Immer häufiger haben immer mehr Menschen, Staaten und Regierungen in der Welt den Eindruck, der sog. globale Westen mache sich die Welt, wie sie ihm gefällt – und ignoriere dabei, dass große Teile des globalen Südens das anders sehen. Schon der frühere US-Präsident George W. Bush wollte 2022 seiner ganzen Abscheu gegen einen Angriffskrieg Ausdruck verleihen. Doch statt “Ukraine” sagte er peinlicherweise “Irak” (“a wholly unjustified and brutal invasion of iraq…äh ukraine”) und erinnerte die Zuhörer somit an seine glorreichsten Heldentaten im Nahen und Mittleren Osten (https://www.youtube.com/watch?v=gshqwGbeLzY). Mit hunderttausenden v.a. muslimischen und arabischen Toten von Libyen und Somalia über Syrien und Irak bis nach Afghanistan und Pakistan erreichte der „Krieg gegen den Terror“ durch direkte Aggressionen, Besatzungsregime und tagtägliche Drohnen-Gewalt – mit deutscher Ramstein-Hilfe – eine unfassbar hohe Opferzahl in der jeweiligen Zivilbevölkerung, ohne dass auch nur ein deutscher Regierungspolitiker die Verletzung des Völkerrechts bemängelte oder auch nur ein Strafgerichtshof darüber zu ermitteln begann. Der Journalist Julian Assange sitzt indes seit Jahren in einem englischen Gefängnis, weil er einige US-Kriegsverbrechen bekannt gemacht hat. Die Verbrecher, die Auftraggeber und ihre Komplizen verzeihen ihm das nicht. Sie wollen vor aller Welt an ihm ein Exempel statuieren und sitzen zu Gericht über denjenigen, der ihre Verbrechen an die Weltöffentlichkeit gebracht hat. Nun droht ihm als Australier die Auslieferung von Großbritannien in die USA, während die meisten „wertewestlichen“ Politiker/innen schweigen oder wegschauen und damit die Demokratie und das Völkerrecht verraten.
Man stelle sich nur einen Moment lang vor, in den hiesigen Breitengraden hätten nach einem der vielen völkerrechtswidrigen Angriffskriege und Besatzungsregime der USA einflussreiche gesellschaftliche Kräfte z.B. versucht, nicht nur einen totalen, anti-amerikanischen Wirtschaftskrieg zu starten, sondern zugleich jegliche US-amerikanische Wirtschaft, Wissenschaft sowie Wissenschaftler/innen, Kunst, Kultur, Musik, Literatur, Sprache, Philosophie, Filme, Sportlerinnen und Sportler, Bürgerinnen und Bürger, alles erdenklich US-Amerikanische kollektiv aus allen Schulen, Universitäten, Museen, Bibliotheken, Opern, Konzertsälen, Sportstadien, Radios, Fernsehen und jeglicher Öffentlichkeit zu vertreiben bzw. zu missachten. Wer in solchen Fällen zurecht Antiamerikanismus vermutete und missbilligte, müsste eigentlich den russophoben Charakter vieler Boykott-Maßnahmen gegen alles Russische in der Gegenwart ebenfalls ablehnen. Wer sich noch darüber wunderte, dass bis vor kurzem in einem zivilisierten Rechtsstaat Nicht-Geimpfte ungestraft mit Hass und Hetze in Politik, Medien und Wissenschaft überzogen werden duften (als asoziale „Sozialschädlinge“, FDP-Politiker), kann bei der momentanen Behandlung vieler Russ(inn)en und alles Russischen nur noch Scham empfinden.
Es ist Unrecht und Diskriminierung, was seit Ende Februar 2022 vielen Russinnen und Russen in der westlichen Welt widerfahren ist (in der „restlichen“ Welt übrigens nicht). Die an sich berechtigte, vorgebrachte Kriegsempörung seit dem 24. Februar 2022 wäre noch glaubhafter, wenn sie auch die über 13.000 Kriegsopfer der Beschießungen ost-ukrainischer Städte und Dörfer im Donbass durch das Kiewer Militär seit 2014 berücksichtigen würde.
Als der gegenwärtige US-Präsident Joseph Biden kürzlich von sich gab, dass “Putin im Irak” scheitern werde, korrigierte ihn keiner der Dutzenden von Journalisten um ihn herum. Dagegen reagierte die russische Außenamtssprecherin sofort humorvoll irritiert. Sie wisse gar nicht, dass die Russen im Irak seien – sie dachte immer, man wäre in Vietnam. (https://www.youtube.com/shorts/gHPv_U9YxXs)
Interessant ist auch hier, dass Biden im Video sagt, Putin habe praktisch die ganze zivilisierte Welt gegen sich (“nicht nur NATO, EU, Japan, sondern ganze 40 Staaten”). Die von ihm vergessenen restlichen 155 Staaten der Vereinten Nationen erschienen ihm nicht der Rede wert.
Das erinnert ein wenig an den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell und seine neo-kolonial klingende Aussage, die EU sei ein “Garten” – und drumherum gäbe es nur “wilden Dschungel” (https://www.nachdenkseiten.de/?p=91227). Auch für die Nachfahren der von den europäischen Kolonisatoren eroberten, ausgeraubten und z.T. ausgerotteten Ureinwohner wird es sicherlich von Interesse sein, vom EU-Chefdiplomat Borrell zu hören: „Wie die Konquistadoren müssen wir eine neue Welt erfinden“ (vgl. ebd.). Da weiß man dann wenigstens, woran man ist. Dafür, dass der globale Süden und damit über 150 Staaten (also über 80 Prozent der Weltbevölkerung) dabei irgendwie nicht mehr so gerne mitspielen wollen, ist somit reichlich gesorgt.
Momentan stehen sich zwei Zeit-Diagnosen unversöhnlich gegenüber. Die Erste stammt vom deutschen Bundeskanzler und beansprucht weltweite Hegemonie. Der Bundeskanzler Olaf Scholz sagte am 27. Februar 2022 im deutschen Bundestag: „Der russische Überfall auf die Ukraine markiert eine Zeitenwende. Er bedroht unsere gesamte Nachkriegsordnung. Das ist völkerrechtswidrig. Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie davor”. Dass die „gesamte Nachkriegsordnung“ von vielen völkerrechtswidrigen Angriffskriegen gekennzeichnet war, scheint dem bundesdeutschen Regierungschef entgangen zu sein.
Die zweite Zeit-Diagnose analysiert und kritisiert die erste Zeit-Diagnose als nicht nur verzerrend, sondern auch als bezeichnend für eine spezifische Wahrnehmungsstruktur im globalen (Nato-)Norden. Dagegen schrieb der brasilianische Sozialwissenschaftler Giorgio Romano Schutte im IPG-Journal v. 18.04.2023 der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung über „Das Ende des Westens“. Er schlussfolgert: „Der Krieg gegen die Ukraine zeigt, Europas Politiker und Meinungsmacher haben keine Ahnung von den Sichtweisen und Erwartungen des Globalen Südens.“ (https://www.ipg-journal.de/regionen/global/artikel/das-ende-des-westens-1-6647/)
Derweil geht das gegenwärtig populärste NATO-Narrativ in etwa so: „Wenn die Russen aufhören zu kämpfen, ist der Krieg zu Ende – wenn die Ukrainer aufhören zu kämpfen, ist die Ukraine zu Ende“. Der Preis dieser – auch von Bundeskanzler Olaf Scholz regelmäßig bemühten – Losung lautet, dass bis zum letzten Ukrainer und bis zur Verwandlung des ganzen Landes in ein Schlachtfeld gekämpft werden kann und soll. Das nennen Bundeskanzler Scholz und andere dann „Logik“, während sie alle Kritiker/innen entweder als naiv oder als kreml-gekaufte, nützliche Idioten darstellen. Einmal ganz abgesehen von der Entstehungsgeschichte dieses Krieges, den Kontexten, der vorherigen absprache-widrigen NATO-Expansion, den Raketen-Stationierungen nahe der russischen Grenze, dem Stellvertreterkriegs-Charakter und der Bombardierung der Ostukraine durch Kiewer Truppen seit dem verfassungswidrigen Putsch von 2014 mit seitdem über 13.000 Toten vor dem Februar 2022: Ein Waffenstillstand und Friedensverhandlungen bedeuten ja gerade, dass zu diesem Zeitpunkt nicht (mehr) gekämpft wird. Die Verhandlungen zum Kriegsgefangenenaustausch, zum Getreide-Abkommen, die fortwährenden russischen Gaslieferungen durch die Ukraine nach Ungarn und Österreich sowie die Vor-Entwürfe zu einem Friedensabkommen von März/April 2022 (das von westlichen Mächten torpediert wurde) beweisen, dass vernünftige Verhandlungen möglich sind und das alltägliche Massaker beendet werden kann.
Nachrichten aus dem deutschen Irrenhaus: Bitte nicht stören
Statt sich auf die Deeskalation, Demilitarisierung und Zivilisierung internationaler Beziehungen und Konflikte zu konzentrieren, tritt die höchste deutsche Diplomatin, Bundesaußenministerin Annalena Baerbock im Frühjahr 2023 in einer Aachener Karnevalssitzung auf. Sie berichtet stolz, dass sie eigentlich im „LEOPARDEN“-Kostüm verkleidet erscheinen wollte, aber Angst hatte, dass ihr daraufhin das Bundeskanzleramt drei Wochen Auslandsreiseverbot erteile. Das anwesende Publikum aus den höheren Etagen der Gesellschaft hat einen Mords-Spaß.
Und Anfang Juni 2023 war es dann endlich soweit. Das Boulevardblatt BILD brachte alte Wehrmachts-Nostalgiker und andere Russen-Hasser zum Schwärmen. Dort hieß es in großen Lettern: „Die ganze Welt wartete darauf. Jetzt ist es soweit: die Ukraine stößt mit deutschen Leopard-2-Panzern gegen die Russen vor! Erstmals wurden die deutschen Kampfpanzer auf dem Schlachtfeld gesichtet, sie nehmen den Kampf gegen die russischen Invasoren auf. Die Offensive läuft!” (BILD.de v. 8.6.2023) Diese Bild-Überschrift bietet die gewohnten Fake News des globalen Norden: Die ganze Welt habe den Einsatz deutscher Panzer erwartet – wenn 80% der Welt gegen Waffenlieferungen und Sanktionspolitik sind. Mit dem gewohnten Sinn für erfundene Wahrheit befand sich das Blatt aber im Durchschnitt der Blase des medialen Mainstreams im globalen Norden.
85% der Weltbevölkerung in westlichen Medien regelmäßig ignoriert
Anhand quantifizierter Diskursanalysen großer westlicher Informationsmedien wie Tagesschau, SPIEGEL, New York Times, Le Monde, CNN etc. kann der Geisteswissenschaftler Ladislaus Ludescher nachweisen, dass der größte Teil der Menschheit und deren Themen wie Probleme regelmäßig seit Jahren praktisch keinerlei Niederschlag in den Nachrichtenorganen des globalen Nordens findet. „Vor dem Hintergrund, dass etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung in Ländern des Globalen Südens leben, ergibt sich ein Beitragsschema mit einem umgekehrt negativen Verhältnis. Pointiert gesagt: 15 Prozent der Weltbevölkerung genießen mehr als 85 Prozent der medialen Aufmerksamkeit, während 85 Prozent der Weltbevölkerung weniger als 15 Prozent der medialen Wahrnehmung erhalten.“ (Telepolis.de v. 22.4.2023)
Wenn dann der deutsche Kanzler oder die deutsche Außenministerin nach Chile, Brasilien, Südafrika oder Vietnam fliegen und den dortigen Regierungen „erklären“, dass gerade ein noch nie dagewesenes, schreckliches Terrorregime einen seit dem Zweiten Weltkrieg angeblich erstmaligen Angriffs-Krieg führt und sie, die südlichen Länder deshalb gefälligst sofort alle Sanktionen beschließen und Waffen gegen Russland liefern sollten, wird es schwierig. Denn die Bevölkerung und die Regierungen vieler Länder des globalen Südens haben meist nicht so ein schlechtes historisches Gedächtnis wie deutsche Regierungsmitglieder. Sie können sich noch gut an die Unterstützung bundesdeutscher Regierungen und Industriegruppen für die US-Bombenkriege in Vietnam und Laos sowie die bundesdeutsche Unterstützung für die Militärdiktaturen und Terrorregime in ihren und vielen anderen Ländern z.B. in den 1960er- und 1970er-Jahren erinnern. Doch da war Annalena Baerbock ja noch nicht geboren und Olaf Scholz hat nicht nur in CumEx-Fragen empfindliche Gedächtnisschwierigkeiten. Deshalb glauben die beiden auch immer noch, dass die sog. regelbasierte Weltordnung nach dem zweiten Weltkrieg bis zum 24. Februar 2022 durch keinerlei völkerrechtswidrigen Angriffskrieg verletzt worden sei.
Selbst eingefleischte transatlantische Wissenschaftler scheinen diese Widersprüchlichkeit der westlichen Wahrnehmung auf der weltpolitischen Ebene zu erspüren, wenngleich auch sie die inner-westlichen Gegensätze und Konflikte übersehen. So hat im März 2023 eine Studie (ein sog. Policy Brief) des European Council on Foreign Affairs (ECFR), eine paneuropäische Denkfabrik mit Hauptsitz in Berlin, beeindruckende Ergebnisse publiziert. Nach dieser Umfragestudie mit dem vielsagenden Titel: „United West, divided from the Rest“ („Der Westen vereinigt, aber vom Rest getrennt“) sei der Westen angesichts des Krieges in der Ukraine zwar enger zusammengerückt, jedoch verwandle sich die Welt in eine post-westliche, genauer in eine multipolare Welt und das Selbstbewusstsein der nicht-westlichen Staaten wachse. Der (Stellvertreter-)Krieg zwischen Russland und der (Nato-)Ukraine erweise sich geradezu als Wendepunkt in der Weltgeschichte.
Wessen Ende? Wessen Anfang?
Wie der Wunsch Vater des Gedankens werden kann, zeigt auch die folgende Zeit-Diagnose: »Wir werden gerade Zeugen der Desintegration des russischen Imperiums, des postsowjetischen Raums. Dieser Prozess hat nicht 1991 stattgefunden, sondern erfolgt jetzt.« Der das im Interview mit dem SPIEGEL vom 31. Dezember 2022 von sich gibt, ist Stefan Meister. Er war bis 2021 noch für die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung in Georgien und ist nun Leiter des Programms »Internationale Ordnung und Demokratie« der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Meisters Ziel ist die restlose Verabschiedung der ehemaligen BRD-Ostpolitik von den 1960ern bis zu Beginn den 21. Jahrhunderts, die auch legitime russische Sicherheitsinteressen außenpolitisch beachtete (Bahr, Brandt, Schmid usw.). Er diagnostiziert: »Vor unseren Augen vollzieht sich der Zerfall des russischen Imperiums. Moskau kann keine Stabilität mehr schaffen, nicht in Zentralasien, nicht im Südkaukasus. Und wir haben keine Ahnung, wie wir als Deutschland und EU darauf mittel- bis langfristig reagieren wollen.« Unter der SPIEGEL-Überschrift »Regime-Change (in Moskau!, M.K.) muss Ziel deutscher Politik sein«, fasst er seine Vorstellungen schließlich zusammen. Ob er und diejenigen, deren Interessen er vertritt, sich damit nicht ein wenig übernehmen dürften, wird sich zeigen.
Als sich vom 23. bis 24. Juni 2023 paramilitärische Einheiten der sog. Gruppe Wagner weigerten, sich ins reguläre russische Militär eingliedern zu lassen und damit drohten, einen „Marsch auf Moskau“ zu veranstalten, sahen sich manche „Regime-Changer“ schon am Ziel ihrer Wunschträume. Vor lauter Euphorie twitterte z.B. der Nato-konforme Bundeswehr-Professor Carlos Masala: „Ich liebe den Geruch von Bürgerkrieg am morgen!“, löschte den Eintrag aber später wieder aufgrund massenhaften Widerspruchs im Internet (ZEIT.de v. 26.6.2023) Wie man als Wissenschaftler so semi-senil oder so suizidal veranlagt sein kann, sich ein Russland im Bürgerkriegs-Chaos zu wünschen, bei dem sich ein Herr Prigoschin in der Nähe des Atombomben-Knopfes befindet, bleibt das Geheimnis so manchen Triumph-Geheuls dieser Tage.
Derweil können der World Risk Report 2023 des Weltwirtschaftsforums in Davos (WEF) und der Munich Security Report 2023 der Münchener NATO-„Sicherheitskonferenz“ (msc) als Ausdruck der Krisenwahrnehmungen durch die politischen, ökonomischen und militärischen Eliten des Westens angesehen werden. In ihnen wird – manchmal sogar explizit und oft implizit – sichtbar, dass die Hegemonie der westlichen Weltordnung schlicht nicht mehr gegeben ist. Egal, welches ökonomische, politische oder militärische Konfliktfeld herangezogen wird (Ukraine-Krieg, Russland-Beziehungen, OPEC-Öl-Politik, Dollar-Dogma, Freihandel und Protektionismus etc.): „Der Westen“ spricht nicht (mehr?) für die Mehrheit der Staatenwelt und schon lange nicht (mehr?) für die Mehrheit der Menschheit. Und er bekommt sie auch nicht mehr alle unter seinen Hut. Selbst innerhalb des NATO-Westens gibt es große Spaltungslinien (s. US-Protektionismus auf Kosten Europas). Zwar ist die Hybris und die Arroganz der Macht weiterhin vorhanden, doch die Welt-Herrschenden (bzw. ihre politischen Verwalter) können irgendwie nicht mehr so, wie sie wollen und die Mehrheit der Beherrschten v.a. im globalen Süden will nicht mehr so, wie sie sollen.
Somit könnte es sein, dass der Olaf Scholz von Anfang der 1980er Jahre immer noch mehr Wirklichkeit erfasst hatte als die gleiche Person 40 Jahre später. Ausgerechnet 1984 wusste der damalige Jungsozialist (Juso) in der SPD, Olaf Scholz zur Aufrüstung in Europa und zu deren Ursachen das Folgende zu berichten: „Aspekte sozialistischer Friedensarbeit“ müssten beachten, dass die Raketenstationierung der USA Anfang der 1980er Jahre in der BRD eine „zunehmend aggressivere Strategie der USA“ beweisen (S. 85). Die „Ursache der Aufrüstung (sei) in der aggressiv-imperialistischen NATO-Strategie zu suchen“ (S. 88) Man sieht „den aggressiven Charakter der US-Militärstrategie“ (S. 89) (Bertram Sauer/Olaf Scholz: Aspekte sozialistischer Friedensarbeit, in: SPW 22 (1984), S.85-89). Das hat Scholz jedoch alles – gemeinsam mit den CumEx-Gesprächen mit hochrangigen Bankern – fleißig vergessen. Deshalb fallen ihm vielleicht auch die Widersprüche der westlichen Welt und deren Sanktionspolitik nicht mehr auf: „Russland ruinieren“, Waffen liefern, „egal was die Wähler denken“ säen und danach Inflation, Rezession und (Atom-)Kriegsgefahren ernten, während der „große transatlantische Bruder“ durch Nord Stream-Sprengung und Ramstein-Arroganz deutlich macht, wer der Herr im Hause ist.
Eine etwas selbstkritischere Epochenbestimmung lässt sich bei den Klassikern finden: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen“ – schrieb Johann Wolfgang Goethe über die sogenannte Kanonade von Valmy im Jahre 1792, in der das revolutionäre Frankreich das preußisch-österreichische Invasionsheer zurückschlug. Goethes Diagnose galt wohl gemerkt dem bevorstehenden Untergang der eigenen, bisherigen Ordnung – nämlich der Feudalordnung gegen eine bürgerliche Volksarmee. Der bisweilen unter Amnesie leidende Bundeskanzler hat womöglich eine wirkliche „Zeitenwende“ erspürt, jedoch äußerst verzerrt wahrgenommen und interpretiert.
Vielleicht hat das Jahr 2022 also mit der Eskalation des (Stellvertreter-)Kriegs in der Ukraine und dem Welt-Wirtschaftskrieg gegen Russland tatsächlich eine „Zeitenwende“ eingeläutet. Entgegen den Vorstellungen von Meister und Scholz könnte es in die Weltgeschichte eingehen als sichtbarster Ausdruck des Beginns der Verwestlichungs-Krise, der „De-Westernisation“, der De-Dollarisierung des Welthandels und der Ent-Amerikanisierung des Welt-Kapitalismus, kurz: der beginnenden Durchsetzung von Pluripolarität der Welt. Da Herrschaftsordnungen – geschweige denn Atommächte – nur sehr selten freiwillig und gewaltfrei abzutreten gedenken, dürfte dieser Prozess ziemlich blutig ablaufen. Seine Zeitgenoss(inn)en sind – je näher am Schlachtfeld, desto schlimmer – nicht gerade zu beneiden.
Aber vielleicht werden die mexikanischen, brasilianischen, indischen, chinesischen, indonesischen oder südafrikanischen Friedensvorschläge doch noch wirksam (die deutsche Diplomatie fällt ja bekanntlich aus – und das wäre für das Überleben der Menschheit wohl auch nicht die schlechteste Nachricht).