffentlichkeit Diskussionen hervor, die für unser kulturelles Selbstverständnis und unsere Verständigung darüber wichtig sind. Greifbar werden solche Rückmeldungen nicht zuletzt in einer Vielzahl von Imitationen, Variationen und Persiflagen, die man sich etwa auf Youtube anschauen kann. Sie belegen ein durchaus kreatives Potential dieser Sendung, das bei allen denkbaren Gefährdungen nicht übersehen werden sollte.