An kaum etwas lassen sich die Effekte eines gesellschaftlichen Wandels besser ablesen als an der konkreten Stadtentwicklung und hier besonders deutlich an dem Umgang mit gewachsenen urbanen Quartieren. Gerade solche Quartiere lassen erkennen, welche gesellschaftlichen Vorstellungen gerade dominieren, welche Bedeutung sie gewinnen, wie sie sich in konkreten Vorstellungen über Urbanität, dem Urbanitätsnarrativ auswirken, was sie für das Alltagsleben der Bevölkerung bedeuten, welche Veränderungen sie hervorrufen und welche Effekte am Ende tatsächlich überdauern. Werden neue Möglichkeitsräume eröffnet, wird einfach nur Kontinuität gewahrt oder wird die überkommene Urbanität sogar dekonstruiert, um beispielsweise für eine andere Wirklichkeit Platz zu schaffen? An Quartieren wie dem Eigelstein in Köln, einem extrem alten und in seiner ausgesprochen unauffälligen Alltäglichkeit einem besonders typischen Quartier lässt sich erkennen, wie ein über Jahrhunderte zunehmend gewerblich geprägtes und sozio-kulturell hochdiverses urbanes Quartier, das im Krieg stark zerstört worden war, zunächst funktionalistisch und am Ende neonationalistisch-postrassistisch dekonstruiert wird. Das Ziel ist offenbar, ein ertragreiches Viertel für besserverdienende Bio-Deutsche zu erschaffen und am Ende eine neonationalistische Wirklichkeitskonstruktion zu implementieren. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs lassen sich hier drei Phasen erkennen:
a) Erste Phase: Die funktionalistische Dekonstruktion eines althergebrachten und nach dem Zweiten Weltkrieg wiederbelebten Quartiers
Im Rahmen des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte die Bevölkerung das einst hafennahe und später bahnhofsnahe dichte und gemischte Quartier allmählich wieder aufzubauen und mit Leben zu füllen. Die Wohnungen, die Betriebe und Firmen, die Geschäfte und die Dienstleistungseinrichtungen werden instand gesetzt und die überkommene diverse Urbanität des Quartiers erwacht tatsächlich wieder zum Leben. Nirgends kommt das plastischer zum Ausdruck als in Heinrich Bölls Beschreibung über das Leben in “Unter Krahnenbäumen” von 1958 (Chargesheimer 2007:4). Er notiert:
“Jahrhunderte lang oft wohnen ganze Sippen in Straßen wie dieser, verbergen ihren Reichtum, verbergen ihre Armut, pflegen ihre Kranken, ihre Krüppel in immer derselben Wohnung. Fremde werden aufgenommen, mögen sie Stanislaus, John oder Luigi heißen, Jan oder Sven…”.
Heinrich Böll beschreibt hier extrem präzise nicht nur die Struktur, sondern auch die soziale Logik eines überkommenen urbanen Quartiers in seinem alltäglichen, hoch routinierten Dauerablauf. Allerdings geht es Heinrich Böll an dieser Stelle nicht bloß um eine Würdigung urbanen Zusammenlebens, sondern zugleich auch um die Rettung dieses ihm seit langem vertrauten, unglaublich lebendigen Quartiers. Er wehrt sich nämlich gegen dessen Zerstörung durch eine extrem breit angelegte Schnellstraße, eine quer durch die Innenstadt geplante Nord-Süd-Fahrt – ein Straßenprojekt, das übrigens in der national-sozialistischen Zeit angedacht worden war. Der Protest wird von einer gut verankerten lokalen Bürgerinitiative getragen und von Heinrich Böll wie von dem berühmten sozial-kritischen Photographen Chargesheimer (Carl-Heinz Hargesheimer) unterstützt. Man scheitert vor allem, weil die Behörden das Quartier gar nicht ernst nehmen schon weil es ein divers-kleinbürgerliches Viertel ist. Die Stadt ist allein an der Durchsetzung einer “autogerechten Stadt” gemäß dem Leitbild der Charta von Athen interessiert und nimmt dafür die funktionalistische Zerstörung des Quartiers in Kauf.
Zweite Phase: Die fadenscheinige Würdigung eines nach 40 Jahren türkischer Einwanderung prosperierenden Quartiers
Im Verlauf der folgenden vierzig Jahre wird der Eigelstein immer wieder kritisch wahrgenommen. Zuletzt geht es allerdings nicht mehr um eine autogerechte Ausrichtung und die funktionalistische Modernisierung des Quartiers, sondern um den Umgang mit einem unterdessen von türkischer Einwanderung geprägten Quartier. Entsprechend der in den 80ern des letzten Jahrhunderts einsetzenden einwanderungsfeindlichen Stimmungslage versucht man, neue Wege im Umgang mit einer eigentlich seit je präsenten und unumkehrbaren Einwanderung, in diesem Fall mit den Kindern und Enkel der türkischen Eingewanderten zu gehen. In der Weidengasse haben sich nach der Ölkrise arbeitslos gewordene “Gastarbeiter” als Selbstständige niedergelassen. Es gelingt in einer heruntergekommenen Straße (“dunkle Ecke”), in der Weidengasse und einigen Nachbarstraßen so etwas wie ein türkisch- deutsches Milieu, schließlich einen wohletablierten “ethnic-theme-park” zu inszenieren. Auf diese Weise werden in der ursprünglich eher divers-kleinbürgerlich orientierten Weidengasse so etwas wie “bessere” Geschäfte etabliert, was offenbar eine gewisse öffentliche Akzeptanz verspricht. Genau an diesem Punkt setzt der Kölner Bachem Verlag zusammen mit MitarbeiterInnen vom Stadtanzeiger und vom Westdeutschen Rundfunk mit einem entsprechend attraktiv gestalteten Fotoband über die “Weidengasse als einer deutsch-türkischen Straße” an. Das Ergebnis ist allerdings eine ökonomische Verklärung (Schroeder 2008:41):
“Über die Weidengasse wurde … ein Bildband veröffentlicht, der sich recht selbstzufrieden in die Tradition Chargesheimers stellt, jedoch programmatisch jeden sozialkritischen Bezug ausblendet. Die Weidengasse erscheint hier multikulturell und ohne Melancholie. Sie ist bunt, sehenswert, modern und voller Kaufkraft”.
Bei einer genaueren Betrachtung wird tatsächlich deutlich, dass das Quartier gar nicht als ein schon immer von Einwanderung geprägte altes Kölner Quartier dargestellt wird. Man konzentriert sich statt dessen auf rein kommerzielle Aspekte, die durch kurze biographische Interviews illustriert werden. Sie sind extrem klischeehaft und sehr einseitig. Man verzichtet erneut darauf, dem Selbstverständnis der befragten Personen sozialadäquat nachzugehen. Hinweise auf ethnische Inszenierungen (“ethnic-theme-park”) werden ignoriert.
Der Umgang mit dem Quartier ist kein Zufall, sondern entspricht der zu dieser Zeit dominierenden politischen Stimmung, wo Einwanderung eigentlich abgelehnt und nur dann akzeptiert wird, wenn sie sich profitabel einfügt. Es ist eine fadenscheinige Würdigung, die besonders dann offenkundig wird, wenn man den Umgang mit einem andern Kölner Quartier, der Keupstraße, zum Vergleich heranzieht. In der Keupstraße hatten sich anders als im Eigelstein vor allem kleine Geschäfte in einem extrem sanierungsbedürftigen Arbeiterquartier niedergelassen. Sie wird zur gleichen Zeit als Parallelgesellschaft skandalisiert. Ihr wird kein Photoband gewidmet. Stattdessen wird sie am Ende sogar das Ziel für einen NSU-Anschlag. In beiden Fällen dominiert tatsächlich ein einwanderungs- bzw. diversitätsfeindliches, rassistisch imprägniertes Weltbild, nur dass es einmal positiv und einmal negativ konnotiert wird. Die Würdigung des Eigelsteins ist ein klassisches Beispiel für positiven Rassismus, wie wir ihn zur gleichen Zeit auch aus anderen Kölner Quartieren kennen (Bukow 2013:91). Die breite Bevölkerung hat in diesem klischeehaften bürgerlichen Erfolgsnarrativ genau sowenig eine Existenzberechtigung wie zur Zeit der funktionalistischen Phase.
Dritte Phase: Eine ökologisch verbrämte neonationalistisch-postrassistische Dekonstruktion
Trotz der politischen Debatten hat sich die Situation vor Ort letztlich bis heute nicht verändert. Das Quartier ist trotz allem nach wie vor sozio-kulturell wie ökonomisch divers und funktional gemischt. Und die Stadt lässt das Quartier weiterhin eher links liegen. Dieses Mal ist es ein Interessenverband, seit 2015 der “Bürgerverein Kölner Eigelstein e. V”, der die politische Debatte auf das Quartier zurücklenkt. Dabei knüpft man an das alte politische Narrativ an, die ökonomische Kraft des Quartiers durch eine radikale Funktionsentmischung und eine autogerechte Anbindung der Geschäfte zu steigern und gleichzeitig Armut, Prostitution und sanierungsbedürftige Bausubstanz zu reduzieren. Nur dass man das Narrativ erneut “modernisiert”.
Eine besonders typische Kampagne stellt der “Hilferuf Weidengasse” vom April 2021 dar. Es handelt sich um eine kommunalpolitische Erklärung, eigentlich ein politisches Pamphlet über die “Abwärtsentwicklung des Quartiers”, eine Unterschriftensammlung und eine ergänzende Müllaktion. In einem Rundschreiben des Bürgervereins vom 29. April 2021 wird dieser “Hilferuf Weidengasse” in einer Kurzversion besonders plastisch1:
‘Wir Anwohner der Weidengasse und des Eigelstein-Viertels lieben seit Jahrzehnten das internationale Flair unseres bunten Veedels. Ungeachtet dessen beobachten wir seit einigen Jahren mit wachsender Sorge eine unkontrollierte Abwärtsentwicklung besonders der Weidengasse. Hauptprobleme sind schon seit Jahren die extrem giftigen Holzkohleabgase der Grillrestaurants und die Vermüllung des ganzen Veedels durch die auswärtige Kundschaft der Take-Away-Imbisse…’
… Wir haben gestern unseren „Hilferuf Weidengasse” mit sensationellen 235 Unterschriften an Bezirksbürgermeister Andreas Hupke geschickt…”.
In dem ausführlicheren Hilferuf werden die Anschuldigungen noch drastischer präsentiert als in der Kurzfassung. Hier wird über die “extrem giftigen Abgase” der lokalen Grillrestaurants und über achtlos fallen gelassenen Müll geklagt und es werden die Kunden beschuldigt, sich sehr aggressiv und asozial zu verhalten. Der Verein will auf die “problematischen Zustände” aufmerksam machen und vor allem vor einer “unkontrollierten Abwärtsbewegung besonders der Weidengasse warnen”. Und zudem wird über den Zustrom an auswärtiger Kundschaft geklagt, die angelockt werde und die für den Abwärtstrend des Quartiers ganz besonders verantwortlich sei (“türkische Restaurants” lockten “türkische” Kundschaft an, das Quartier verkomme). Es ist die schon aus der Keupstraßendebatte bekannte Polemik, die hier freilich “hochmodern” mit Umwelt- und Verkehrsbelastungsargumenten angereichert reaktiviert wird.
Bemerkenswert an dem Hilferuf ist nicht nur, dass nur vereinsintern zur Unterschrift aufgerufen wurde. Es wird auch behauptet, dass hier 235 Unterschriften sensationell seien und unterstellt, dass damit faktisch das ganze Viertel unterschrieben habe: “die Anwohner der Weidengasse und das ganze Eigelsteinviertel”. Allerdings ignoriert man, dass sich eine ganze ignorierte Bevölkerungsgruppe kritisch zu Wort meldet:
“Wir erklären als Anwohner und Betroffene, dass der Bürgerverein Eigelstein e.V. nicht in unserem Namen spricht und handelt. Das gilt auch für Meinungen und Aktionen des Bürgervereins. Durch die Folgen der völlig undurchdachten Fußgängerzone im Eigelsteinviertel sehen wir uns zu diesem Schritt gezwungen. Das gilt ebenso für die konfrontative Haltung (u. a. Planung einer Straßenblockade) des Bürgervereins gegenüber der Gastronomie in der Weidengasse”
Es geht sogar so weit, dass die Gegenaktion der türkischen Community selbst in den öffentlichen Verlautbarungen der Stadtverwaltung unterschlagen wird.
Damit wird plastisch, dass hier eine völlig selbstverständlich verwendete bio-deutsche Perspektive dominiert, in der eine allochthone Bevölkerung überhaupt nicht als Community in Betracht gezogen wird. Sie wird noch nicht einmal ernst genommen, als sie sich kritisch zu Wort meldet. Das geht soweit, dass man in Zusammenhang mit dem Hilferuf Weidengasse drei bekannte Persönlichkeiten mit Migrationshintergrund wie Schaustücke vorführt, um damit dem “Verdacht der Ausländerfeindlichkeit” vorzubeugen.
Die eigentliche Pointe des Hilferufs besteht in der Formulierung eines Narrativs, in dem die aktuelle Debatte über Schadstoffbelastungen von Innenstädten nur benutzt wird, um sich Gehör für die Quartierpolitik zu verschaffen. Anders als vor zwanzig Jahren, wo man sich noch darum bemüht hat, zwischen einer angeblich assimilationswilligen, erfolgreichen und einer angeblich integrationsfeindlichen, ja kriminellen Einwanderung zu unterschieden zielt man jetzt auf eine ökologisch verbrämte in Wahrheit neonationalistisch- postrassistischen Dekonstruktion des Quartiers.
An den hier skizzierten drei Phasen lässt sich erkennen, dass Stadtentwicklung eigentlich eines klugen Zusammenspiels zwischen der Stadtverwaltung und der Zivilgesellschaft bedarf und man dabei die Grundeigenschaften urbanen Zusammenlebens, die lokale Vielfalt, die funktionale Mischung und die Bedürfnisse der Bevölkerung nicht nur respektieren, sondern auch nachhaltig weiter entwickeln muss. Überlässt man die Quartierentwicklung Lobbyisten, in diesem Fall einer bio-deutschen neonationalistisch orientierten Bevölkerungsgruppe, so besteht die Gefahr, dass rein national-ökonomische Interessen dominieren und automatisch die große Mehrheit der Bevölkerung, ihr Recht auf Stadt auf der Strecke bleibt und das ganze dann auch noch “urban” schöngefärbt (urban labeling) wird. Die Anderen werden schrittweise zu Opfern und das Publikum schrittweise zu Mittätern gemacht, um eine andere neonationalistische gesellschaftliche Wirklichkeit zu implementieren. Es ist eine bio-deutsch zentrierte, tatsächlich post-rassistische Kampagne.
Literatur:
Bukow, Wolf-Dietrich (2013): Über die Schwierigkeiten einer Stadtgesellschaft, sich in der Postmoderne auf einen zunehmend globalisierten Alltag einzustellen. In: Wolf-Dietrich Bukow, Markus Ottersbach, Sonja Preissing und Bettina Lösch (Hg.): Partizipation in der Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden: Springer VS, S. 69-106.
Bukow, Wolf-D.; Yildiz, Erol; Rolshoven, Johanna (2022) (Hg.): (Re-)Konstruktion von Urbanität Wisbaden VS-Verlag (im Druck)
Chargesheimer; Böll, Heinrich; Wirdeier, Eusebius (2007): Unter Krahnenbäumen. Bilder aus einer Straße. Köln: Schaden-Verlag.
Schroeder, Manuel; Schönig, Werner (Hg.) (2008): Objekt Eigelstein. Sozialfotografische Betrachtung eines Kölner Stadtteils. Opladen, Farmington Hills: Budrich.
*Es handelt sich um die Zusammenfassung einer Studie, die demnächst unter dem Titel “Die Dekonstruktion eines urbanen Quartiers am Beispiel des Eigelsteinquartiers in Köln” erscheint (Bukow 2022)
- Wennemar, Burkhard (RTL NEWS) (mailto:Burkhard.Wennemar@rtl.de) vom 29.4.2021 ↩