Prof. Dr. Hans-Peter Schmidtke
Von 1936 bis 1939 tobte in Spanien ein fürchterlicher Bürgerkrieg, aus dem der General und spätere Diktator Francisco Franco als Sieger hervorging. Bis zu seinem Tod am 20. November 1975 regierte sein faschistisches Regime mit harter Hand. Viele Spanierinnen und Spanier flohen zunächst nach Frankreich, und nach Beendigung des 2. Weltkrieges wurde Deutschland mit seinem zunehmenden Wohlstand das Zielland ihrer Flucht. Anfang der 1960er Jahre, nach Abschluss von Anwerbeverträgen mit Spanien, nahm die Zahl spanischer Staatsangehöriger in Deutschland enorm zu. Für sie boten die Angebote auf dem deutschen Arbeitsmarkt eine hervorragende Möglichkeit, der ihrer miserablen wirtschaftlichen und politischen Situation in ihrem Heimatland zu entkommen.
In allen Diktaturen spielt das Militär eine herausragende Rolle, das benötigt wird, um das die Regime zu stützen. Die Bildung und der soziale Sektor werden hingegen vernachlässigt, denn zu viel und eine zu gute Schulbildung könnte Menschen hervorbringen, die sich gegen die Machenschaften der autoritären Regierungen auflehnen. So war es nicht verwunderlich, dass ein großer Teil der damaligen Immigranten nicht einmal die eigentlich auch im damaligen Spanien obligatorische sechsjährige Primarschule abgeschlossen hatte und etwa 20 % der Frauen in Spanien Analphabetinnen waren.
Die Provinzen Andalusien und Extremadura im Süden sowie im Norden die Provinz Galicien waren besonders von Armut betroffen. Sie stellten den größten Teil der Emigrant_innen. Hinzu kamen Bergarbeiter aus Asturien, die in Deutschland erheblich bessere Arbeitsbedingungen und deutlich höhere Löhne erwarten konnten.
Als die ersten „Gastarbeiterzüge“ aus Spanien ankamen, erwarteten weite Teile der deutschen Bevölkerung ungebildete Männer und Frauen, so wie sie es bei den Menschen aus den anderen Herkunftsländern ebenso vermuteten. Ihnen wurden in den Berufshierarchien die untersten Plätze von ihren neuen Arbeitgebern die niedrigsten Arbeiten angeboten wie z. B. Hilfsarbeiten, Arbeiten am Band, schwere körperliche Tätigkeiten oder einfachste Tätigkeiten in der Elektroindustrie oder als Näherin. Das stärkte den Eindruck, dass es sich in der Tat um ungebildete Menschen handelte. Darin unterschieden sie sich nicht von den Einwander_innen aus anderen Ländern. Unbekannt war in Deutschland der spanische Slogan, um größte Armut auszudrücken: „Más pobre que un maestro!“ (Ärmer als ein Lehrer!). Dies aber deutet auch darauf hin, dass mit der Auswanderung nicht nur arbeitslose und ungebildete Menschen auswanderten kamen, sondern dass die Auswanderung auch mit einem sog. „Brain Drain“, einer Abwanderung vieler kluger Köpfe verbunden war. Das beeinträchtigte das Land auch später nachhaltig in seinen Entwicklungsmöglichkeiten. (vgl. Castejón 2014, S. 19 ff).
Der Empfang in Deutschland
In den Anfängen der Beschäftigung der ausländischen Arbeitskräfte bis etwa Mitte der 1970er Jahre war das Synonym für „Gastarbeiter“ Italiener, bis es nach und nach von „Türke“ abgelöst wurde, Begriffe, Bezeichnungen mit einer negativen Konnotation, Sicher war anfänglich die italienische Gruppe zahlenmäßig die stärkste, aber selbst in Städten wie z. B. Bochum, Essen oder Duisburg, in denen der spanische Anteil zunächst deutlich überwog, begegnete man ihnen den Spaniern zumeist positiver als den Angehörigen anderer Nationalitäten. Ohne Zweifel hängt dies mit den Bildern zusammen, die in einem Land von den Menschen eines anderen Landes existieren: Vorurteile, die Menschen nach ihrem Herkunftsland und seiner vermuteten spezifischen Kultur zugeschrieben werden.
Bekannt waren die Vorstellungen von Italienern, die „Papagalli“, Männer, die den Frauen nachstellen, Menschen, die es verstehen, sich vor der Arbeit zu drücken, oder bei den Türken, die Unvereinbarkeit der Lebensauffassungen, der Religion, eben Menschen, die sich nicht integrieren wollen. Es gab den Spruch: „Da ist etwas getürkt!“ was soviel besagte wie: Da hat jemand betrogen. Und die Spanier?
Auch über die Spanier gibt es Bilder im Schatz der gesellschaftlichen Vorurteile, die allerdings deutlich positiver ausfallen: „Ich bin stolz wie ein Spanier!“ sagt eine Person z. B, dann, wenn sie sich sehr geehrt fühlt. Es meint Selbstbewusstsein, Stärke, Geschmeidigkeit, so wie es ein Torero im Angesicht des Stieres verkörpert: „Olé!“ – Und diese eher positive Wahrnehmung wird durch eine zweite Redewendung gestärkt. Im Deutschen sagt man, wenn eine Sache nicht klar, leicht unverständlich, unheimlich, aber eigentlich nicht wirklich bedrohlich ist: „Die Sache kommt mir spanisch vor!“ Und zu diesen durch die Sprache verinnerlichten Vorstellungen kommen die eigenen Erfahrungen der Menschen, die selbst in Spanien Urlaub gemacht oder darüber berichtet haben: das Temperament, die Gastfreundschaft, die Fröhlichkeit.
Nach dem Tode Francos entwickelte sich Spanien sehr schnell zum Auslandsreiseziel Nr. 1 der Deutschen. Und wie es so ist, die deutschen Touristen fanden ihre Vorurteile weitgehend beim Stierkampf, bei der Flamenco Show, unter der warmen Sonne am Strand bestätigt: Heißes Wetter macht heißes Blut. Dass es auch im Winter besonders in der ganzen Nordhälfte heftig schneien kann und bitterlich kalt und regnerisch wird, bekommt man ja im Sommer nicht mit. Und den Tierschutz lässt man beim Stierkampf auch schon einmal draußen vor der Arena. Es wird so verständlich, dass die Spanier diejenigen „Gastarbeiter“ sind, denen die meisten Sympathien entgegengebracht werden (vgl. Spiegel in Auernheimer Harms 1984, S.300). Wem solch ein Urteil voraus eilt, hat es solange einfacher, wie einzelne Personen ihre Beobachter nicht eines Besseren belehren.
Und wie sehen uns die Spanier?
Es muss klar sein, dass es weder dieses „uns“ noch „die Spanier“ aus der Überschrift dieses Kapitels so gibt, wie sie gerade in den Anfängen der Auseinandersetzung mit Migration in zahlreichen Publikationen dargestellt wurden (vgl. z.B. Bingemer u. a. 1970). Aber. Auswanderungen, ob aufgrund von Flucht oder von Anwerbeverträgen setzen auch bei den Betroffenen immer eine Auseinandersetzung mit dem Zielland voraus. Es gibt auch in Spanien Bilder, Redensarten über „die Deutschen“, Eigenschaften, die „den Deutschen“ zugeschrieben werden, die man aus Filmen und Nachrichten kennt, die neben den Propagandamaterialien der Anwerbestellen vielen als einzige Quellen zu ihrer Vorbereitung und Einschätzung von Deutschland zur Verfügung stehen.
In vielen der Berichte, die von Carlos Castejón (a. a. O.), einem Priester der spanischen Gemeinde während der ersten Jahre der „Gastarbeiter“ in Essen, zusammengetragen wurden, geben die Befragten eher negative Einschätzungen an, wenn sie auch die oft beschworenen „deutschen Tugenden“ bewundern. Deutsche sind „cabezas cuadradas“, uqdratusche quadratische? Köpfe, was soviel heißt wie unflexibel, rechthaberisch, bevormundend. Heleno Saña, ein in Deutschland lebender Schriftsteller und Sozialphilosoph, schildert solche und vor allem seine eigenen Vorurteile gegenüber Deutschland und den Deutschen in seinem kleinen Büchlein: „Verstehen Sie Deutschland?“ (1986), indem er beide Länder, beide Menschengruppen miteinander zu vergleichen versucht. Er kommt dabei zu dem Urteil: „… Es gibt kaum zwei europäische Länder, die gegensätzlicher sind“ (S. 9). Ich verzichte darauf, durch nochmaliges Wiederholen der ins Rassistische abgleitenden Darstellung überholte Argumente neu zu beleben.
Dennoch Pauschale Einschätzungen, eben die Vorurteile, bleiben nicht ohne Auswirkungen. In Untersuchungen zur Rückwanderung wurde festgestellt, dass über lange Jahre hinweg die spanische Bevölkerungsgruppe die höchste Rückwanderungsquote verzeichnete (vgl. Bernitt 1980). Aber auch im pädagogischen Bereich hatten die Voreingenommenheiten ihre Auswirkungen. Als ich meinem Schulrat anbot, in spanischen Vorbereitungsklassen zu unterrichten, blieb ihm glatt der Mund offen stehen: „Das wollen sie sich tatsächlich freiwillig antun? Bei den Kindern, die ja aufgrund ihres Temperaments kaum zu bändigen sind?“ Ich wollte und tat es, und siehe da: Die spanischen Kinder entpuppten sich als Kinder, die weder in ihrer Leistungsbereitschaft noch in ihrer Lautstärke anders waren, als die Kinder, die ich aus „deutschen“ Klassen kannte. Und selbst in ihrem so oft beschworenen Temperament waren sie genauso unterschiedlich wie die Kinder jedweder anderen Klasse.
Und plötzlich stelle ich fest: meine Kinder haben Migrationshintegrund!
Wenn es mir vorher bewusst geworden wäre, dass ich Kinder mit Migrationshintergrund bekomme, wenn ich eine Spanierin, dazu noch aus Katalonien, heirate, vielleicht hätte ich es mir der Kinder wegen überlegt. Man sagt ja, dass dies so problematisch sei… Aber da mir die Frau gefiel, habe ich sie halt geheiratet. Und jetzt müssen sich die Kinder damit abfinden, dass sie nicht nur zweisprachig, sondern dreisprachig sind, weil wir als Eltern natürlich jede und jeder in der eigenen Muttersprache erzogen haben, also Katalanisch und Deutsch. Dazu haben wir uns als Familiensprache noch das Castellano, das Spanische erlaubt, obwohl uns viele gewarnt hatten. Glücklicherweise hat der eine schon sein Abitur recht gut geschafft, und bei dem anderen sieht es nicht schlechter aus. Und ihr Temperament? Der Große organisiert gern wie ich, der andere ist mehr wie seine Mutter, eher ruhig und besonnen, eben mehr Spanier- oder wie war das doch gleich? – Vielleicht ist das mit dem Zuhause Deutsch sprechen doch nicht so eine gute Idee.
Literatur:
Bernitt, M.: Die Rückwanderung spanischer Gastarbeiter. Der Fall Andalusien, Königstein 1981
Bingemer, K./ Meistermann-Seeger, E./ Neuber, E.: Leben als Gastarbeiter. Geglückte und missglückte Integration, Köln, Opladen 1970
Canicio, V. Contamos contigo! Krónikas de la eigración, Barcelona 1972
Castro Blázquez, C.: Bajo el sgno de la K – Recuerdos de la Cuenca del Ruhr, Madrid 2014
Harms, H.:Remigration: Spanien. In: Auernheimer, G.: Handwörterbuch Ausländerarbeit, Weinheim 1984, S. 267 – 269
Harms, H.:Spanien (in der Bundesrepublik). In: Auernheimer, G.: Handwörterbuch Ausländerarbeit, Weinheim 1984, S. 299 – 301
Saña, Heleno: Verstehen Sie Deutschland? Impressionen eines spanischen Intellektuellen, Frankfurt 1986