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„Mir fällt zu Hitler nichts ein“. So leitet der Wiener Schriftsteller, Zeit- und Sprachkritiker Karl Kraus 1933 seinen berühmten Essay „Die dritte Walpurgisnacht“ ein. Er sei sich bewusst, „mit diesem Resultat längeren Nachdenkens und vielfacher Versuche, das Ereignis und die bewegende Kraft zu erfassen, beträchtlich hinter den Erwartungen zurückzubleiben“. Hinter den Erwartungen mancher seiner Zeitgenossen – beliebt war er gewiss nicht bei vielen -, dass er doch als „Zeitpolemiker“ eine „Stellungnahme“ abgeben könnte zu dem, was bis heute sogar fast noch verharmlosend als die „Machtergreifung“ durch die Nazis bezeichnet wird. Vermeintlich legitimiert durch Unterstützung seitens großer Teile der Bevölkerung.
Der Vergleich mit 1933 mag hinken, zu viel Alarmismus und zu wenig Vertrauen in die demokratischen Institutionen, lauten die Einwände. Aber der Wahlkampf und das Ergebnis der Wahl in Deutschland am 23. Februar 2025 provozieren zu einer paradoxen Reaktion, wie sie Karl Kraus eingestanden hat. Mit seinem Einleitungssatz zu einem dann ausführlichen und scharfsinnigen Buch: Man bleibt ein wenig sprachlos und zugleich fällt einem doch fast zu viel ein, um das Geschehen zu kommentieren.
Beginnend damit, dass die sogenannte Ampel-Koalition von Sozialdemokraten, Grünen und Freidemokraten von Anbeginn kaum eine Chance in der öffentlichen Wahrnehmung hatte. Faktisch war sie einem Dauerfeuer vorgeblich kritischer Berichterstattung ausgesetzt, die sich nicht entblödete, die Akteure, den Kanzler allzumal, als langweilig zu bezeichnen – als ob das ein Kriterium politischen Handelns wäre. Zugleich litt sie massiv unter der Durchstecherei von Gesetzesentwürfen, die dann in der Öffentlichkeit massiv angegriffen wurden – wie das in vieler Hinsicht sehr fortschrittliche sogenannte Heizungsgesetz. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die FDP destruktiv agierte, bleibt doch festzuhalten, dass allzumal die Springer-Presse in trauter Eintracht mit den sogenannten sozialen Medien nahezu permanent Fake-News verbreitet haben, die Lohnschreiber der vorgeblich seriösen Medien (man fragt sich: welche waren das eigentlich noch?) sich in Berichten über Dauerkonflikte in der Koalition ergingen. Als ob die Auseinandersetzung nicht ein wichtiges und gutes Merkmal demokratischer Prozesse sein muss!
Besonnene machten jedenfalls bis zum Ende hin aufmerksam darauf, dass diese Regierung eigentlich recht erfolgreich war. Gemessen an dem, was sie sich vorgenommen hatte. Nüchtern betrachtet stand sie vor einer Herkulesaufgabe, bestimmt von längst überfälligen Weichenstellungen in der Klimapolitik, in der Verkehrspolitik, in der Sozial- und Gesundheitspolitik, nicht zuletzt in der Bildungspolitik, in der freilich die deutsche Bundesregierung nur Anstöße geben darf, weil die Kompetenz bei den Ländern liegt. Prinzipiell eine richtige Machtverteilung, um einen totalen Zugriff auf die junge Generation zu verhindern, für weitreichende, perspektivische Entwicklungen aber zuweilen ungünstig. Dass sie die Folgen der Corona-Pandemie (und zahlreicher, aber doch erklärlicher Fehlentscheidungen in diesen) sowie die Dynamik des Ukraine-Krieges aufgebürdet bekam, war eine zusätzliche Last; die Historiker werden dereinst urteilen, dass all das vergleichsweise gut bewältigt wurde, allzumal angesichts zunehmender Verwerfungen in der globalen Ökonomie, die sich zuletzt dramatisch zugespitzt haben. Auch hier wäre Nüchternheit angesagt: der Einfluss nationaler Regierung auf einen entfesselten, marktradikalen Kapitalismus mit seinen eigenen, kaum mehr zu kontrollierenden Zyklen ist schon längst als eher marginal beurteilt worden. Wer nicht, wie Trump und seine sykophantischen Spießgesellen des – inzwischen trifft der Ausdruck zu – Monopolkapitals mit brachial imperialistischen Methoden die Welt neuaufteilen will, kann kaum mehr leisten als Nachsteuerung durch eine behutsame Sozialpolitik, welche wenigstens die Existenzbedingungen nicht nur der nationalen Bevölkerung zu wahren hilft.
Statt solcher Einsicht in drängende Aufgaben nun also ein Wahlkampf, der nur ein Thema gekannt hat: Migration. Allein schon die Reduktion eines überaus komplexen Geschehens auf dieses eine Wort lässt ahnen, welches Drama hier sichtbar geworden ist. Das Drama eines Verlusts an klugem und differenziertem Denken, an Einsicht in eine vielschichtige und gewiss problembelastete Lage, endlich des Vertrauens an die Fähigkeit zu einem dialogischen Miteinander. Dabei wären die Voraussetzungen in Deutschland gar nicht so schlecht, wie sich noch daran zeigt, dass die nun mit der Wahl sichtbar geworden Entwicklung hin zu radikalisierten, irrationalen sowie dem simplen Populismus und politisch wie sozial ausgrenzenden Denk- und Handlungsweisen eher mit Verspätung eingetreten ist. Gemessen an den USA, an England – Stichwort Brexit – und Frankreich – Stichwort: Gelbwesten –, an Ungarn und den Niederlanden sowie zuletzt an Österreich war bislang in Deutschland so etwas wie ein ausgleichender Geist, ein – wie die englischen Sozialforscher Wilkinson und Pickett zeigen – spirit level durchaus noch gegeben; bei aller wachsenden Ungleichheit und vieler Ungerechtigkeit, bei nervigen bürokratischen Vorgaben allzumal für kleine und mittlere Betriebe und für das Handwerk, bei allen extremen Belastungen etwa für Familien. Die trotz vieler Hilfen nun schlicht an der Organisation eines nicht mehr zu bewältigenden Alltags der Betreuung zerbrechen. Überfordert auch durch die Anforderungen eines Bildungssystems, das sich und seine Mitglieder mit Leistungserwartungen konfrontiert, die Rahmenbedingungen dafür aber nicht sichert, geschweige denn sich mit den Dimensionen von Bildung befasst, die mit Emotionen, mit der Zivilisation der Affekte und dem zu tun haben, was man als Können der Freiheit im sozialen Zusammenhang bezeichnen darf.
All das blieb ausgeblendet in einem Wahlkampf, der allzumal von der politisch rechten Seite nur auf positionelle Bekundungen, Abwehr und Ablehnung gerichtet war, niederste Gefühle, wenn nicht Hass mobilisierte. Keineswegs nur bei der AfD, sondern etwa auch durch den bayerischen Ministerpräsidenten, den beim Namen zu nennen, man sich eigentlich weigern muss. Fatal an all dem war und ist, dass es eben nur noch um Affekte schlechthin geht, weder um Programme noch um Personen – weil dann allzumal die AfD kein Mensch wählen könnte. Da stimmt nichts, außer dass sie als Megaphon dient, um Unmut herauszubrüllen, wohl aber auch Verzweiflung, Ängste und einen Mangel an Verstand wie an Vernunft. Auch das ein bedenkenswertes Merkmal von Politik im Zeitalter Trumps: Es kommt nur noch darauf an, laut und energisch seinen Unmut zu artikulieren: Wir sind dagegen – unklar bleibt, worin eigentlich eine inhaltliche und sachliche Perspektive bestehen könnte. Wie erklärte ein Politiker noch in der Wahlnacht? Wir wollen das alte Deutschland wiederhaben. Welches bitte? Vielleicht doch das von 1933-1945.
Als Pessimist konstatiert man deshalb: Nun läuft das alles auf eine Koalition zwischen CDU und AfD hinaus. Der designierte Kanzler Friedrich Merz hat diesen Weg schon einmal gewählt, seine Aussagen jetzt bleiben wohlfeil, allzumal wenn man bedenkt, dass die Sozialdemokraten wohl endgültig alles verlieren, wenn sie ihre politischen Schwerpunkte im Bündnis mit der CDU (und – das verschärft das Problem – der CSU) nicht durchsetzen kann. Um von der Selbstachtung ganz zu schweigen.
Die eigentliche Dramatik liegt nun darin, dass die – und man muss so generell sprechen – Politik schlicht alle substanziellen Analysen zur gesellschaftlichen Situation ignoriert hat, übrigens sowohl zu den materiellen Lebensbedingungen wie vor allem zur psychischen, zur seelischen Einstellung großer Teile der Bevölkerung; Eva Illouz hat das eben als Explosive Moderne beschrieben. Man meinte, mit der falschen und fatalen Fokussierung auf Migration alles abfangen zu können, was sich doch schon viel länger abzeichnet. Beginnend mit einer seltsamen Verdrehung in dem Verhältnis von materiellen, ökonomischen und sozialen Prozessen, von kulturellen Mustern hin zu einer Welt der affektiv bedeutsamen, aber inhaltsleeren Behauptungen. Im Hintergrund des Geschehens steht die Radikalisierung des Marktkonzepts in der Wirtschaft, der Neoliberalismus. Diese politische Ökonomie hat gleich mehrerlei ausgelöst, durchaus widersprüchlich: Die Auflösung staatlicher und damit politischer Ordnung und damit das Wohlfahrtsprinzip bei gleichzeitiger überbordender Kontrolle bis in das Alltagsleben hinein. Die Zerstörung von sozialen, institutionellen und psychisch relevanten Infrastrukturen zugunsten einer vorgeblichen Freiheit, genauer: einer Freisetzung, die doch nur bedeutet, der Willkür von Mächtigen ausgeliefert zu sein; ein Vorgang, der längst die Denkweisen der Menschen erreicht hat. Die aber wissen wenig entgegenzusetzen, weil sie selbst auf das Freiheitsversprechen hereingefallen sind, ohne zu merken, dass sie nur als Konsumenten relevant sind – mithin einer Glückswerbung verfallen, die unvermeidlich einen Grenznutzen hat. Mehr, mehr, mehr – wovon den eigentlich. Eine entfesselte und sich selbst überlassene Wirtschaft befriedigt längst nicht mehr realen Bedürfnisse, es geht nicht mehr darum, das Leben aller zu verbessern – im Gegenteil: in den bislang ökonomisch armen Gesellschaften werden die Reste an Lebensqualität auch noch zerstört. Man kann die Produkte nicht mehr bezahlen, man braucht sie gar nicht. Enttäuschung und Ärger werden zum zentralen Motiv, befeuert davon, dass die nur noch vermeintlichen Subjekte sich gar nicht mehr miteinander verständigen müssen, sondern ihre Wut durch die Blasen der sozialen Medien, durch TikTok und X hinausschreien und bestätigt sehen. Dabei zeichnet sich eine dunkle Seite der vorgeblichen Informationsgesellschaft ab, die nun noch durch die KI weiter verdüstert wird. Auf Inhalte kommt es gar nicht mehr, sondern nur noch auf das Schreien, auf die Performance, wie das so schön heißt. Dass sich all das in eine Strategie der Verängstigung fügt, gehört zu den Mechanismen dieser Gesellschaft.
Und die Macht der Ideen? Gesellschaften, auch die Mehrzahl der Unternehmen können nur funktionieren, wenn sie eine hinreichende Infrastruktur vorfinden, die ihnen Sicherheit und Freiheit zugleich gewährt. Immer geht es dabei um die Qualität des Lebens. Aber die ist längst auf ein abstraktes und verlogenes Leistungsprinzip reduziert, das überlagert wird von den Maßzahlen des Bruttosozialprodukts, die sich dann auf subjektiver Seite in Kompetenztests widerspiegeln. International spielen OECD und Weltbank dabei eine verhängnisvolle Rolle, national hat sich eine quantifizierende Wissenschaft nach vorne gedrängt, die jeglichen Erfahrungsbefund leugnet, der nicht statistisch repräsentiert wird. Aber gerade darin liegt dann das Problem. Menschen wollen gehört werden, allzumal wenn sie sich auf sich selbst verwiesen sehen, individualisiert und singularisiert in Situationen einer von der politischen Rechten befeuerten und hoch gespielten Belastung. Dass alles in einer Krise sich befinde, dass alles und jede wie jeder zu einem Risiko werden, sind dann Schlüsselbegriffe, die zur Depression oder zum Protest führen – der gefährlich wird, weil er dann nur noch mit sozialpsychologisch erklärbaren Ausgrenzungen vermeintlicher Gefährder bewältigt werden kann. Dass manche der politisch eher Linken dies verschärft hat, indem sie an die Stelle von Gemeinsamkeit und Solidarität eine kuriose Identitätspolitik setzte, sei vermerkt. Dass bislang unterprivilegierte Minderheiten nach vorne geschoben wurden, hat zwar gute Gründe – zig aber fatale Konsequenzen bei einer nicht unbeachtlichen Mehrheit der Arbeitenden nach sich. Man hätte das alles lesen können, bei Eribon, bei Fukuyama, etwa, indirekt auch in den Studien von Stefan Mau.
Man könnte nun natürlich auf die Bevölkerung deuten und das von Bertolt Brecht aufgenommene Motiv zitieren, nach welchem die dümmsten Kälber ihrer Schlächter selber wählen. Aber so einfach ist die Sache nicht – wobei mindestens diese Vorwürfe zu erheben sind; Vorwürfe, und darin liegt die Tücke, die gleichermaßen an die konservativen und die sich als fortschrittlich dünkenden Kräfte zu richten sind, sozusagen nach links und rechts in der politischen Landschaft, wohl wissend, dass diese Unterscheidungen nichts mehr taugen:
Zum einen sollte festgehalten werden, dass gegen die überdrehte Kommunikation einer durch Beschleunigung destruktiv gewordenen Moderne nur ein Innehalten, ein ruhiges Nachdenken hilft. In der Hinsicht hätte der ehemalige Bundeskanzler Scholz Vorbild sein können, hätte er sich nicht selbst dem Verdacht der Korruption ausgesetzt. Von Adenauer wird behauptet, er habe morgens zwei Stunden im Büro mit Lektüre zugebracht. Man muss ihn politisch nicht schätzen, diese Selbstverpflichtung würde sich aber lohnen; übrigens wird von Helmut Schmidt ebenfalls berichtet, dass er in seinem Kabinett lange Diskussionen geradezu gefördert hat.
Damit hängt – zweitens – zusammen, dass zuletzt die Fähigkeit zu einer kritischen Solidarität mit anderen vernachlässigt wurde, auch mit jenen, deren Meinung nicht geteilt wird; damit ist letztlich die moralische Grundlage und – wenn man so will – menschliche Infrastruktur geschwächt worden, der es aber bedarf, um Spannungen und Widersprüche auszuhalten, wie sie in jeder Gesellschaft unvermeidlich auftritt.
Drittens müssen schwerste Versäumnisse im Kontext dessen beklagt werden, was als – im weitesten Sinne – politische Bildung zu bezeichnen ist. Und das, was sie zentral zu verhandeln hat, Freiheit und Gemeinschaft, Differenz und Universalität. Autonomie und Gebundenheit an und in Institutionen, Vertrauen und Selbstwirksamkeit – um nur einige Punkte zu nennen. Dass die Unionsparteien eben eine Anfrage gestartet haben, ob und wie weit staatlich unterstützte NGOs sich politisch neutral verhalten haben, lässt leider befürchten, dass das oben angedeutete Bündnis von CDU und AfD viel schneller und höchst folgenreich zustande kommt.
Das verweist – viertens – darauf, nicht nur die für die Produktion freilich wichtigen Inhalte der (digitalen) Technik, der Mathematik und Naturwissenschaften in den Vordergrund zu stellen. Die MINT-Fächer, vor allem aber Biologie und Chemie müssen viel besser zugänglich werden, als dies bislang der Fall war. Aber: im Blick auf den gesellschaftlichen Zusammenhang, auch für das – notabene – kollektive Gefühl für Gemeinsamkeit und Freiheit sind die Fächer unentbehrlich, die sich mit Geschichte und Gesellschaft, mit Ethik befassen, auch solche, die die eigene Leiblichkeit und seelische Verfasstheit begreifen lassen. Davon spricht niemand. Aber wie sollen wir denn lernen, was uns bewegt, welche Vorurteile uns als Menschen umtreiben, warum diese sich so leicht ansprechen lassen und wie wir mit uns selbst umgehen können. Uns im Griff haben, wie das altmodische Wort lautet.
Fünftens aber – und jetzt kann man mir vorwerfen, dass ich doch irre werden: Politisch wie gesellschaftlich ist dann doch ein Versagen festzustellen, wenn es darum geht, das materiell und soziokulturell Erreichte positiv, als Erfolg und Zugewinn an gutem Leben darzustellen und zu verstehen. Es ist schlicht ein Rätsel, wie es nicht gelingen konnte, die Vorteile einer guten Klimapolitik aufzuzeigen, wie versäumt wurde zu erklären, dass die vorgeblichen Wohlstandsverluste durchaus ausgeglichen werden, wenn Menschen mit weniger gesundheitlichen Risiken und sicherer leben können. Dass und wie es ein Gewinn für alle sein kann, wenn Menschen unterschiedlichster Herkunft miteinander auskommen und so ein gutes Leben erfahren.
Klar, das ist eine naive Illusion. Aber von solchen Illusionen lebt eine Politik, die Menschen ansprechen könnte. Ich bezweifle aber, dass die nächste Legislaturperiode in Deutschland das auch nur ansatzweise realisieren wird.