Prof. Dr. Michael Klundt
Hochschule Magdeburg-Stendal
Momentan stehen sich zwei Zeit-Diagnosen unversöhnlich gegenüber. Die Erste stammt vom deutschen Bundeskanzler und beansprucht weltweite Hegemonie (Nord Stream hin – Nord Stream her). Die Zweite analysiert und kritisiert die erste Zeit-Diagnose als nicht nur verzerrend, sondern auch als bezeichnend für eine spezifische Wahrnehmungsstruktur im globalen (Nato-)Norden. Bundeskanzler Olaf Scholz sagte am 27. Februar 2022 im deutschen Bundestag: „Der russische Überfall auf die Ukraine markiert eine Zeitenwende. Er bedroht unsere gesamte Nachkriegsordnung. Das ist völkerrechtswidrig. Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie davor”.
Dagegen schrieb der brasilianische Sozialwissenschaftler Giorgio Romano Schutte im IPG-Journal v. 18.04.2023 der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung über „Das Ende des Westens“. Er schlussfolgert: „Der Krieg gegen die Ukraine zeigt, Europas Politiker und Meinungsmacher haben keine Ahnung von den Sichtweisen und Erwartungen des Globalen Südens.“ (https://www.ipg-journal.de/regionen/global/artikel/das-ende-des-westens-1-6647/)
Das gegenwärtig populärste NATO-Narrativ geht so: „Wenn die Russen aufhören zu kämpfen, ist der Krieg zu Ende – wenn die Ukrainer aufhören zu kämpfen, ist die Ukraine zu Ende“. Der Preis dieser – auch von Bundeskanzler Olaf Scholz regelmäßig bemühten – Losung lautet, dass bis zum letzten Ukrainer und bis zur Verwandlung des ganzen Landes in ein Schlachtfeld gekämpft werden kann und soll. Das nennen Bundeskanzler Scholz und andere dann „Logik“, während sie alle Kritiker/innen entweder als naiv oder als kreml-gekaufte, nützliche Idioten darstellen. Einmal ganz abgesehen von der Entstehungsgeschichte dieses Krieges, den Kontexten, der vorherigen absprache-widrigen NATO-Expansion, den Raketen-Stationierungen nahe der russischen Grenze, dem Stellvertreterkriegs-Charakter und der Bombardierung der Ostukraine durch Kiewer Truppen seit 2014 mit über 13.000 Toten vor dem Februar 2022: Ein Waffenstillstand und Friedensverhandlungen bedeuten ja gerade, dass zu diesem Zeitpunkt nicht (mehr) gekämpft wird. Die Verhandlungen zum Kriegsgefangenenaustausch, zum Getreide-Abkommen, die fortwährenden russischen Gaslieferungen durch die Ukraine nach Ungarn und Österreich sowie die Vor-Entwürfe zu einem Friedensabkommen von März/April 2022 (das von westlichen Mächten torpediert wurde) beweisen, dass vernünftige Verhandlungen möglich sind und das alltäglicher Massaker beendet werden kann.
Nachrichten aus dem deutschen Irrenhaus: Bitte nicht stören
Die höchste deutsche Diplomatin, Bundesaußenministerin Annalena Baerbock tritt unterdessen im Frühjahr 2023 in einer Aachener Karnevalssitzung auf. Sie berichtet stolz, dass sie eigentlich im „LEOPARD“-Kostüm verkleidet erscheinen wollte, aber Angst hatte, dass ihr daraufhin das Bundeskanzleramt drei Wochen Auslandsreiseverbot erteile. Was für ein Mords-Spaß!
Und Anfang Juni 2023 war es dann endlich soweit. Das Boulevardblatt BILD brachte alte Wehrmachts-Nostalgiker und andere Russen-Hasser zum Schwärmen. Dort hieß es in großen Lettern: „Die ganze Welt wartete darauf. Jetzt ist es soweit: die Ukraine stößt mit deutschen Leopard-2-Panzern gegen die Russen vor! Erstmals wurden die deutschen Kampfpanzer auf dem Schlachtfeld gesichtet, sie nehmen den Kampf gegen die russischen Invasoren auf. Die Offensive läuft!” (BILD.de v. 8.6.2023) Diese Bild-Überschrift bietet die gewohnten Fake News des globalen Norden: Die ganze Welt habe den Einsatz deutscher Panzer erwartet – wenn 80% der Welt gegen Waffenlieferungen und Sanktionspolitik sind. Mit der gewohnten glatten Lüge befand sich das Blatt aber im Durchschnitt der Blase des globalen Norden.
85% der Weltbevölkerung in westlichen Medien regelmäßig ignoriert
Anhand quantifizierter Diskursanalysen großer westlicher Informationsmedien wie Tagesschau, SPIEGEL, New York Times, Le Monde, CNN etc. kann der Geisteswissenschaftler Ladislaus Ludescher nachweisen, dass der größte Teil der Menschheit und deren Themen wie Probleme regelmäßig seit Jahren praktisch keinerlei Niederschlag in den Nachrichtenorganen des globalen Nordens findet. „Vor dem Hintergrund, dass etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung in Ländern des Globalen Südens leben, ergibt sich ein Beitragsschema mit einem umgekehrt negativen Verhältnis. Pointiert gesagt: 15 Prozent der Weltbevölkerung genießen mehr als 85 Prozent der medialen Aufmerksamkeit, während 85 Prozent der Weltbevölkerung weniger als 15 Prozent der medialen Wahrnehmung erhalten.“ (Telepolis.de v. 22.4.2023)
Wenn dann der deutsche Kanzler oder die deutsche Außenministerin nach Chile, Brasilien, Südafrika oder Vietnam fliegen und der dortigen Regierung „erklären“, dass gerade ein noch nie dagewesenes, schreckliches Terrorregime einen seit dem Zweiten Weltkrieg angeblich erstmaligen Angriffs-Krieg führt und sie, die südlichen Länder gefälligst deshalb sofort alle Sanktionen beschließen und Waffen gegen Russland liefern sollten, wird es schwierig. Die Bevölkerung und die Regierungen vieler Länder des globalen Südens haben dagegen nicht so ein schlechtes historisches Gedächtnis wie deutsche Regierungsmitglieder. Sie können sich noch gut an die Unterstützung bundesdeutscher Regierungen und Industriegruppen für die US-Bombenkriege in Vietnam und Laos sowie die bundesdeutsche Unterstützung für die Militärdiktaturen und Terrorregime in ihren Ländern in den 1960er- und 1970er-Jahren erinnern. Doch da war Annalena Baerbock ja noch nicht geboren und Olaf Scholz hat nicht nur in CumEx-Fragen empfindliche Gedächtnisschwierigkeiten. Deshalb glauben die beiden auch immer noch, dass die sog. regelbasierte Weltordnung nach dem zweiten Weltkrieg bis zum 22. Februar 2023 durch keinerlei völkerrechtswidrigen Angriffskrieg verletzt worden sei.
Selbst eingefleischte transatlantische Wissenschaftler scheinen diese Widersprüchlichkeit der westlichen Wahrnehmung auf der weltpolitischen Ebene zu erspüren. So hat im März 2023 eine Studie (ein sog. Policy Brief) des European Council on Foreign Affairs (ECFR), eine paneuropäische Denkfabrik mit Hauptsitz in Berlin, beeindruckende Ergebnisse publiziert. Nach dieser Umfragestudie mit dem vielsagenden Titel: „United West, divided from the Rest“ („Der Westen vereinigt, aber vom Rest getrennt“) sei der Westen angesichts des Krieges in der Ukraine zwar enger zusammengerückt, jedoch verwandle sich die Welt in eine post-westliche, genauer in eine multipolare Welt und das Selbstbewusstsein der nicht-westlichen Staaten wachse. Der (Stellvertreter-)Krieg zwischen Russland und der (Nato-)Ukraine erweise sich geradezu als Wendepunkt in der Weltgeschichte.
Wer ruiniert wen?
Wie der Wunsch Vater des Gedankens werden kann, zeigt auch die folgende Zeit-Diagnose: »Wir werden gerade Zeugen der Desintegration des russischen Imperiums, des postsowjetischen Raums. Dieser Prozess hat nicht 1991 stattgefunden, sondern erfolgt jetzt.« Der das im Interview mit dem SPIEGEL vom 31. Dezember 2022 von sich gibt, ist Stefan Meister. Er war bis 2021 noch für die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung in Georgien und ist nun Leiter des Programms »Internationale Ordnung und Demokratie« der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin. Meisters Ziel ist die restlose Verabschiedung der ehemaligen Ostpolitik. Er diagnostiziert: »Vor unseren Augen vollzieht sich der Zerfall des russischen Imperiums. Moskau kann keine Stabilität mehr schaffen, nicht in Zentralasien, nicht im Südkaukasus. Und wir haben keine Ahnung, wie wir als Deutschland und EU darauf mittel- bis langfristig reagieren wollen.« Unter der SPIEGEL-Überschrift »Regime-Change (in Moskau!, M.K.) muss Ziel deutscher Politik sein«, fasst er seine Vorstellungen schließlich zusammen. Ob er und diejenigen, deren Interessen er vertritt, sich damit nicht ein wenig übernehmen dürften, wird sich zeigen.
Eine etwas selbstkritischere Epochenbestimmung lässt sich bei den Klassikern finden: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen“ – schrieb Johann Wolfgang Goethe über die sogenannte Kanonade von Valmy im Jahre 1792, in der das revolutionäre Frankreich das preußisch-österreichische Invasionsheer zurückschlug. Goethes Diagnose galt wohl gemerkt dem bevorstehenden Untergang der eigenen, bisherigen Ordnung – nämlich der Feudalordnung gegen eine bürgerliche Volksarmee. Der bisweilen unter Amnesie leidende Bundeskanzler hat womöglich eine wirkliche „Zeitenwende“ erspürt, jedoch äußerst verzerrt wahrgenommen und interpretiert.
Derweil können der World Risk Report 2023 des Weltwirtschaftsforums in Davos (WEF) und der Munich Security Report 2023 der Münchener NATO-„Sicherheitskonferenz“ (msc) als Ausdruck der Krisenwahrnehmungen durch die politischen, ökonomischen und militärischen Eliten des Westens angesehen werden. In ihnen wird – manchmal sogar explizit und oft implizit – sichtbar, dass die Hegemonie der westlichen Weltordnung schlicht nicht mehr gegeben ist. Egal, welches ökonomische, politische oder militärische Konfliktfeld herangezogen wird (Ukraine-Krieg, Russland-Beziehungen, OPEC-Öl-Politik, Dollar-Dogma, Freihandel und Protektionismus etc.): „Der Westen“ spricht nicht (mehr?) für die Mehrheit der Staatenwelt und schon lange nicht (mehr?) für die Mehrheit der Menschheit. Und er bekommt sie auch nicht mehr alle unter seinen Hut. Selbst innerhalb des NATO-Westens gibt es große Spaltungslinien (s. US-Protektionismus auf Kosten Europas). Zwar ist die Hybris und die Arroganz der Macht weiterhin vorhanden, doch die Welt-Herrschenden (bzw. ihre politischen Verwalter) können irgendwie nicht mehr so, wie sie wollen und die Mehrheit der Beherrschten v.a. im globalen Süden will nicht mehr so, wie sie sollen.
Vielleicht hat das Jahr 2022 also mit der Eskalation des (Stellvertreter-)Kriegs in der Ukraine und dem Welt-Wirtschaftskrieg gegen Russland tatsächlich eine „Zeitenwende“ eingeläutet. Entgegen den Vorstellungen von Meister und Scholz könnte es in die Weltgeschichte eingehen als sichtbarster Ausdruck des Beginns der Verwestlichungs-Krise, der „De-Westernisation“, der De-Dollarisierung des Welthandels und der Ent-Amerikanisierung des Welt-Kapitalismus, kurz: der beginnenden Durchsetzung von Pluripolarität der Welt. Da Herrschaftsordnungen – geschweige denn Atommächte – nur sehr selten freiwillig und gewaltfrei abzutreten gedenken, dürfte dieser Prozess ziemlich blutig ablaufen. Seine Zeitgenoss(inn)en sind – je näher am Schlachtfeld, desto schlimmer – nicht gerade zu beneiden.
Aber vielleicht werden die mexikanischen, italienischen, brasilianischen, indischen, chinesischen, indonesischen oder südafrikanischen Friedensvorschläge doch noch wirksam (die deutsche Diplomatie fällt ja bekanntlich aus – und das wäre für das Überleben der Menschheit wohl auch nicht die schlechteste Nachricht).