Havva Engin, Heidelberg
Die Diskussionen um eine neue Schulstruktur in Deutschland, und besonders die aktuellen Entwicklungen hinsichtlich der Rückkehr zu einem neunjährigen Gymnasium, sind auch immer mit der Frage nach Bildungsgerechtigkeit verbunden (vgl. Anger/ Plünnecke 2021; Servicestelle Dialogische Bürgerbeteiligung Baden-Württemberg 2023).
Regelmäßig belegen (inter-)nationale (Vergleichs-)Studien, dass im hiesigen Bildungssystem die Zuweisung von Schüler:innen auf weiterführende Schulformen entlang der familiären Herkunft vorgenommen wird, was insbesondere Schüler:innen aus sozioökonomisch ungünstigen Lebenslagen ungerechterweise benachteiligt. Obzwar sich „Bildungsgerechtigkeit“ zwischenzeitlich zu einem häufig zitierten Schlüsselbegriff entwickelt hat, bleibt er inhaltlich unscharf.
In vorliegenden Beitrag wird Bildungsgerechtigkeit verstanden als die Sicherstellung gleicher Bildungschancen für alle Kinder und Schüler:innen im Schulsystem. Dies bedeutet, dass in einer bildungsgerechten Schule die Schülerleistungen das reale (Leistungs-) Potenzial der Kinder abbilden und die Bildungszertifikate der Schüler:innen (weitgehend) unabhängig vom Bildungsniveau ihrer Eltern, vom sozioökonomischen Status ihrer Familie sowie vom (potenziellen) Migrationshintergrund erreicht werden (vgl. Anger/ Plünnecke 2021) .
Die Erkenntnis, dass Deutschland ein massives Gerechtigkeitsproblem im Bildungssystem hat, erhält immer mehr gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit. Die vom ifo-Institut herausgegebene Studie „Was denken die Deutschen zu Chancenungleichheit im Bildungssystem“ (vgl. Werner u.a. 2023) zeigte auf, dass die Teilnehmenden als benachteiligte Gruppen zurecht Kinder aus sozial schwierigen Verhältnissen und Kinder mit Migrationshintergrund identifizieren (vgl. Werner u.a. 2023:34).
Andere Studien verweisen auf die institutionellen Übergänge als verstärkende Mechanismen von Bildungsungleichheit (vgl. Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung 2022; Huebener u.a. 2023). Sie zeigen, dass die Benachteiligung bereits in der ersten Phase, dem Übergang von der Familie in die Krippenbetreuung bzw. Frühförderung, anfängt: Während 37 Prozent der unter 3-Jährigen ohne Migrationshintergrund einen Krippenplatz erhalten, liegt der Prozentsatz in der gleichen Altersgruppe mit Migrationshintergrund bei 25 Prozent, also 12 Prozentpunkte darunter (vgl. Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung 2022: 106) .
Die Benachteiligung setzt sich beim Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schulform fort. Besonders deutlich lässt sich dies an der Schulstatistik von Baden-Württemberg exemplarisch aufzeigen. Wechseln in diesem Bundesland 49,5 Prozent der Schüler:innen ohne Migrationshintergrund auf ein Gymnasium, liegt der Anteil bei Schüler:innen mit Migrationshintergrund 34,4 Prozent und bei ausländischen Schüler:innen bei 27 Prozent (vgl. IBBW Baden-Württemberg 2022:113). Betrachtet man die Anteile von Schüler:innen mit und ohne Migrationshintergrund in den mittleren Jahrgängen am Gymnasium, so zeigt sich, dass der Anteil von Schüler:innen ohne Migrationshintergrund 47 Prozent beträgt, also kaum abgenommen hat, während er bei Schüler:innen mit Migrationshintergrund auf 25,5 Prozent zurück gegangen ist (vgl IBBW Baden-Württemberg 2022:89). Es kann also festgehalten werden, dass in Baden-Württemberg bei Schüler:innen mit Migrationshintergrund von einer deutlichen Abschulung vom Gymnasium auf niedrig qualifizierende Schulformen zu sprechen ist. Diese Entwicklung verstärkt sich bis zum Schulabschluss nochmals, so dass am Ende lediglich 12,1 Prozent der Schüler:innen mit Migrationshintergrund in Baden-Württemberg die allgemeine Hochschulreife erreicht (vgl. IBBW Baden-Württemberg 2022:124).
Ebenso konsistent ist die enge Kopplung von Bildungsbiografie und familiärer Herkunft. Die aktuelle ifo-Studie „Ein Herz für Kinder-Chancenmonitor“ weist nach, dass in Deutschland Bildungsbenachteiligung maßgeblich von der sozialen Herkunft bestimmt wird – und nicht, wie immer behauptet, vom Migrationshintergrund. Die Studie errechnete – unter Anwendung der Variablen „Bildungsstand der Eltern“, „Einkommen“, „Alleinerziehenden-Status“ sowie „Migrationshintergrund“ die statistische Wahrscheinlichkeit eines Gymnasialbesuchs. Die geringsten Chancen, ein Gymnasium zu besuchen, haben mit 21 Prozent Kinder, deren Eltern keine Hochschulreife besitzen und deren Haushaltsnettoeinkommen unter 2600€ liegt – unabhängig davon, ob sie bei einem alleinerziehenden Elternteil aufwachsen und/oder einen familiären Migrationshintergrund besitzen (vgl. Wößmann u.a. 2023:35). Die statistisch höchste Wahrscheinlichkeit für den Gymnasialbesuch haben mit 80 Prozent Kinder, deren Eltern die Hochschulreife besitzen und über ein Haushaltsnettoeinkommen von über 5.500€ verfügen. Bei Kindern mit Migrationshintergrund aus der gleichen sozialen Schicht lag die Wahrscheinlichkeit sogar 80,6 Prozent (vgl. Wößmann u.a. 2023:35). Bedenkt man, dass ein bedeutender Teil der Familien mit Migrationshintergrund sozioökonomisch schwachen Milieus angehört, so zeigt sich, dass die institutionell-strukturelle Bildungsbenachteiligung Kinder mit Zuwanderungsgeschichte überproportional trifft (vgl. Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung 2016:174).
Es lässt sich konstatieren, dass die eklatante Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit familiärer Migrationsgeschichte mehrere Ursachen hat. Zum einen sind es institutionell-strukturelle Gründe wie fehlender Zugang zu frühkindlichen Betreuungs- und Bildungsinstitutionen und die überproportionale Zuweisung auf niedrig qualifizierende Schularten wie Haupt- und Förderschulen. Zum anderen bedingen individuell-biografische Kontexte wie fehlendes elterliches Bildungskapital Abschulung und überproportionale Schulartenwechsel
Handlungsnotwendigkeiten und Veränderungspotenziale
Soll in Deutschland ein bildungsgerechteres Schulsystem umgesetzt werden, ist zu fragen, wie bestehende bildungspolitische und pädagogische Rahmenbedingungen verändert bzw. weiterentwickelt werden müssen, um die Bildungschancen von Schüler:innen aus sozial schwierigen Lebenslagen und/oder mit Zuwanderungsgeschichte von der familiären Herkunft zu entkoppeln? Als zentrale Ansatzpunkte bieten sich folgende Handlungsoptionen an (vgl. Wößmann u.a., 2023: 40 ff.):
Flächendeckender Ausbau frühkindlicher Bildungsangebote: Die Erhöhung der Betreuungszahlen im frühkindlichen Bereich für die Altersgruppe 0-3 Jahre führt dazu, dass verstärkt Kinder aus sozioökonomisch schwachen Familien Zugang zu entsprechenden Angeboten erhalten (vgl. Huebener u.a. 2023).
Unterstützung von sozioökonomisch schwachen Familien mittels Familienzentren an Kitas und Grundschulen: Schwierige Lebenslagen bilden sich nicht nur im sozioökonomischen Status einer Familie ab, sondern gehen zumeist auch mit Bildungsarmut einher. Daher bedürfen gerade diese Eltern pädagogische Empowermentangebote, um ihre Kinder erfolgreich zu unterstützen. Bewährt hat sich in diesem Zusammenhang die Implementierung von Familienzentren an frühkindlichen bzw. vorschulischen Betreuungs-/Bildungseinrichtungen (vgl. Wößmann u.a. 2023:41; Deutsche Kinder- und Jugendstiftung 2020). Vorliegende Studienergebnisse, wie aus einem Projekt aus Gelsenkirchen, zeigen, dass diese Klientel insbesondere von Familienzentren an Grundschulen nachhaltig profitiert, da nachweislich eine engere Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Schule stattfindet (vgl. Born u.a. 2019).
Flächendeckende sozialindexbasierte Ausstattung von Schulen in sozial herausfordernden Quartieren mit multiprofessionellen Teams: Aus internationaler Forschung ist gut belegt, dass eine ausreichende finanzielle und personelle Ausstattung von Schulen in vielfach benachteiligten Wohnquartieren – auf der Grundlage eines transparenten Sozialindexes – neben der Verbesserung des sozialen Miteinanders und des Arbeitsklimas innerhalb der Lehrerschaft, zu besseren Lernergebnissen innerhalb Schülerschaft führen. Einzelne Bundesländer, wie beispielsweise Hamburg, die bereits begonnen haben, ihr Bildungssystem in diese Richtung weiterzuentwickeln, bestätigen die Wirksamkeit der Maßnahmen.
Zeitliche Verzögerung der Aufteilung auf weiterführende Schularten sowie Flexibilisierung der Schullaufbahn-Dauer und damit der Weg zum Abitur: Als ein weiterer bestimmender Faktor auf dem Weg zu einem bildungsgerechteren Schulsystem erweist sich die Vermeidung einer zu frühen Aufteilung von Schüler:innen auf weiterführende Schulen – oder positiv formuliert: ein längeres gemeinsames Lernen, wie es die Bildungssysteme in skandinavischen Ländern praktizieren. Damit wird Schüler:innen mehr Zeit gegeben, ihre Potenziale zu entwickeln, wovon insbesondere Kinder aus bildungsarmen Familien profitieren (vgl. Wößmann u.a. 2023:43). Darüber hinaus ergibt sich durch die Möglichkeit, die Schullaufbahndauer an die individuellen Lebens- bzw. Lernlagen von Schüler:innen anzupassen, die Chance, einer größeren Gruppe den Erwerb höherqualifizierender Schulabschlüsse zu ermöglichen.
Zusammenfassung und Ausblick:
Die deutsche Bildungssystem ist im internationalen Vergleich von Bildungsgerechtigkeit noch deutlich entfernt. Dabei zeigen einige wenige Bundesländer, welche sich bereits in Veränderungs- und Transformationsprozessen begeben haben, dass es möglich ist, Schüler:innen, unabhängig von der sozialen Herkunft und des Zuwanderungshintergrundes, nachhaltig zu unterstützen. Daher muss weiterhin Druck auf bildungspolitisch Verantwortliche aufgebaut werden, damit in Deutschland flächendeckend ein bildungsgerechtes Schulsystem umgesetzt wird. Das gesellschaftliche Bewusstsein hierfür liegt bereits vor: „Insgesamt lässt sich aber sagen, dass die Deutschen ein ausgeprägtes Problembewusstsein für ungleich verteilte Bildungschancen haben und für Maßnahmen zur Unterstützung benachteiligter Schüler*innen bereit sind.“ (Werner u.a. 2023:39).
Literatur:
- Anger, Christina; Plünnecke, Axel, 2021, Bildungsgerechtigkeit. Herausforderung für das deutsche Bildungssystem, IW-Analysen, Nr. 140, Köln. URL: https://www.iwkoeln.de/studien/christina-anger-axel-pluennecke-herausforderung-fuer-das-deutsche-bildungssystem.html
- Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.) (2022): Bildung in Deutschland 2022. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zum Bildungspersonal. Bielefeld.
- Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.) (2016): Bildung in Deutschland 2016. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration”
- Born, Andreas; Klaudy, Elke Katharina; Micheel, Brigitte; Risse, Thomas und Sybille Stöbe-Blossey (Hrsg.) (2019): Familienzentren an Grundschulen. Abschlussbericht zur Evaluation in Gelsenkirchen. Duisburg. URL: https://duepublico2.uni-due.de/servlets/MCRFileNodeServlet/duepublico_derivate_00047868/IAQ-Forschung_2019_04.pdf
- Huebener, Mathias; Schmitz, Sophia; Spieß, Katharina; Binger, Lina (2023): Frühe Ungleichheiten. Zugang zu Kindertagesbetreuung aus bildungs- und gleichstellungspolitischer Perspektive. FES diskurs. Hrsg. Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.
- Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW) (2023): Bildungsberichterstattung 2022. Bildung in Baden-Württemberg. https://ibbw-bw.de/,Lde/Startseite/Systemanalysen/Bildungsberichte
- Servicestelle Dialogische Bürgerbeteiligung Baden-Württemberg (2023): G 8 / G9: Bürgerforum zur Dauer des allgemeinbildenden Gymnasiums. Stuttgart. URL: https://www.servicestelle-buergerbeteiligung.de/fileadmin/_servicestelle_buergerbeteiligung/PDFs/Buergergutachen_Buergerforum_G8G9_-_Kurzfassung.pdf
- SVR für Integration und Migration (2023): Ungleiche Bildungschancen Fakten zur Benachteiligung von jungen Menschen mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem. https://www.svr-migration.de/wp-content/uploads/2021/09/SVR-Fakten-zu-ungleichen-Bildungschancen-2023.pdf
- Werner, Katharina; Freundl, Vera; Pfaehler, Franziska; Wedel, Katharina; Wößmann, Ludger (2023): Was denken die Deutschen zu Chancenungleichheit im Bildungssystem? ifo Schnelldienst, 2023, 76, Nr. 11, pp. 33-39.
- Wößmann, Ludger; Schoner, Florian; Freundl, Vera; Pfaehler, Franziska (2023) : Der ifo-“Ein Herz für Kinder”- Chancenmonitor: Wie (un-)gerecht sind die Bildungschancen von Kindern aus verschiedenen Familien in Deutschland verteilt?, ifo Schnelldienst, ISSN 0018-974X, ifo Institut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München, München, Vol. 76, Iss. 04, pp. 29-47