Im Januar 2022 jährte sich die Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942 zum 80-zigsten Mal. Aufgabe dieser Konferenz ist die Organisation der Vernichtung der europäischen Juden gewesen. Die mediale Erinnerung an diese Terrorveranstaltung verlief nüchtern – dokumentarisch, geradezu sachlich. Die Problematik dieser Art der historischen Entsorgung wird sichtbar an ihrer Sachlichkeit. Denn um welche „Sache“ ist es gegangen? Kann man die Vernichtung von sechs Millionen Juden als „Sache“ bezeichnen? Das Dokumentarspiel bleibt ambivalent: Die „Banalität des Bösen“ (Hannah Arendt) ist deshalb so erschreckend, weil die Handelnden nicht mehr wissen und spüren, was sie tun.
Ein bemerkenswerter Aspekt dieser Konferenz ist gewesen, dass sie wie ein Bildungsgipfel der Zeit aus der Vulgarität der „Bewegung“ herausragte. Eine knappe Mehrheit der Mitwirkenden, 8 von 15 Teilnehmern, war promoviert. Es handelte sich dabei überwiegend um Juristen, nur eine Person war in Staatswissenschaften promoviert, eine andere hatte nach einem weltweiten Studium den Dr. phil. erworben. Von den sieben nichtpromovierten Teilnehmern hatten zwei ein juristisches Studium abgeschlossen, zwei weitere hatten zumindest die höhere Schule besucht, einer der beiden (Heydrich) auch das Abitur erworben. Nur drei Teilnehmer hatten die höhere Schule nicht besucht.
Auch wenn die Bildungsstatistiken für die Zeit des Krieges wenig aussagekräftig sind, so kann man gut informiert auf das Jahr 1938 blicken: 9,3 % aller 13-Jährigen haben die höhere Schule besucht, 4,3 % der männlichen und 1,2 % der weiblichen Schulabgänger haben die Schule mit der Hochschulreife abgeschlossen. 1938 studierten im Deutschen Reich 41.000 Personen, 2.800 Promotionen wurden vollzogen.
Für Heinz-Joachim Heydorn wären diese Daten und die Zusammensetzung der Wannseekonferenz keine Überraschung gewesen. Er hält einerseits an einer Qualität des Bildungsbegriffs fest, die sich durch die gesellschaftlichen Verhältnisse hindurch, nicht an ihnen vorbei, durch Entdeckung ihres emanzipatorischen Gehalts sowohl für das Individuum wie für die Transformation der Gesellschaft ergeben kann. Andererseits analysiert er den tatsächlichen Zusammenhang von Bildung und Herrschaft. Genau dies lässt sich an den hohen Qualifikationen durch Zertifikate des Bildungssystems, wie sie in der Wannseekonferenz deutlich werden, zeigen. Die krudeste Form des Zusammenhangs ist bei dieser Veranstaltung sichtbar geworden. Darauf zielte die Analyse Heydorns ab.
Aber das ändert nichts daran, dass „Bildung“, gemessen an Bildungssystemabschlüssen, als das Reich der Vervollkommnung des Menschengeschlechts gepriesen wird: „„Die vergangenen 150 Jahre der Entwicklung von Bildung und Wissenschaft, und im Besonderen die letzten 60 Jahre, lassen sich insgesamt unter zwei Gesichtspunkten zusammenfassen. Sie stellen eine Erfolgsgeschichte dar, weil das allgemeine Bildungsniveau sehr stark gestiegen ist, mit den positiven Folgen, die Bildung für die Individuen und die Gesellschaft hat: mehr Selbstverantwortung, mehr Wohlstand, mehr Toleranz, mehr Friedfertigkeit.“ Doch auch der Bildungsstatistiker, der die historischen Daten ausgewertet hat, kommt nicht umhin, „Schwachstellen“ zu bemerken: „Sie [die vergangenen 150 Jahre] zeigen aber auch, dass trotzdem die soziale Schichtung in Bezug auf die Bildungsabschlüsse hartnäckig stabil geblieben ist, das Wachstum also nicht in gleichem Ausmaß zu besseren Chancen für Bildungsaufstiege geführt hat.”1
Bildung wird trotz aller empirischer Ambivalenzen als Heilmittel gegen alle Übel der Welt heroisiert: „Bildung soll die Persönlichkeit entwickeln und ein erfülltes Leben ermöglichen. Bildung soll gut ausgebildete Fachkräfte für den Arbeitsmarkt bereitstellen und unsere Wirtschaft wettbewerbsfähig halten. Bildung soll Frieden und Demokratie sichern und unser kulturelles Wissen über die Generationen weitergeben …“ Mit diesen Euphemismen wird ein „Dossier“ der Bundeszentrale für politische Bildung eröffnet. Nicht genug der Anforderungen: Bildung soll den ganzen Kontinent Afrika entwickeln, Bildung soll die sozialen Gegensätze überwinden und solidarisches Handeln fördern. Es gibt nichts Gutes auf der Welt, das nicht mit Bildung in Verbindung gebracht wird.
In der Basislegitimation der kapitalistischen Gesellschaft ist nicht der Abbau von Ungleichheit das zentrale Konstrukt, sondern die Behauptung des individuellen Aufstiegs durch Bildung. Das ist nach wie vor der Kern bundesdeutscher Bildungspolitik, wie es sich in den Programmen der Parteien nachweisen lässt2. Die relationale Größe des „Aufstiegs“ ist nicht nur das Bewährungskriterium der individuellen Anstrengungen, sondern mehr noch der gesellschaftlichen Bewertung. Konkurrenz um das, was nicht alle erreichen können, und um das, das im Aufstieg immer weniger nur erreichen können, pervertiert den Bildungsprozess zum Laufen im Hamsterrad. Aus ihm gibt es nur „Fluchtversuche“, wie Heydorn melancholisch festhält.
Diese Beobachtung ist wesentlich altbacken, nämlich das Selbstverständliche jeder einigermaßen kritisch angesetzten Bildungsuntersuchung. Doch es gibt Kontinuität, auf die hinzuweisen ist. So manche Daten verdienen mehr Aufmerksamkeit. Im 18. Deutschen Bundestag verfügte die AFD bei ihren Parlamentariern mit 5 % Habilitierten über eine einsame „Bildungsspitze“, während die SPD sich mit einem Prozent zufriedengeben musste. Die Anteile der Habilitierten bei der FDP lagen bei drei Prozent. Im 19. Deutschen Bundestag dokumentiert „Statista 2022“ den Anteil der Bundestagsabgeordneten mit Doktor- oder Professorentitel ebenfalls. Hier ragen die CSU mit einem Anteil von 21,7% und die AFD mit 20,7% heraus. Bildung und Herrschaft eben.
Die Heilige Kuh der Bildungspolitik ist aber gegenwärtig neben dem Versprechen des sozialen Aufstiegs durch Bildung die „Digitalisierung“ von Schule, Hochschule und Weiterbildung. „Die Ausbreitung digitaler Medien in der Welt wird auch an unseren Schulen nicht aufzuhalten sein. Um im internationalen Bildungswettbewerb auch in Zukunft mithalten zu können, ist es umso wichtiger, die Einführung digitaler Medien an Schulen ernst zu nehmen und diese schnellstmöglich umzusetzen.”3
Doch wem dient die schnellstmögliche Umsetzung außer denen, die die Technik der Digitalisierung produzieren und verkaufen? Und ist das Ergebnis der digitalisierten Schule mehr als Kontrolle und Steuerung? Werden die Lehrkräfte nicht einfach de-professionalisiert und die Schüler und Schülerinnen an den Tropf der Unselbständigkeit gehängt? Die pädagogisch gemeinten Versprechen drücken sich allenthalben um die harte Logik der digitalen Technik. Es gibt viele Antworten auch zu diesen Fragen. Doch der „technologische Totalitarismus“ setzt sich durch.4 „Schnellstmöglich“ – das ist der Zwang von Wachstum, Beschleunigung und Innovation, der Dreifaltigkeit der Kapitalvermehrung.
„Die Aufhebung aller Unterdrückung“ ist auch bei Heydorn eine Vorstellung, die seine Untersuchung anleitet. Doch sind die Ergebnisse seiner Untersuchung und die anstehende Digitalisierung gleichzeitig so mächtig, dass diese Vorstellung illusionär erscheint. Aber von welchem Standpunkt aus kann diese Wirklichkeit kritisiert werden, wenn die Bildungstheorie verschwunden ist? Mag sie auch nur in den Studierstuben der Erziehungswissenschaft betrieben werden, ohne sie kann doch kein kritisches Licht auf die Realität geworfen werden. Und in diesem Lichtschein finden alle die eine Orientierung, die sich dem Zwangszusammenhang von Bildung und Herrschaft nicht unterwerfen wollen. Dabei bedarf der Bildungsbegriff eine stärkere Bindung an den Begriff der Humanität, damit zwischen konkurrierender Individualisierung und Technologiehörigkeit Raum für soziale Bildung und „Gewohnheiten des Herzens“ entsteht.
- Daten und Zitate aus: Rahlf, Thomas (Ed.) (2015): Deutschland in Daten. Zeitreihen zur Historischen Statistik, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn (Zitat S. 72). http://www.bpb.de/shop/buecher/zeitbilder/211002/deutschland-in-daten). ↩
- Bkz.: Franz Hamburger: Deutschland armes Bildungsland – Schule und Bildung in den Wahlprogrammen von Parteien. Erscheint in: Schule zwischen Stagnation und Wandel, hrsg. von Yalız Akbaba und Laura Fuhrmann, Wiesbaden: VS Verlag 2022 ↩
- https://schultech.de/digitale-medien-im-unterricht-pround-contra/ 16.9.2021 ↩
- Ralf Lankau: Digitalisierung als Heilslehre. https://opus.hs-off enburg.de/frontdoor/deliver/index/docId/2539/file/lankau_sib_2017.pdf/ 10.6.2022 ↩