In zunehmendem Maße nehmen politische Akteure, die nicht demokratisch legitimiert sind, Einfluss auf Inhalte und Strukturen des Bildungswesens: Verbände, transnationale Organisationen, speziell die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und Stiftungen. Die OECD hat durch die PISA-Studien die öffentliche Aufmerksamkeit als bildungspolitischer Akteur auf sich gelenkt. Eine ähnlich große Aufmerksamkeit findet die Bertelsmann-Stiftung. „Einflussnahme“ ist bei beiden eine verharmlosende Formulierung. Armin Bernhard (2020) sieht „Illegitime Eingriffe in das deutsche Bildungssystem“. Wir verstehen sie mit ihm als Teil der neoliberalen Formierung der Gesellschaft. Im folgenden Beitrag liegt der Fokus auf unternehmensnahen Stiftungen.
Anders als in den USA haben Stiftungen hierzulande erst ab den 1980er Jahren schrittweise eine politische Rolle übernommen. Dies ging einher mit der Stärkung neoliberaler Politik, die nach der Rezession der 1970er Jahre das kapitalistische System wieder zum Erfolgsmodell machen sollte. Die Rezession hatte den Niedergang des fordistischen Akkumulationsregimes angezeigt. In den USA, wo staatlicher Regulierung und Vermittlung zwischen den Klasseninteressen immer schon eine geringere Funktion zukam als im europäischen Kapitalismus, wo Sozial- und Kulturpolitik marginal sind, deckten Stiftungen seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts einen gesellschaftlichen Bedarf. Bekannt sind die Stiftungen von Carnegie, die Ford und die Rockefeller Foundation, die teilweise international agieren, ebenso wie die weit jüngere Gates-Stiftung.
Die neoliberale Agenda, die sich in vieler Hinsicht am US-amerikanischen Kapitalismus orientiert, propagiert vor allem den Rückzug oder die Verschlankung des Staates. Dieser soll weniger vom gesellschaftlichen Reichtum für Gemeinschaftsaufgaben an sich ziehen und sich weniger Lenkungsfunktionen anmaßen, dafür mehr der Eigeninitiative und den freien Kräften des Marktes überlassen. Eine Konsequenz dieser Programmatik ist die Privatisierung vieler vordem staatlicher Leistungen und Einrichtungen (Auernheimer 2021). Diese beschränkt sich nicht auf die Übertragung der Eigentumsrechte und staatlichen Vermögens auf private Unternehmen. Auch wenn zum Beispiel eine Infrastruktureinrichtung wie die Bahn staatliches Eigentum bleibt, aber privatwirtschaftlich organisiert ist, ist sie weitgehend öffentlicher Kontrolle entzogen. Die weitere Entwicklung des Unternehmens wird stark vom Markt bestimmt. Öffentliche Rechenschaftslegung ist auch bei einem anderen Modell, der sogenannten Öffentlich-privaten-Partnerschaft (engl. Public- Private-Partnership) eingeschränkt, bei dem Aufgaben und Einrichtungen teilweise und zeitweise an private Unternehmen übertragen werden. Auch auf verdeckte Art werden Leistungen privatisiert, wenn sie, oft wegen Armut der öffentlichen Hand, von einem öffentlichen Träger nicht mehr erbracht werden. In diesem Rahmen wird die Bedeutungszunahme von Stiftungen und speziell auch von Bildungsstiftungen verständlich.
Die bildungspolitische Rolle von Stiftungen
Im Schul- und Hochschulbereich ist die bildungspolitische Rolle von Stiftungen seit der Jahrtausendwende auf bemerkenswerte Art gewachsen. Den Grund dafür sehen Höhne und Striebing (2020) in der allgemeinen „Privatisierung öffentlicher Aufgaben und Leistungen“, wie es der neoliberalen Agenda entspricht. Sie notieren generell die Zunahme zivilgesellschaftlicher Akteure wie Nichtregierungsorganisationen, gemeinnütziger GmbHs, Genossenschaften und Stiftungen.1 40 Prozent davon seien nach 2000 gegründet worden (7f.). Speziell im Bildungssektor schlägt sich diese Entwicklung in der neuen „Governance“ nieder, nämlich in der Einbindung privater und zivilgesellschaftlicher Akteure seitens des Staates (ebd.). Dem allgemeinen Trend folgend wurde 2002 das Stiftungsrecht so novelliert, dass Stiftungswillige „Anspruch auf Stiftungsgenehmigung“ haben. Vorher mussten sie eine Konzession beantragen. Darin drückt sich ein neues Verständnis des Verhältnisses von Staat und Zivilgesellschaft aus.
Von den 22.000 Stiftungen in Deutschland, die 2020 gezählt wurden – deren Stiftungszwecke sind äußerst vielfältig – waren circa 35 Prozent im Bildungsbereich engagiert (Höhne/Striebing 2020: 73). Manche dieser Stiftungen, vor allem die in der außerschulischen Jugendbildung und Erwachsenenbildung tätigen, machen selbst Bildungsarbeit (Hirsch 2019: 14). Es handelt sich um Stiftungen von Parteien und Verbänden wie beispielsweise die gewerkschaftliche Hans-Böckler- Stiftung. Ihre Bildungsarbeit ist zwar in der Regel interessengeleitet und damit politisch. Aber sie nehmen damit nicht Einfluss auf die Gestaltung und Entwicklung von Bildungseinrichtungen oder gar des Bildungssektors als ganzem. Insofern machen sie nicht Bildungspolitik. Das ist zum Beispiel bei der Bertelsmann Stiftung ganz anders.
Stiftungen sind keine demokratischen Institutionen. Das Wirken einer Stiftung ist der Kontrolle durch demokratisch Beauftragte entzogen. Sie muss sich bestenfalls einer kritischen Öffentlichkeit stellen. Was eine Stiftung von anderen zivilgesellschaftlichen Einrichtungen unterscheidet, das ist das Stiftungsvermögen, das in der Regel ein Stifter, eine Stifterin – manchmal können es auch mehrere Geldgeber:innen sein – einem bestimmten, langfristigen Stiftungszweck widmet. Viele Stiftungen haben also einen stark patronalen Charakter. Der Stiftungszweck ist für immer festgesetzt. Es kann nicht vorkommen, dass geänderte Mitgliederinteressen wie bei Vereinen die Zielsetzung verschieben. Nur in Ausnahmefällen haben Stiftungen die Form des Vereins. Ungeachtet ihrer privatrechtlichen Verfassung beanspruchen Stiftungen Gemeinnützigkeit.2
Im engsten formal-rechtlichen Sinne ist die ‚Stiftung‘ ein Rechtsakt. Die rechtsfähige Stiftung bürgerlichen Rechts ist in den §§ 80ff. BGB geregelt und im jeweiligen Landesrecht spezifiziert. Gemäß dem Gesetzgeber müssen Stiftungen über einen per Stiftungsurkunde festgeschriebenen und weder dem geltenden Recht noch den guten Sitten zuwiderlaufenden Stiftungszweck verfügen. Urkundlich geregelt sein muss ebenfalls die Höhe des Stiftungsvermögens, das zur dauernden und nachhaltigen Erfüllung des Stiftungszwecks genügen muss. Außerdem bedarf es der Festlegung der Organisationsstruktur. Diese positiv rechtliche Definition umfasst jedoch nicht Stiftungen des öffentlichen Rechts, Treuhandstiftungen oder die Stiftungs-GmbH aus. Aber gerade solche Stiftungen sind die relevantesten Akteure im Bildungsbereich, so beispielsweise die Robert-Bosch- Stiftung GmbH oder die Stiftung Mercator gGmbH (Höhne/Striebing 2020: 9).
Das Stiftungsvermögen, die Unternehmensnähe mancher Stiftung
Das Stiftungsvermögen wird möglichst ertragreich angelegt, um aus den Erträgen (Zinsen, Gewinnausschüttungen), oft ergänzt um weitere Mittel (z.B. Spenden), Projekte zu finanzieren. Die meisten Stiftungen haben mehrere Finanzquellen. Das Stiftungsvermögen und die Stiftungsurkunde regeln die interne Verfassung. Unternehmensnahe Stiftungen, wie sie primärer Untersuchungsgegenstand der Dissertation von Anja Hirsch (2019) sind – Hirsch prüft die Gemeinwohlorientierung unternehmensnaher Stiftungen – halten Anteile an einem Unternehmen oder sie arbeiten mit dem von einem Unternehmen übertragenen Vermögen. Diesen Typ bezeichnet Hirsch als Unternehmensstiftung oder CSR-Stiftung (für Corporate Social Responsibility). Anteile an einem Unternehmen halten zum Beispiel die Bertelsmann Stiftung, die Freudenberg Stiftung, die Körber Stiftung und die Robert Bosch Stiftung (Hirsch 2019: 124). Anders als in den USA sind die Anteile, die eine Stiftung an einem Unternehmen halten darf, in Deutschland nicht beschränkt. Der Verquickung von Stiftungszweck und Unternehmensinteressen wird damit noch weniger vorgebeugt.
Von 1.400 befragten Stiftungen gaben 37 Prozent 2014 an, dass der Stiftungszweck hauptsächlich im Bereich Bildung liege. Zum Teil sei man auch in Wissenschaft und Forschung, in Kultur und im sozialen Bereich aktiv (Striebing 2020: 55). Die Angaben decken sich mit den Daten des Bundesverbands Deutscher Stiftungen. In absoluten Zahlen waren es 2013 über 6.300 Stiftungen, die sich laut Satzung den Bereichen „Bildung, Erziehung und Studentenhilfe“ widmeten. Bildungsstiftungen bilden die jüngste Generation der insgesamt meist jungen Stiftungen in Deutschland (56). Neben den Stiftungen, die öffentlich in Erscheinung treten und politisch einflussreich, oft auch international von Gewicht sind wie die Bertelsmann-Stiftung gibt es kleine Stiftungen. Am Stiftungsvermögen gemessen reicht die Größenordnung von den großen, meist unternehmensnahen Stiftungen bis hin zu Stiftungen mit ein paar ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen. Das Stiftungswesen ist nach Thomas Höhne ein politisches Feld, „in dem eine kleine Zahl großer und ökonomisch potenter Stiftungen etwa einer großen Zahl von kleinen Stiftungen gegenüber steht“ (2020: 32). 70 Prozent der Bildungsstiftungen haben nur ein geringes Budget (57). Bildungspolitisch von Gewicht aber sind die großen unternehmensnahen Stiftungen, nämlich die Bertelsmann Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, die Körber und die Freudenberg Stiftung.3
Als Beispiele für mittelgroße Stiftungen nennt Striebing die Deutsche BP Stiftung und die Körber Stiftung. Stiftungen sind fördernd oder „operativ“ tätig, m.a.W. finanziell oder praktisch in Projekte involviert, häufig auch beides. Viele wollen nach eigenen Angaben Innovationen anstoßen, zu einer gerechteren Welt beitragen, kulturelle Vielfalt fördern, die meisten (78 %) wollen „aufgreifen, was der Staat nicht mehr leisten kann“ (2020: 61).
Privates Engagement zur Entlastung des Staates
Das Engagement der Bildungsstiftungen entspricht der neoliberalen Agenda. Man will den Staat stärker aus der Verantwortung für die Organisation des Bildungswesens und für Bildungsprozesse nehmen, indem zivilgesellschaftliche und private Akteure, also teils auch Unternehmen, eingebunden werden. Die Modernisierungsstrategie im Bildungssektor, die unter dem Namen Neue Steuerung allenthalben durchgesetzt wird, verdankt sich zu einem guten Teil den Projekten von Stiftungen. Inhaltlich wird eine Schwerpunktverlagerung auf die MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik), methodisch die Digitalisierung von Unterricht oder Lehre angestrebt. Manche Projekte kompensieren schlicht, was der Staat versäumt oder nicht mehr leisten kann.
Zuerst seien exemplarisch zwei Stiftungen vorgestellt, die sich mit ihren Projekten auf je ein Bundesland konzentrieren. Das Programm RuhrFutur der Mercator-Stiftung umfasst das Projekt „Kinderstuben“ für die Frühförderung von Kindern mit schlechten Startchancen, im Schulbereich die Förderung der Digitalisierung und die Erarbeitung eines neuen Lernkonzepts für Mathematik im vierten Schuljahr einschließlich Lehrerinnenfortbildung, ein Projekt zur Studienorientierung und eines zur Einführung in wissenschaftliches Arbeiten. Die Robert Bosch Stiftung hat mit „Turnaround“4 Grund- und Sekundarschulen in sozial schwierigen Quartieren Berlins ins Visier genommen. Kooperationsbereite Schulen sollen sich mit Hilfe von Beratung und Moderation so entwickeln, dass sie ihren Herausforderungen gewachsen sind. Als wichtig gelten die Stärkung von Teamgeist, Corporate Identity, individualisiertes Lernen und Berufsorientierung.
Zwei große bundesweite Vorhaben basieren auf Public-Private-Partnership, d.h. der Öffentlich- Privaten-Partnerschaft zwischen Staat und privaten bzw. zivilgesellschaftlichen Akteuren, hier eben Stiftungen.
Als bisher größte Partnerschaft zwischen Stiftungen und Staat ist der Stiftungsverbund „Lernen vor Ort“ anzuführen. Das ist ein 2009 gegründeter bundesweiter Zusammenschluss von gut 180 Stiftungen, die im Bildungsbereich vor Ort aktiv sind und gemeinsam mit „ihren“ Kommunen an der Verbesserung des lokalen Bildungswesens arbeiten wollen. Zusammen mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) setzt sich der Verbund dafür ein, dass alle Bildungsakteure ihre Angebote kohärent verknüpfen, um für ein Lebenslanges Lernen der Bürgerinnen und Bürger optimale Bildungsbedingungen vor Ort zu schaffen. Unter dem Dach des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen und mit Förderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung berät, unterstützt und koordiniert eine Geschäftsstelle die beteiligten Stiftungen. Projektträger ist das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DZLR). Ziel ist es, in den teilnehmenden Kommunen alle bildungsrelevanten Angebote und Akteure von der KiTa bis zu Weiterbildungseinrichtungen miteinander zu verbinden, so dass ein konzertiertes Bildungsmanagement entwickelt wird. Die Beiträge der Stiftungen unterscheiden sich sehr stark voneinander. Sie umfassen einfache Förderung, fachliche Angebote, Weiterbildung für pädagogische Fachkräfte, das Einbringen von Expertise und Prozessbegleitung.
Einen ähnlich breiten und überregionalen Verbund stellt das Nationale MINT-Forum dar. Überzeugt, dass die MINT-Fächer für die Zukunft eines Industrielandes von entscheidender Bedeutung sind, haben sich 2012 auf Initiative der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) über 30 Institutionen, darunter Stiftungen und Wirtschaftsverbände sowie weitere zivilgesellschaftliche Akteure, auch Wissenschaftseinrichtungen zusammengeschlossen, um die Bedeutung der MINT- Bildung in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung zu rücken und gemeinsam mit der Bildungsverwaltung der MINT-Bildung mehr Gewicht zu geben. Verantwortlich zeichnen auch die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften und die Bundesagentur für Arbeit. Erarbeitet werden bildungspolitische Handlungsempfehlungen und Qualitätsstandards zu thematischen Schwerpunkten. Betont wird der intensive Austausch zwischen Entscheidungsträgern aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft.
Die Bertelsmann Stiftung
Die bedeutsamste im Bildungsbereich engagierte Stiftung ist die Bertelsmann Stiftung, gegründet 1977, gleichzeitig Think-Tank und Projektmanager in Partnerschaft mit staatlichen Einrichtungen. Die Stiftung hält den Großteil der Kapitalanteile am Bertelsmann-Konzern und finanziert daraus ihre bildungspolitischen Initiativen, geleitet von der Überzeugung des Gründers Reinhard Mohn, „dass die Prinzipien unternehmerischen Handelns zum Aufbau einer zukunftsfähigen Gesellschaft beitragen können“ (zit. nach Höhne 2020: 40).
Ein von der Bertelsmann-Stiftung favorisiertes Instrument für Reformpolitik bilden Rankings (dazu Bernhard 2020: 170). Zur Messung der Reformfähigkeit von Staaten wurde zum Beispiel der „Reformindex“ erstellt. Auch das Hochschulranking geht auf die Initiative der Stiftung zurück. Zur Durchführung wurde 1994 gemeinsam mit der Hochschulrektorenkonferenz das Zentrum für Hochschulentwicklung (CHE) in Gütersloh als gemeinnützige GmbH gegründet.
Erklärtes Ziel war es, „die Hochschulen von der staatlichen Regulierung zu befreien, die inneren Strukturen aufzubrechen und die Universitäten und Fachhochschulen handlungs- und entscheidungsfähig zu machen.“5 Rund ein Drittel des jährlichen Budgets für das CHE stellt die Bertelsmann-Stiftung als Gesellschafter zur Verfügung. Die übrigen Finanziers sind das Bundesministerium für Bildung und Forschung, die EU-Kommission, weitere Stiftungen und der ZEIT Verlag. Die Wochenzeitung die Zeit genießt dafür das Privileg, die Rankings zu veröffentlichen. Das erste Ranking wurde 1998 veröffentlicht. Für das Ranking werden Daten zu Studium, Lehre und Forschung sowie zur Ausstattung in dreißig Fächern erhoben. Auf dieser Basis werden Ranggruppen gebildet.
Das größte schulpolitische Projekt der Stiftung mit großem Einfluss auf die Schulpolitik in Deutschland ist SEIS, Akronym für „Selbstevaluation in Schulen“. Das Instrumentarium dafür wurde nach einem Vorbild aus Schottland entwickelt (How good is our School). Das programmatische Ziel ist die Schule als lernende Organisation (sieh Kap. 4). Dafür werden Handbücher, Handreichungen und eine „Toolbox“ für Multiplikatoren angeboten. Die Datensammlung, die sich aus der Selbstevaluation der Schulen ergibt, soll aber auch ein vergleichendes Berichtswesen ermöglichen. Die Kultusministerien von Niedersachsen, Nordrhein- Westfalen und Baden-Württemberg haben Kooperationsvereinbarungen mit der Stiftung getroffen. Darin sind Eingriffsrechte für die Stiftung vereinbart, die Durchführung der Evaluation und die Einwerbung von Drittmitteln betreffend. Niedersachsen hat auch der Nutzung der Daten für den regionalen Bildungsbericht und für einen bundesweiten Qualitätsvergleich zugestimmt (Höhne 2020: 43).
Ein anderes Projekt der Bertelsmann-Stiftung heißt „Gute gesunde Schule“ zur Förderung der Gesundheitserziehung im Rahmen eines guten Schulklimas. 2016 beteiligten sich nach Angaben der Stiftung circa 4.400 Schulen in sieben Bundesländern.
An dem SEIS-Projekt der Bertelsmann-Stiftung zeigen sich Probleme dieser Art von Öffentlich- Privater-Partnerschaft, die mehr als diskussionswürdig sind. Im Grund übernimmt die Stiftung, also eine private Einrichtung, mit der Evaluation in den Bundesländern Aufgaben der Schulaufsicht, die als staatliche Hoheitsaufgabe gelten muss. Selbst wenn nach Artikel 33 GG Ausnahmen möglich sind,6 erscheint das problematisch, zumal die Landesregierung in Niedersachsen der Stiftung noch die erhobenen Daten überlässt. Höhne spricht von einer „Monopolisierung des Datenpools“ (2020: 45). Aufschlussreich ist, dass die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Berlin 2013 den Senat aufgefordert hat, das Projekt Turnaround der Robert-Bosch-Stiftung zu beenden (Höhne/Striebing 2020: 17).
Beachtliches Demokratiedefizit
Die Beauftragung durch ein parlamentarisches Gremium, sofern der Auftrag nicht einfach von der Exekutive gekommen ist, ist eine schwache demokratische Legitimation für die Reformvorhaben von Stiftungen. Die Projekte mögen noch so sinnvoll erscheinen, aber entschieden wird über sie nicht in einem demokratischen Verfahren. Die Entscheidung über Ziele, Inhalte, die Auswahl des Personals und eventuell auch der Einrichtungen ist Sache des Stifters, der Stifterin oder eines von der Stiftung berufenen Gremiums, das in der Regel wissenschaftlichen Rat einholt, wenn nicht ohnehin Wissenschaftler:innen dazu gehören. Es fehlt aber jedes öffentliche Korrektiv. Auch die Transparenz der Vorhaben lässt oft zu wünschen (Hirsch 2019: 117ff.). Im besten Fall werden wenigstens Politiker:innen mit einem Mandat eingebunden und die Entscheidung über ein Projekt war Verhandlungsgegenstand in einem parlamentarischen Gremium. Pikant ist Folgendes: Werden Projekte in öffentlich-privater-Partnerschaft durchgeführt, so werden staatliche Mittel in Anspruch genommen, und sei es nur die Arbeitszeit von staatlichen Mitarbeiter:innen. Trotzdem unterliegen die Stiftungen dabei keiner Rechenschaftspflicht (Hirsch 2019: 115).
Besonders gravierend ist, dass der Staat bei großen bundesweiten Vorhaben wie dem Projekt SEIS privaten Trägern die Entscheidung über die Richtung überlässt, in die sich das Bildungswesen oder ein Teil davon entwickeln soll. Diese ist aber oft am Geschäftsfeld und den Interessen des mit der jeweiligen Stiftung verbundenen Unternehmens ausgerichtet. Hirsch nennt als Beispiel das Interesse der Telekom Stiftung und der Bertelsmann-Stiftung an der Digitalisierung des Bildungssystems (2019: 16, 105). In dem 2017 gegründeten Forum Bildung Digitalisierung e.V. engagieren sich neben den genannten beiden Stiftungen noch fünf teilweise große deutsche Stiftungen (Bernhard 2020: 175). Auf der Website wird verlautbart: „Das Forum Bildung Digitalisierung setzt sich für systemische Veränderungen und eine nachhaltige digitale Transformation im Bildungsbereich ein.“7
Dabei ist die Macht großer Stiftungen zu berücksichtigen, die sich aus der Verknüpfung von materiellem, kulturellem, sozialen und symbolischen „Kapital“ (Bourdieu) ergibt (Hirsch 2019: 114ff., Höhne 2020: 38). Hirsch weist zum Beispiel darauf hin, dass sich die Bertelsmann-Stiftung „ein breites und hochkarätiges politisches Netzwerk aufgebaut“ hat (2019: 105). Diese Stiftung liefert ein Musterbeispiel für die gezielte Nutzung von sozialem und kulturellem Kapital. In einer Schrift aus dem Hause Bertelsmann wird folgende Reformstrategie empfohlen: Zunächst „Die Erarbeitung eines Reformkerns in der ‚Agenda-Setting‘-Phase unter Reduktion der Beteiligung von Interessengruppen, um so sachorientiert und abgestützt durch Expertise eine Handlungsoption zu entwickeln.“ Dann erst empfiehlt sich „Die Partizipation der Interessengruppen (und eventuell der politischen Opposition) in der Entscheidungsphase, weil dadurch das Wissen über das Politikfeld und die Legitimität der Reform gesteigert und umgekehrt Widerstände gemindert werden können. Hierfür ist das Design der Policy elementar, um bestimmte Interessen zu begünstigen bzw. zu benachteiligen, um einen geschlossenen Widerstand zu verhindern.“ Wichtig für die Gewinnung der Öffentlichkeit ist schließlich „Die Erarbeitung eines kommunikativen ‚Frames‘, der glaubhaft die inhaltliche Dimension einer Reform repräsentiert und über die Medien oder eigenständige Kampagnen transportiert wird“ (Rüb u.a.: 7, zit. nach Armin Bernhard 2020: 5).
Armin Bernhard: „Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit, jenseits einer demokratischen Willensbildung konnte mit diesen Maßnahmen der Soft Governance eine gigantische Umgestaltung des Bildungs- und Hochschulwesens eingeleitet werden. Nicht aus dem Diskurs einer demokratischen Zivilgesellschaft gingen die so genannten Reformen hervor, nicht aus einer basisdemokratischen Diskussionskultur, auch nicht aus parlamentarischen Debatten. Sie wurden vielmehr von privaten Akteuren eines sich neu sortierenden, gleichwohl anarchischen Kapitalismus auf die Agenda gesetzt und von der Politik von oben dekretiert“ (2020: 174f.).
Besonders bedenklich ist, dass mit der enormen Expansion des Stiftungswesens möglicherweise eine „bildungspolitische Pfadverschiebung“ in Richtung Privatisierung angebahnt wurde, so die Befürchtung von Höhne (2020: 35). Er spricht von einem „Stiftungsboom“ seit 2000. Unter einem „Entwicklungspfad“ ist ein politisch begünstigter Trend zu verstehen.
Literatur:
Auernheimer, Georg (2021): Wie gesellschaftliche Güter zu privatem Reichtum werden. Über Privatisierung und andere
Formen der Enteignung. Köln.
Bernhard, Armin (2020): Illegitime Eingriffe in das deutsche Bildungssystem. In: Extension of Human Rights. A
publication of the Project Article 26. Ed. by Zeynel Korkmaz et al. PoliTeknik. Düsseldorf, S.165–179.
Hirsch, Anja (2019): Gemeinwohlorientiert und innovativ? Die Förderung politischer Jugendbildung durch
unternehmensnahe Stiftungen. Bielefeld: transcript Verlag.
Höhne, Thomas/Striebing, Clemens (Hrsg) (2020): Stiftungen im Schulwesen. Weinheim: Beltz.
Höhne, Thomas (2020): Staat, Zivilgesellschaft und das Feld der Stiftungen. In: Höhne/Striebing (Hrsg.), S.30-50.
Rüb, Friedbert W./Karen Alnor/Florian Spohr (2009): Die Kunst des Reformierens. Konzeptionelle Über-
legungen zu einer erfolgreichen Regierungsstrategie, Gütersloh (Hrsg.: Bertelsmann Stiftung)
Striebing, Clemens (2020): Stiftungen im Bildungswesen: eine Kartierung. In: Höhne/Striebing (Hrsg.), S.51-72.
- Als zivilgesellschaftliche Organisationen gelten Zusammenschlüsse von Bürger:innen wie gemeinnützige Vereine, die dem allgemeinen Interesse dienen wollen. Kriterien sind die Orientierung am Gemeinwohl und Transparenz. ↩
- Nicht alle Stiftungen sind als gemeinnützig anerkannt. Die Quote liegt jedoch bei 94 Prozent. ↩
- Unternehmensverbundene Stiftungen sind von Unternehmensstiftungen zu unterscheiden. Für beide wählt Hirsch (2019) den Begriff „unternehmensnahe Stiftungen“. Unternehmensverbundene Stiftungen sind Anteilseigner an einem Unternehmen. ↩
- Turnaround stammt aus der Sprache der Unternehmensberater und meint das Bemühen eines verlustreichen Unternehmens, wieder in die Gewinnzone zu gelangen ↩
- https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/ueber-uns/was-wir-erreicht-haben/che-centrum-fuer-hochschulentwicklung ↩
- Artikel 33 GG (4) Die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse ist als ständige Aufgabe in der Regel (!) Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen. ↩
- https://www.forumbd.de/ abgerufen am 17.08.22 ↩