Prof. Dr. Erol Yıldız
Universität Innsbruck – Österreich
Plädoyer für eine postintegrative Sicht der Dinge
Flucht, globale Not und Ungleichheit stellen Schlüsselprobleme unserer Zeit dar. Es gibt vielfältige Gründe, warum Menschen ihre angestammten Orte verlassen, um ihr Überleben zu sichern. Wenn sich an den Ursachen nichts ändert, wird Flucht auch in Zukunft für viele Millionen Menschen eine Überlebensfrage sein. Namhafte Globalisierungskritiker haben seit Jahren darauf hingewiesen, dass wesentliche Ursachen für Hunger, Kriege und Klimawandel in der fatalen Weltwirtschaftsordnung liegen. Der Schweizer Soziologe und UN-Berater Jean Ziegler hat für dieses Problem drastische Worte gefunden: „Imperium der Schande“, „kannibalische Weltordnung“, „wirtschaftlicher Weltkrieg“. Das wird nicht gern gehört und in öffentlichen Debatten nur ungern angesprochen.
Richtet man den Blick auf den aktuellen Diskurs zur Flüchtlingssituation in Österreich oder Deutschland, fallen zunächst drei Punkte auf, die unsere aktuelle Wahrnehmung kanalisieren und die vorherrschende Stimmung prägen.
Die Lage wird erstens ahistorisch dramatisiert: Als wären unsere Gesellschaften zum ersten Mal mit dem Thema Flucht konfrontiert und damit völlig überfordert. Gerade Österreich und Deutschland haben in ihrer Geschichte jedoch schon „Flüchtlingskrisen“ bewältigt: Nach dem 2. Weltkrieg, vor und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, während des Jugoslawienkriegs. In der aktuellen Diskussion kommen solche Erfahrungen, die keinesfalls zum gesellschaftlichen Verfall geführt haben, sondern weitgehend als erfolgreich zu werten sind, jedoch kaum vor.
Öffentliche Kontroversen werden zweitens mit Bildern drohender Überflutung entfacht: Skandalisierung der Flüchtlinge statt der Fluchtursachen, wandernde und lagernde Menschenmassen, überfüllte Boote und Hallen verstärken den Eindruck, Europa müsse sich nur vor den Flüchtlingen schützen, um die Krise zu bewältigen. Während die Stimmung von Hilfsbereitschaft in Abwehr umschlägt, schreitet eine mediale Entsubjektivierung voran. Wir sehen nur noch Massen statt Menschen.
Drittens gilt es inzwischen als Teil der Lösung, zwischen echten und unechten Flüchtlingen zu unterschieden. Der Begriff Wirtschaftsflüchtling suggeriert dabei ein Streben nach Komfort und Luxus, wo es vielfach um die blanke Existenz geht. Selten wird in solchen Debatten allerdings erwähnt, wie viele Millionen Europäer über lange Zeiträume hinweg als „Wirtschaftsflüchtlinge“ nach Übersee ausgewandert sind.
Diese Grundlinien des Flüchtlingsdiskurses durchziehen aktuelle Berichte, Beobachtungen und Analysen und wirken sich auf immer neue Integrationsforderungen aus.
Im Gegensatz dazu plädiere ich hier für einen differenzierten und weniger aufgeregten Umgang mit der Situation. So lange es globale Fluchtursachen gibt, werden Menschen nach Europa kommen, ob es uns gefällt oder nicht. Auch unsere Gesellschaften werden sich verändern, vielfältiger und komplexer werden.
Eine angemessene, friedliche Form, mit den Herausforderungen umzugehen, wäre es, einen Blick zu entwickeln für neue Möglichkeitsräume und Alternativen, für langfristige gesellschaftliche Chancen durch Zuwanderung, statt Integration nur als Bringschuld der Flüchtlinge und Migranten zu betrachten. Es versteht sich von selbst, dass solche Entwicklungen nicht von heute auf morgen geschehen können. Ich plädiere hier jedoch für eine Art „postintegratives Konzept“, das sich nicht von kulturellem Misstrauen oder Arroganz gegenüber Zugewanderten leiten lässt, sondern von einem pragmatischen Realismus.
Das würde zunächst erfordern, unsere eigenen historischen Erfahrungen mit Migration und Flucht zu reaktivieren und zum Ausgang weiterer Überlegungen zu machen. Es wäre zweitens erforderlich, die Perspektiven der zivilgesellschaftlichen Organisationen einzubeziehen, drittens auch nach informellen Lösungen unterhalb von bestehenden Institutionen zu suchen und viertens, dass wir andere Bilder und Deutungen brauchen, die einen optimistischen Blick auf neue Möglichkeiten eröffnen.
Bei allen Schwierigkeiten, die langfristig zu bewältigen sind, liegt in der aktuellen Situation eine wirkliche Chance, nämlich der Anlass, über soziale Gerechtigkeit neu nachzudenken, gesellschaftliche Institutionen wie Bildungswesen, Arbeits- und Wohnungsmarkt im Sinne aller Menschen, die hier leben, zu demokratisieren und gesellschaftliche Verhältnisse ganz neu zu denken.
Zum Schluss bleibt zu sagen: Wir brauchen gesellschaftliche Visionen, die eine symbolische Wirkung auf die Gesamtgesellschaft haben, neue konstruktive Ideen, die sich auf unsere Haltung zu Migration und Vielfalt auswirken.