Michael Klundt
Hochschule Magdeburg-Stendal
Es ist inzwischen kein großes Geheimnis mehr, dass die verschiedenen Bildungschancen von der jeweiligen sozialen Herkunft abhängen und besonders stark zwischen Kindern armer und Kindern reicher Eltern auseinander klaffen. Unabhängig von den Inhalten und Zielen von Bildung lässt sich erkennen, wie ungleich das konventionelle Bildungssystem Chancen – und damit Menschenrechte auf Bildung – verteilt. So führt etwa Armut nicht nur dazu, dass sich benachteiligende Lebenslagen negativ auf Gesundheit und die Bildungskompetenzen auswirken, da eine höhere soziale Herkunft auch größere Bildungsförderung und damit bessere Ergebnisse bedeutet. Hinzu kommt noch, dass selbst bei gleicher Leistung meist der familiäre Hintergrund der Schüler/innen maßgeblich über ihre Bildungschancen entscheidet. So werden Bildungs- und damit Karriere- und Partizipationschancen buchstäblich „vererbt“. Der Eliteforscher Michael Hartmann berichtet ähnliches über die zentralen Determinanten beim Übergang zu weiterführenden Schulen nach der Primarstufe. Nicht nur die milieubedingt besseren Leistungen der Kinder aus den höheren Schichten und Klassen machen sich dabei bemerkbar, sondern, so Hartmann, „auch die je nach sozialer Herkunft stark differierenden Beurteilungen der Lehrkräfte. So benötigt z.B. nach einer Erhebung unter allen Hamburger Fünftklässlern ein Kind, dessen Vater das Abitur gemacht hat, ein Drittel weniger Punkte für eine Gymnasialempfehlung als ein Kind mit einem Vater ohne Schulabschluss. Bei Versetzungsentscheidungen sind dieselben Mechanismen zu beobachten“ (in: BdWi-Studienheft 3/2005, S. 45). Ähnliche Ergebnisse förderte der Mainzer Soziologe Stefan Hradil in einer repräsentativen Schulstudie in Wiesbaden zutage. Demnach greife eine regelrechte „Unterschichtsbremse“ für die Oberschulen, wodurch Viertklässler aus armen Familien bei gleichen Noten viel seltener eine Empfehlung für das Gymnasium erhalten als Kinder betuchter Eltern (SPIEGEL online v. 11.09.2008). Auch die PISA-Studie von 2013 stellt hier zwar Verbesserungen bei den 5000 getesteten 15-jährigen in Deutschland fest. Doch trotz aller Veränderungen verbleiben die Bildungschancen immer noch überproportional von der sozialen Herkunft abhängig (vgl. Frankfurter Rundschau v. 3.12.2013).
Inhalte und Ziele von Bildung
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen von 1948 stellt in Artikel 26, Absatz 1 zu Bildung fest: „Jeder hat das Recht auf Bildung. Die Bildung ist unentgeltlich, zum mindesten der Grundschulunterricht und die grundlegende Bildung.“ Daraufhin formuliert die UNO folgende Bildungsziele in Absatz 2: „Die Bildung muss auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein. Sie muss zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen und der Tätigkeit der Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens förderlich sein.“ Von diesem Maßstab aus sollte sich jegliche Reflexion über Bildung als Menschenrecht in Deutschland leiten lassen.
Bildung lässt sich somit als individueller und kollektiver Menschheits-Prozess der Aufschlüsselung von Selbst- und Weltbild beschreiben. Sie zeichnet sich nicht nur durch die Anhäufung von vielem Wissen aus, sondern durch das Denken in Zusammenhängen. Bildung bedeutet, Vorkommnisse des natürlichen, politischen, sozialen, wissenschaftlichen und geistig-kulturellen Lebens in ihrer Kausalität, Wechselwirkung und Widersprüchlichkeit, in ihrer Entstehung und Entwicklung – also auch Veränderung – zu begreifen. Bildung impliziert auch die Entwicklung zu vernunftgeleiteter Autonomie und individueller, allseitiger Persönlichkeitsentfaltung. Ziele humanistischer Bildung sind demnach Mündigkeit, Aufklärung, Mit- und Selbstbestimmung, Kritikfähigkeit, Verantwortung und Gemeinschaftsfähigkeit.
Doch Aufklärung, als Menschenwürde und Vernunft verpflichtete Bildung verstanden, war und ist stets gefährdet von einflussreichen Herrschaftsgruppen, die ihre Privilegien durch die Verbreitung von Erkenntnissen in der Bevölkerung bedroht sehen. Wenn es nach den vielen auf Bildungsprozesse, Schulen und Schulbücher Einfluss nehmenden privatwirtschaftlichen Lobbygruppen geht, sollte Bildung beispielsweise fast nur noch mit der Bildung von sog. Humankapital gleichgesetzt werden. Die Organisation „Lobbycontrol“ verweist darauf, dass inzwischen die Daimler AG Schularbeitshefte zu „Design und Aerodynamik“ für den Unterricht in NRW herstellt, die von der Metallindustrie finanzierte INSM („Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“) oder Europas größter Medienkonzern, das Milliarden-Steuer-Spar-Modell Bertelsmann-Stiftung und andere neoliberale Think-Tanks inzwischen (mit)bestimmen, was an Deutschlands Schulen über Finanzsystem, Wirtschaft und Sozialstaat gelehrt und gelernt wird. Energie-Oligopole lehren Stromsparen, Agrochemie- und Saatgut-Multis wie Bayer unterstützen Schülerlabore und propagieren unter der Hand Gentechnik für die Landwirtschaft, Volkswagen bringt Klimaschutz bei, Energiekonzerne propagieren Tiefenverklappung von Kohlendioxid mit der CCS-Hochrisikotechnologie, Finanzindustriekonzerne erklären den Umgang mit Geld, die INSM lehrt Gefahren und Probleme übermäßiger Sozialstaatlichkeit für die Wettbewerbsfähigkeit, Bertelsmann- und Nixdorf-Stiftung lassen eigene Schul-Lehrbücher schreiben, in denen der überbordende Wohlfahrtsstaat gegeißelt wird und die an Schulen in Sachsen, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern eingesetzt werden (vgl. Felix Kamella: Lobbyismus an Schulen, Köln 2013). Dabei wird versucht ein Verständnis von Bildung zu verankern, das dem Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948, dem Artikel 13 des UN-Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie den Artikeln 28 und 29 der UN-Kinderrechtskonvention relativ wenig Rechnung trägt. Stattdessen lässt sich eher von Indoktrination und struktureller Beeinträchtigung des Kindeswohls sprechen.
Dem Frieden verpflichtete Bildung oder Militarisierung?
Alle UN-Dokumente verpflichten Bildung auf die Förderung und Bewahrung des Friedens. Insofern erscheint der Beschluss im Koalitionsvertrag der deutschen Bundesregierung, mehr Bundeswehr in Schulen und anderen Bildungsstätten einzusetzen, einigermaßen befremdlich. So heißt es: „Die Jugendoffiziere leisten eine wichtige Arbeit bei der Information über den Auftrag der Bundeswehr. Wir begrüßen es, wenn möglichst viele Bildungsinstitutionen von diesem Angebot Gebrauch machen. Der Zugang der Bundeswehr zu Schulen, Hochschulen, Ausbildungsmessen und ähnlichen Foren ist für uns selbstverständlich“ (Koalitionsvertrag 2013, S. 177). Reklame für die Bundeswehr läuft oft darauf hinaus, wie in BRAVO für „Action“, „Fun“ und „coole Panzerfahrten“ zu werben, damit 10- bis 16-jährige „lernen“, was Militär ist (vgl. SPIEGEL online v. 18.9.2012). Denn das angeblich anständige Kriegshandwerk hat immer noch einen etwas schlechten Ruf in unserer „glückssüchtigen Gesellschaft“ (Bundespräsident Joachim Gauck laut: ZEIT online v. 12.6.2012). Die deutsche Bevölkerung hat immer noch ein relativ gespaltenes Verhältnis zum Schießen und Töten. Das muss sich nach Ansicht einiger Politiker offenbar dringend ändern. Wer auf Tod bringenden und gesundheitsschädlichen Produkten für Erwachsene (wie Zigaretten oder Alkohol) deutlich schreibt, dass sie todbringend und gesundheitsgefährdend sind, aber Kindern und Jugendlichen nicht erzählt, wie viele Soldaten mit Verletzungen, Traumata, Tötungserfahrungen oder sogar dem eigenen Ableben im Kriegseinsatz zu rechnen haben, handelt wider die Kinderrechte. Militär in Bildungseinrichtungen und Minderjährige auf Mordwerkzeugen sind weniger Bildung, als eine Form von struktureller Kindeswohlgefährdung (vgl. Hendrik Cremer: Schattenbericht Kindersoldaten, Berlin 2013, S. 19f.).
Unter Berücksichtigung ungleicher Bildungschancen je nach sozialer Herkunft stellen sich somit für alle Kinder Kommerzialisierung und Militarisierung als tendenzielle Gefahren der Indoktrinierung und strukturellen Kindeswohlgefährdung heraus. Insofern steht die umfassende Umsetzung der Menschenrechte auf Bildung auch in Deutschland immer noch aus.