Havva Engin, Pädagogische Hochschule Heidelberg
Ein Essay
Deutschland hat nahezu ein halbes Jahrhundert benötigt, um sich auch politisch als Einwanderungsgesellschaft zu akzeptieren. Die lang andauernde Verweigerungshaltung hatte große Auswirkungen – sowohl auf die politisch-gesellschaftliche Position der Zugewanderten als auch auf die sprachlichen Zuschreibungen für diese. Im Folgenden werden die diesbezüglichen historischen Entwicklungen entlang der gängigen Begrifflichkeiten nachgezeichnet, mit dem Ziel, die Dynamiken der Etikettierung und Identitätszuschreibung seitens der Aufnahmegesellschaft zu skizzieren.
Entwicklungslinie entlang gängiger Begrifflichkeiten
Der diachrone Blick beginnt in den 1960er Jahren, da die „Gastarbeiteranwerbung“ im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland bis heute den Beginn der „modernen“ Migrationsgeschichte markiert.
Es ist bekannt, dass die Bezeichnung „Gastarbeiter“ nicht zufällig gewählt wurde, sondern bewusst der Aufnahmegesellschaft die Botschaft vermitteln sollte, diese Menschen seien als „Gäste“ auf Zeit gekommen, um nach getaner Arbeit unverzüglich zurückzukehren. Dabei hatte Deutschland bereits im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Kontakt bzw. Erfahrungen mit ausländischen Arbeitskräften, beispielsweise ab 1890 mit polnischen Arbeitern, die in großer Zahl ins Rheinland und Ruhrgebiet kamen, um im Bergbau und in der Stahlindustrie arbeiteten, oder mit italienischen Fremdarbeitern, die zwischen 1938-1943 einreisten, um in Nazi-Deutschland in der Stahlindustrie eingesetzt zu werden. Interessanterweise ist im kollektiven Gedächtnis die Erinnerung an diese Arbeitskräftezuwanderungen bis heute recht blass und verbleibt im Schatten der „Gastarbeiteranwerbung“.
Als Anfang der 1970er Jahre auf Druck der Wirtschaft die Arbeitsverträge der Gastarbeiter entfristet wurden, nutzten letztere die Chance, ihre Familienmitglieder nachzuholen – die Gäste wurden sesshaft und damit in der Stadtgesellschaft sichtbar. Damit änderte sich auch ihr Status: man sprach nunmehr von „Ausländern“. Diese waren innerhalb der Bevölkerung wenig willkommen, so dass die Politik ab 1983 versuchte, sie durch finanzielle Anreize zur Rückkehr zu bewegen, was nicht ansatzweise gelang. In den folgenden Jahren stieg die Ausländerfeindlichkeit in der Gesellschaft weiter an, so dass Gewerkschaften Solidaritätskampagnen wie „Mein Kumpel ist Ausländer!“ starteten.
Mit dem Fall der Mauer wurden die „Gastarbeiter“ der DDR, aus Vietnam und Mosambik, als neue Zuwandergruppen ins wiedervereinigte Deutschland aufgenommen. In diesen Jahren bürgerte es sich ein, die Zugwanderten über ihr Herkunftsland zu beschreiben: man sprach von „Türken“, „Vietnamesen“ oder „Jugoslawen“.
Der Terroranschlag vom 11.September 2001 bedeutete wiederum eine Zäsur: eine große Zahl an Zugewanderten wurde plötzlich über ihre religiöse Zugehörigkeit „adressiert“. Es entstand die Kategorie „Muslim“, die bis heute als eine der wirkmächtigsten gilt.
Bereits einige Jahre später, konkret 2005, wurde in Deutschland eine neue Bezeichnung für Zugewanderte eingeführt: „Menschen mit Migrationshintergrund“. Diese wurde unter anderem geschaffen, weil im Zuge der Teilnahme an Bildungsstudien wie PISA und TIMSS offenbar wurde, dass eine in internationaler Perspektive ausgewiesene Schülergruppe – Schüler mit Migrationshintergrund – in Deutschland nicht existierte, da bis zu diesem Zeitpunkt deren Passzugehörigkeit die leitende Erfassungskategorie darstellte.
Dieser Umstand trug mit dazu bei, dass in der repräsentativen Bevölkerungsstichprobe des Mikrozensus 2005 zum ersten Mal der Migrationshintergrund der Teilnehmenden erhoben wurde, der sich am Geburtsort und an der nichtdeutschen Passzugehörigkeit der jeweiligen Person bzw. der seiner Elternteile orientierte.
Zwischenzeitlich ist der „Migrationshintergrund“ zur Leitkategorie für die „Einordnung“ eines Großteils von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte geworden und wird ganz selbstverständlich in den unterschiedlichsten Kontexten, wie beispielsweise in Schulstatistiken, administrativen Dokumenten, aber auch in der Politik verwendet.
Aktuell steht die Kategorie stark in der Kritik. Menschen, die als „Migranten“ bezeichnet und kategorisiert werden, werfen ihm inhaltliche Unschärfe vor, weil er zum einen eine sehr heterogene Gruppe von Menschen unterschiedlichster Generationenfolge umfasse und insofern Präzision vermissen lasse, zum anderen immer mehr zu einem Instrument der politischen, zivilgesellschaftlichen und pädagogischen Ausgrenzung geworden sei und damit Partizipation und Teilnahme verhindere.
Festzuhalten bleibt, dass die genannten begrifflichen Zuschreibungen nicht losgelöst von politischen Entwicklungen und Maßnahmen sowie gesellschaftlichen Reaktionen betrachtet werden können, präziser formuliert: die Begriffe sind aus gesellschaftlichen Reaktionen auf Schlüsselereignisse entstanden. Beispielhaft sei auf die Änderung der sozialen und rechtlichen Platzierung von Zugwanderten verwiesen, als diese sich mit ihren Familien im Land niederließen, insofern sie nicht mehr über ihre „soziale Klasse“, nämlich „Arbeiter“ „gelesen“ werden konnten, sondern nunmehr über ihre Passzugehörigkeit als „Ausländer“ bestimmt wurden.
Auch die gesellschaftliche Reaktion auf den 11. September zeigt, dass der Zuschreibungswechsel für einen großen Teil von Zugewanderten sehr schnell ging, insofern als dass ihre muslimische Religionszugehörigkeit rasch zur dominierenden Kategorie wurde, welche sich bis in die Gegenwart hält.
Mit der Kategorie „Migrationshintergrund“ tun sich dagegen viele „Einheimische“ schwer, wahrscheinlich weil sie als „demografische Kategorie“ abstrakt bleibt. Daher wird in unterschiedlichen Kontexten weiterhin von „Ausländern“, „Asylanten“, „Türken“, Osteuropäern, „Muslimen“ gesprochen – je nachdem, welche Zuschreibung für den Anlass und Situation passend bzw. erklärend erscheint. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass in Zukunft weitere Dynamiken hinsichtlich der begrifflichen Zuordnung bzw. die Kategorisierung von Zugewanderten zu erwarten sind.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Bezeichnungen und gesellschaftlichen Zuordnungen von Zugewanderten im Laufe der letzten sechzig Jahre anhand unterschiedlicher Konstruktionen vorgenommen wurden, beginnend mit der Platzierung über die soziale Schichtzugehörigkeit („Gastarbeiter“), gefolgt von der Passzugehörigkeit („Ausländer“), der Herkunftsethnie („Türke“, „Vietnamese“), der Religion („Muslim“) und dem Geburtsort plus Passzugehörigkeit („Migrationshintergrund“).
Diese Kategorien verfolgen ausschließlich das Ziel, Differenzen zu erschließen und stellen Unterschiede in den Mittelpunkt, in der Form, dass immer wieder neue Kategorien kreiert werden, um die Fortdauer des „Andersseins“ der Zugewanderten in gesellschaftlichen und politischen Kontexten legitimieren zu können – trotz des andauernden Widerstands der Adressierten, die sehr wohl den ausgrenzenden und diskriminierenden Impetus dieser „Etikettierungen erkennen.