Aladin El-Mafaalani (Fachhochschule Münster) & Thomas Kemper (Bergische Universität Wuppertal)
Bildung ist einer der zentralen Schlüssel für eine aktive gesellschaftliche Teilhabe. Insbesondere die Arbeitsmarktchancen hängen in erster Linie von Bildungsabschlüssen ab. Aber Bildung wirkt sich darüber hinaus auch positiv auf weitere Lebensbereiche aus, etwa auf die Gesundheit, die Wahlbeteiligung und das Risiko straffällig zu werden. Umso wichtiger ist eine genaue Analyse von Bildungsbenachteiligung, insbesondere im Hinblick auf „kollektive Merkmale“, weil hier strukturbedingte Benachteiligungen bzw. Mechanismen institutioneller Diskriminierung vorliegen können. Während in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts das Merkmal Geschlecht, also die Bildungsbenachteiligung von Mädchen, im Vordergrund stand, findet die nationale Herkunft zunehmend Beachtung. Auch wenn es in den vergangen Jahrzehnten deutliche Verbesserungen gab, ist Chancengleichheit in der Einwanderungsgesellschaft noch lange nicht realisiert. Allerdings gibt es in vielerlei Hinsicht Unterschiede, die eine Analyse auf verschiedenen Ebenen notwendig erscheinen lassen.[1]
So weist die Bildungsbeteiligung der vier größten Migrantengruppen (russisch, polnisch, italienisch und türkisch) in Deutschland genau solche Unterschiede auf (Abbildung 1). Während nicht-deutsche Schüler/innen deutlich seltener ein Gymnasium besuchen, gilt dies beispielsweise nicht für Kinder mit russischem Pass. Schüler/innen mit türkischer Staatsangehörigkeit besuchen von diesen vier Gruppen am seltensten die „höchste“ Schulform. Betrachtet man die beiden hierarchisch „unteren“ Schulformen (Förder- und Hauptschule), die lediglich zu einfachen Abschlüssen führen (oder häufig sogar ohne Abschluss verlassen werden), so lässt sich erkennen, dass die Gruppe der italienischen Kinder die geringsten Chancen haben – ein Befund, der in der öffentlichen Diskussion kaum zur Kenntnis genommen wird. Diese Unterschiede lassen sich darauf zurückführen, dass insbesondere im Zuge der sogenannten „Gastarbeiterzuwanderung“ Menschen mit niedrigem Bildungsniveau und sozioökonomischem Status nach Deutschland migriert sind. So zeigen Daten über die erste Generation der türkischen Gastarbeiter, dass nur etwa 3 % über die (Fach-)Hochschulreife verfügten (Foroutan 2010). In einer Vielzahl von Studien wurde belegt, dass das Bildungsniveau der Eltern den Bildungserfolg ihrer Kinder in starker Weise beeinflussen – ein Zusammenhang, der in Deutschland besonders stark ausgeprägt ist (Link zum Beitrag von Michael Hartmann in PoliTeknik).
Abb.1: Bildungsbeteiligung von Schülern nach ausgewählten Staatsangehörigkeiten (Schuljahr 2012/13)
Datenquelle: Statistisches Bundesamt 2013 / eigene Berechnung und Darstellung
Diese gesamtdeutsche Betrachtung ist interessant und wichtig, wird aber innerdeutschen Differenzen nicht gerecht. Zwischen den 16 Bundesländern variiert die Bildungsbeteiligung massiv, was hier am Beispiel der türkischen Schüler/innen in Abbildung 2 dargestellt wird: Von 100 Kindern mit türkischem Pass besuchen in Brandenburg 4 und in Sachsen-Anhalt 11 das Gymnasium; in Bremen hingegen sind es 34. In Bayern und Baden-Württemberg sind etwa 60 % auf Förder- und Hauptschulen, in Rheinland-Pfalz und Berlin etwa 10 %. In vielen Bundesländern ist bzw. wird die Hauptschule abgeschafft und auch die Förderschulen werden grundlegend umstrukturiert (Inklusion).
Hieran wird deutlich, dass die Schulstrukturen in Deutschland im politischen Kompetenzbereich der Bundesländer liegen und damit auch die jeweilige Bildungspolitik einen großen Einfluss auf die Bildungschancen hat. Die größten Annäherungen zum bundesdeutschen Durchschnitt hat – neben Niedersachsen – das Bundesland Nordrhein-Westfalen (NRW), auf das noch weiter eingegangen wird.
Abb. 2: Bildungsbeteiligung von türkischen Schülern nach ausgewählten Staatsangehörigkeiten (Schuljahr 2012/13)
Datenquelle: Statistisches Bundesamt 2013 / eigene Berechnung und Darstellung
Die nach Ländern differenzierte Bildungsbeteiligung sagt noch nichts darüber aus, ob und inwieweit türkische Kinder im Verhältnis zu anderen, insbesondere deutschen Kinder, benachteiligt werden. Am Beispiel der problematischsten Schulform, der Förderschule, die vom Prinzip her für Kinder mit einer körperlichen oder nicht-körperlichen Behinderung gedacht ist, zeigen sich benachteiligende Effekte sehr deutlich. Anhand des in Abbildung 3 dargestellten RRI (Relativer Risiko Index) lassen sich die erhöhten Besuchsquoten von türkischen Kinder an Förderschulen ablesen. Ein Wert von 1,0 zeigt eine exakt gleiche Besuchswahrscheinlichkeit im Vergleich von deutschen und türkischen Kindern. Demnach ist das Risiko des Förderschulbesuchs in Sachsen und Niedersachsen etwa 4-mal so hoch, in Berlin, Bayern, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern eher unauffällig. Hier zeigt sich also, dass das gruppenspezifische Risiko je nach Bundesland deutlich variiert.
Abb. 3: RRI Förderschulbesuch von türkischen im Vergleich zu deutschen Schülern nach Bundesländern (Schuljahr 2012/13)
Datenquelle: Statistisches Bundesamt 2013 / eigene Berechnung und Darstellung
Obwohl Schulpolitik Ländersache ist, wird bei einer genauen Betrachtung deutlich, dass es auch innerhalb der Bundesländer große Differenzen gibt. Für das Bundesland NRW ist der RRI bei 3, also sehr hoch. Allerdings zeigt die Karte des Landes NRW, dass es Kreise und kreisfreie Städte gibt, in denen der RRI unter 1,5 (also relativ unauffällig), und andere, in denen der Wert bei 4 (also extrem erhöht) liegt. Dieselbe Gruppe hat also innerhalb desselben gültigen Schulrechts und Schulsystems sehr unterschiedliche Risiken. Tendenziell gibt es einen Stadt-Land-Unterschied, allerdings gibt es auch stadtspezifische Varianzen, etwa zwischen großen Städten wie Münster (4) und Dortmund (unter 1,5). Ähnliche regionale Unterschiede ließen sich auch im Hinblick auf den Besuch eines Gymnasiums zeigen. Auch lässt sich die Tendenz erkennen, dass in Städten, in denen eine Gruppe stark vertreten ist, die Teilhabechancen insgesamt besser sind als dort, wo wenige Kinder derselben Gruppe vertreten sind (Erfahrung mit Heterogenität). Diese Varianzen lassen sich nicht nur bei türkischen Kindern, sondern auch bei nichtdeutschen Kindern insgesamt feststellen (Abbildung 5; ausführlich hierzu Kemper/Weishaupt 2011). Darüber hinaus lassen sich innerhalb von Städten (je nach Stadtteil) weitere Differenzen im Hinblick auf die Bildungschancen nachweisen (El-Mafaalani/Strohmeier 2015).
Abb.4: RRI Förderschulbesuch von türkischen im Vergleich zu deutschen Schülern
Datenquelle: IT.NRW 2013 / eigene Berechnung und Darstellung
Abb.5: RRI Förderschulbesuch von nichtdeutschen im Vergleich zu deutschen Schülern (Schuljahr 2012/13)
Datenquelle: IT.NRW 2013 / eigene Berechnung und Darstellung
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die insgesamt geringen Bildungschancen türkischer Kinder sind bei einer genaueren Betrachtung auf mehreren Ebenen differenzierbar und erklärungsbedürftig. Neben dem insgesamt großen Einfluss, den das Bildungsniveau und der sozioökonomische Status der Eltern auf die Bildungsbeteiligung von Kindern – unabhängig von einem möglichen Migrationshintergrund – haben, beeinflussen auch bildungspolitische Besonderheiten bzw. unterschiedliche Schulsysteme in den Bundesländern die Bildungsteilhabe. Besonders interessant sind die nachweisbaren Unterschiede innerhalb eines Schulsystems, insbesondere die Überrepräsentanz an Förderschulen innerhalb eines Bundeslandes, die hier am Beispiel des Landes NRW dargestellt wurde, aber auch in vergleichbarer Weise in anderen Bundesländern vorliegt.
Diese Differenzen lassen sich nicht mehr ausschließlich auf den Status der Eltern und die föderale Bildungspolitik zurückführen. In der wissenschaftlichen Diskussion werden diese regionalen und stadtspezifischen Auffälligkeiten in der Regel auf Mechanismen der institutionellen Diskriminierung zurückgeführt (Gomolla/Radtke 2002). Der Begriff Diskriminierung meint in diesem Kontext nicht, dass es sich um eine intendierte, also absichtsvolle, Benachteiligung, sondern im Ergebnis um eine nicht legitimierbare Ungleichverteilung handelt. Es geht hierbei also nicht darum, nach Schuldigen zu suchen, sondern vielmehr die institutionellen Strukturen im Bildungswesen und jeder Einzelschule auf sich benachteiligend auswirkende Mechanismen und Prozesse hin zu überprüfen. Viele dieser Mechanismen und Prozesse sind noch nicht hinreichend erforscht. Genau diese – in den vergangenen Jahrzehnten vernachlässigten – Herausforderungen, gilt es in Zukunft wissenschaftlich und bildungspolitisch zu fokussieren.
Datenquellen
Statistisches Bundesamt (2013): Bildung und Kultur. Allgemeinbildende Schulen. Fachserie 11, Reihe 1, Schuljahr 2012/13, Wiesbaden. IT.NRW (2013): Statistik der allgemeinbildenden Schulen, Ausländische Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen. Schuljahr 2012/13, Düsseldorf.
Literatur
El-Mafaalani, Aladin; Strohmeier, Klaus Peter (2015): Segregation und Lebenswelt – die sozialräumliche Dimension sozialer Ungleichheit. In: El-Mafaalani/Kurtenbach/Strohmeier (Hrsg.): Auf die Adresse kommt es an. Weinheim: Beltz Juventa.
Foroutan, Naika (Hrsg.) (2010): Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand. Berlin.
Gomolla, Mechtild; Radtke, Frank-Olaf (2002). Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Opladen.
Kemper, Thomas; Weishaupt, Horst (2011): Zur Bildungsbeteiligung ausländischer Schüler an Förderschulen – unter besonderer Berücksichtigung der spezifischen Staatsangehörigkeit. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 62 (2011) 10 , 419-431. URL:http://www.pedocs.de/volltexte/2012/6056/pdf/Kemper_Weishaupt_2011_Bildungbeteiligung_
auslaendischer_Schueler_an_Foerderschulen_D_A.pdf
Autoren
Prof. Dr. Aladin El-Mafaalani, Fachhochschule Münster
Thomas Kemper, Diplom-Sozialwissenschaftler, Bergische Universität Wuppertal
[1] Im Folgenden werden lediglich Daten verwendet, die die Staatsangehörigkeit betrachten. Türkischstämmige mit ausschließlich deutschem Pass werden hierbei nicht beachtet. Quelle:
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