Prof. Dr. Michele Borrelli
Universität Kalabrien – Italien
Grundsätzlich hat das Abendland zwei bedeutende Arten von Humanismus hervorgebracht: den griechischen Humanismus (oder den Humanismus der Anfänge) und den Humanismus der Moderne. Der Erste basierte auf der Voraussetzung der Einheit von Mythos und Rationalität und rechtfertigte sich im normativen Horizont der entsprechenden Zugehörigkeit, auf der einen Seite zur polis, d.h. Staatsverband und zum cosmo, d.h. Kosmos, auf der anderen Seite zu einem kategorialen Rahmen der gemeinsamen Suche nach dem Richtigen, dem Guten, dem Schönen, dem Wahren usw. Der Humanismus unserer Anfänge jedoch (und hier zeigt sich seine Grösse) breitete sich auch im doppelten anthropologischen Sinn der Erforschung darüber aus, wie der Schmerz, das Leiden, der Kummer, die Verzweiflung, der Tod (denken Sie an Sokrates) zu ertragen sind sowie der Erforschung von Werten wie den Mut, das Glück, die Tugend oder die Liebe (eros) und wird auch als Suche nach der Wahrheit und Aufgabe der Philosophie (man denke an Platon) verstanden. Das so differenzierte erkenne dich selbst ist die Suche nach der Essenz des Menschen, vor allem in seiner moralischen und ethischen Dimension. Jene Essenz, die macht, dass wir nicht nur per definitionem (und folglich a priori) menschliche Wesen sind, sondern weil wir es im ad infinitum-Prozess der Paideia tatsächlich (durch Autoformation, a posteriori) werden (im ontologischen Sinn nach Aristoteles). Dies brachte die Sorge für den Körper mit sich und damit verbunden die Sorge um die Seele (Sokrates) oder des Geistes in seinen verschiedenen Facettierungen. Die Harmonie oder das Glück des Lebens des Menschen hingen vom Erreichen und vom Erklären all dieser drei Aspekte ab und niemals nur von der Entwicklung und der Sorge um nur eine einzige dieser drei Dimensionen des Geistes. Das Menschwerden hatte nicht den Sinn der Vereinzelung auf einer individualistisch-egoistischen Ebene. Die Sorge um sich stellte ein konkretes Konzept dar, mit dem man den Bürgersinn sowohl gegenüber der Führung der Familie als auch gegenüber der Führung der öffentlichen Angelegenheiten verband. Man ging von der Voraussetzung aus, dass derjenige, der nicht dazu in der Lage war, sich um sich selbst (vor allem Sorge um die Seele) zu kümmern, auch nicht in der Lage sei, sich um öffentliche Angelegenheiten, d.h. der Führung des Gemeinwohls zu kümmern und diesen nicht gewachsen sei.
Der zweite Humanismus, der Humanismus der Moderne, zielt auf die Emanzipation des Individuums. Auch er verweist auf einen normativen Rahmen, aber nicht mehr auf den der Zugehörigkeit (als Wert der Kollektivität und des vereinten Lebens), sondern vielmehr auf einen Rahmen der Trennung und der Befreiung, dessen tragende Werte die Autonomie, Selbstbestimmung und die Freiheit des Einzelnen sind. Dies sind Werte, die die Paideia des Abendlandes ab dem Illuminismus a priori für jedes Individuum in seiner Eigenschaft als Person anerkennt und ihm zuerkennt. Werte, die nach und nach unter der Triebfeder wahrscheinlich nicht nur des sapere aude von Kant und des Illuminismus des Abendlandes im allgemeinen immer mehr Verbreitung fanden, sondern vor allem unter dem nicht zu bremsenden Ungestüm einer aufstrebenden und aggressiven Bourgeoisie, die die eigenen Interessen mit der Entwicklung eines kapitalistischen Marktes verband, der auf die private Initiative, auf die Investitionen der einzelnen Unternehmer und auf das freie Unternehmertum einwirkte.
Auf die Zerstörung der “alten” Idole[1] folgte die Leere der Werte des Marktes und eine Vernunft, die ein Nachdenken mühsam macht oder sogar fürchtet und folglich nicht den Mut hat, nachzudenken, um nicht zu dem Urteil zu geraten, immer noch mit dem Dogmatismus der traditionellen Metaphysik verbunden zu sein[2].
Anstatt dieses gemeinsame Gebiet der Begegnung und der Zugehörigkeit zu kultivieren, hat sich der zweite Humanismus der Paideia des Abendlandes dem langen Weg der Anarchie der technischen Rationalität unterworfen, und dies mit dem Risiko, deren Mittel und Zweck zu werden. Dieser zweite Humanismus hat auch die letzten Voraussetzungen seiner Essenz verbrannt und verbrennt sie weiterhin, und nicht nur die Bindung der Zugehörigkeit, in der Mythos und Vernunft in die komplexe Anthropologie des ersten Humanismus einleiteten. Sagbar und unsagbar waren keine (und sind es noch immer nicht) sich selbst ausschließenden Pole, sondern bildeten vielmehr und bilden auch noch jetzt ein weitreichendes Konzept der Vernunft (einer problematischen Vernunft, im Sinne von Vico), dazu in der Lage, nicht nur die technischen und materiellen Bedürfnisse des Lebens zu befriedigen, sondern auch die Gesamtheit der spirituellen Bedürfnisse des Menschen in seiner Integralität. Der Mythos ist in diesem weiten Sinne ein wesentlicher Teil der Vernunft, und diese ist sogar, dort wo sie sich diesem entzieht, unvollständig und verkürzt. Mit den Worten der Erkenntnistheorie ausgedrückt, gilt das hier gesagte sowohl in Bezug auf die Erklärung (der äußeren Welt), als auch auf das Verständnis (der inneren Welt), d.h. im spezifizierten anthropologischen Bereich der Empfindungen des Menschen.
Der rationalistische Illuminismus des Abendlandes, der sich ganz über die Entmythisierung und Entweihung der Tradition erstreckt, begünstigte die Durchsetzung einer technischen Vorstellung des Fortschritts und verzichtete dabei auf seine Identität, die sicherlich nicht nur die Suche nach dem Nützlichen (individualisierten) war, sondern auch die Suche nach dem Schönen und, einer noch wichtigeren Sache, die Suche nach dem Gemeinwohl.
Wie kann man eine Antwort auf eine Anthropologie geben, die, gegen ihren Willen, die Kommerzialisierung riskiert? Ist eine Rückkehr von einer Paideia des Habens zu einer neuen Paideia des Seins noch möglich? Für die, die sich an letzterer orientieren, ist es offensichtlich, dass man unsere gegenwärtige historische Veränderung neu definieren und danach radikal noch einmal überdenken muss. Wir müssten unsere (umgekehrte) Anthropologie erneut umkehren. Die Voraussetzungen für eine Umkehrung einer umgekehrten Realität – d.h. der Übergang vom Sein zum Haben und eine neue Rückkehr zum Sein (Umkehrung der Umkehrung) sind jedoch nicht einfach, sondern werden vielmehr vom Aufbau eines neuen Humanismus abhängen, vom Wollen einer Öffnung hin zu einer neuen Vorstellung vom Menschen.
Das gute Leben ist nicht ein Recht von wenigen, sondern die regulative Vorstellung, die die Menschheit auf ihrem kontinuierlichen und unendlichen Weg der Humanisierung lenken muss. Jeder Weg der Menschheit erfolgt aber im Raum des gemeinsamen Hauses, das die Erde mit ihren vielen realen Orten, mit den vielen Geschichten, den vielen Sprachen/Kulturen und den vielen Widersprüchen und Konflikten darstellt. Es ist die Verpflichtung des neuen Humanismus der Verantwortung, die Dialektik der Verschiedenheit in der Einheit des gemeinsamen Hauses zum Wohl aller voranzubringen. Das Zusteuern auf diesen neuen Humanismus bedeutet ein neues Überdenken, bei dem der Humanismus der Zu-gehörigkeit und der Humanismus der Emanzipation im Zeichen des (verantwortlichen) Denkens auf eine neue Art und Weise über uns selbst und die Dinge wieder vereint warden. Noch einmal nachdenken bedeutet Rückkehr zum Denken. Rückkehr zum Sein als planetarischer Verantwortung.
Der dieser neuen Paideia (diesem neuen Humanismus des vollständigen Menschen, dieser Rückkehr zum Sein in der oben erwähnten doppelten Bedeutung (auf uns und auf die Dinge bezogen), im allgemeinen dieser Revolution der Art und Weise, pädagogisch und sozial zu denken) entgegengesetzte Weg ist die gefühllose und öde Leere des Fehlens von Sinn und von Perspektiven, in die sowohl die einzelnen Herzen (man denke an die Enttäuschung und Entmutigung, die die Situation der Nicht-Zukunft bei den Jugendlichen von heute hervorruft) stürzen können (und bereits stürzen), als auch die Völker (man denke an die Auswanderung der Völker auf der Suche nach einem besseren Leben) und die Menschheit in ihrer Gesamtheit. In letzter Konsequenz ist die Alternative zur planetarischen Paideia des Humanismus der Verantwortung die Wiedereinführung des Prinzips des homo homini lupus, “der Mensch ist dem Menschen ein Wolf” ( das sich gegenseitig Auffressen für das eigene Überleben) oder das Nichtvorhandensein von Sinn, d.h. das Wegfallen aller Werte, aller normativen Horizonte, jeden Gotts (Nietzsche) als regulative Idee, mit anderen Worten: der Nihilismus[3].
Michele Borrelli, professore ordinario di Pedagogia Generale all’Università degli Studi della Calabria, Dipartimento di Studi Umanistici
[1] Vgl. M. Borrelli, “Von der Zerstörung des Mythos zum Mythos der Zerstörung”, in K. Helmer/N. Meder/K. Meyer-Drawe/P. Vogel (Hrsg.), Spielräume der Vernunft – Jörg Ruhloff zum 60. Geburtstag, Königshausen und Neumann, Würzburg 2000, S.50-69.
[2] Vgl. M. Borrelli, Postmodernità e fine della ragione, con Postfazione di Raúl Fornet-Betancourt, Pellegrini, Cosenza 2010.
[3] M. Borrelli, Il tramonto della paideia in Occidente, Pellegrini, Cosenza 2013.