Wenn sich Parlamentarier/innen zu Hunderten eng nebeneinander ohne Masken ablichten lassen, aber Demonstrationen aufgrund solcher Bilder verboten werden, wenn Regierungspolitiker in Deutschland sich mit Dutzenden zum Dinner treffen oder in der Türkei mit tausenden von Anhängern auf Parteiveranstaltungen (vgl. HR-Inforadio v. 1.3.2021), aber zugleich ihrer Bevölkerung ein strenges Verhaltensreglement auferlegen, schadet das nicht nur der Pandemiebekämpfung und dem Infektionsschutz, sondern auch dem Vertrauen der Bevölkerung in ihre Regierenden. Wenn dann der Bundesgesundheitsminister z.B. ständig mit sog. Charaktertests und Charakterfragen erziehen möchte, aber anscheinend nicht einmal selber den „Charakter“ hat, das Restaurant zu informieren, in dem er drei Tage vor seiner Positivtestung gesessen hat, wäre auch das kein besonders charaktervoller Infektionsschutz. Und auch seine Quarantäne in einer Dahlemer Millionenvilla sah sicherlich obendrein etwas komfortabler aus als die von betroffenen Kindern in engen Hochhaussiedlungen von Berlin-Marzahn oder Wedding. Auch das sollte nicht ignoriert werden. Wir sollten in all diesen Fragen die soziale Ungleichheit und die soziale Frage nicht vergessen. Unterschiedliche Maßnahmen wirken auf unterschiedliche Gruppen auch unterschiedlich.
Neoliberalismus noch nicht am Ende
Wie auch der Philosophieprofessor an der Frankfurter Goethe-Universität, Martin Hartmann in der Frankfurter Rundschau vom 27. Oktober 2020 hervorhebt, sollte nicht vergessen werden, „dass der coronabedingte Lockdown im Frühjahr (2020; M.K.) zu Lasten der Familien und damit vor allem der Frauen ging“ (FR v. 27.10.2020). Soviel scheint zumindest den meisten klar zu sein. Allerdings macht Hartmann auch darauf aufmerksam, dass der inzwischen von Wirtschaftskrise zu Wirtschaftskrise immer wieder für gestorben und erledigt geglaubte Neoliberalismus sowohl ideologisch als auch materiell wesentlich stärker zu sein scheint ist, als viele meinen. Der Irrtum, dass Neoliberalismus angeblich nichts mit sich verschuldendem, starkem, autoritärem Staat und Konservatismus zu tun habe, gehört wahrscheinlich zu seinem Gründungsmythos und zu seinen Erfolgsbedingungen, wonach es dem Neoliberalismus angeblich ausschließlich um die individuelle Freiheit gehe. Denn das war von Anfang an nicht so.
Das Gründungsdatum des modernen Neoliberalismus ist nicht umsonst der 11. September 1973. An diesem Tag putschte der von der CIA und der US-Regierung unterstützte General Pinochet den demokratisch gewählten Präsidenten Allende weg und installierte eine Militärdiktatur. Sie sorgte dafür, dass alle Oppositionellen in Lager gebracht, gefoltert und ermordet werden, während die Schüler des neoliberalen Ökonomen Milton Friedman aus Chicago nun ohne organisierten Widerspruch und Widerstand durch Gewerkschaften und Linke eingeladen wurden, die chilenische Gesellschaft vollständig marktradikal umzukrempeln (vgl. Klein 2007, S. 18f.). So sorgten sie mit dem Diktator nicht nur für die Privatisierung des gesamten Bildungssystems und der Altersversorgung, sondern auch für eine rechts-autoritäre Verfassung (welche durch die große Mehrheit in einer Volksabstimmung im Jahre 2020 endlich zur Disposition gestellt wurde). Mit „Freiheit“ der Mehrheit der Bevölkerung hatten diese faschistoide Militärdiktatur und ihre Freunde sowie Nachahmer in Washington (Reagan), London (Thatcher) sowie Bonn bzw. München (Kohl bzw. Strauß) selbstverständlich nichts im Sinn, doch der neoliberalen „Erzählung“ tat das kaum einen Abbruch. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass die neoliberalen Kräfte in Wirtschaft, Politik, Medien und Wissenschaft selbst mit der Corona-Krise keineswegs ins Straucheln geraten sind. Wie Hartmann schreibt, dürfte der Neoliberalismus auch heute noch „deutlich resilienter sein, als manche seiner Gegner glauben und manche seiner Anhänger uns glauben machen wollen.“ (ebd.)
Wie Barbara Supp schon im Spiegel v. 6.2.2012 schrie, gibt es zum Beispiel aus neoliberaler Sicht eine regelrechte „Verschuldungs-Strategie“ (z.B. mittels Hochrüstung; s. Reagan, Trump usw.), um (Sozial-)Staaten danach zu rabiater Kürzungs- und Privatisierungspolitik zu zwingen. Diese neoliberale „Strategie der leeren Kassen“ veranschaulicht Supp am Beispiel des ranghohen deutschen Wirtschaftswissenschaftlers Herbert Giersch. „Dringend, schrieb in den neunziger Jahren so ein mehr in Wirtschaftskreisen bekannter Experte, müsse der Staat an Macht verlieren. Dagegen sei Widerstand zu erwarten. Zu lösen sei das Problem, indem man beispielsweise Steuern senke. Man brauche ‚das Diktat der leeren Kassen‘. Man brauche ‚ein Defizit, das als anstößig gilt‘. so könne man den Staat beschneiden. Ganz unverblümt steht es da: Nicht aus Notwendigkeit solle der Staat machtloser und ärmer werden, sondern aus Prinzip. Der das schrieb, war kein Exot. Es war Herbert Giersch, ein vor anderthalb Jahren in hohem Alter verstorbener Wissenschaftler, der jahrzehntelang als ‚Doyen der deutschen Volkswirtschaft‘ galt. Er war Regierungsberater, Gründungsmitglied der ‚Fünf Wirtschaftsweisen‘, Direktor des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, prägender Lehrbuchschreiber und Ausbilder mehrerer Generationen von Ökonomen, die heute in Banken, Verbänden, Unternehmen zu finden sind. Einer der führenden neoliberalen Wirtschaftswissenschaftler, wie Thatcher ein Hayek-Anhänger, auf den sich ja jede klassische marktliberale, jede klassisch unternehmerfreundliche Politik beruft“ (Supp 2012, S. 56).
(Supp, Barbara (2012): Unbarmherzige Samariter. Wie Margaret Thatcher und ihre deutschen Schüler die marktkonforme Demokratie erschaffen haben. In: SPIEGEL Nr. v. 6. 2. 2012, S. 56–57).
Deren Folgen durfte dann auch bereits der Vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (2013) auflisten: „Während das Nettovermögen des deutschen Staates zwischen Ende 1991 und Ende 2011 um knapp 800 Mrd. Euro zurückging, hat sich das Nettovermögen der privaten Haushalte (einschließlich privater Organisationen ohne Erwerbszweck) nominal von knapp 4,6 auf rund zehn Billionen Euro mehr als verdoppelt − im Verhältnis zur jeweiligen Wirtschaftsleistung stieg es in diesem Zeitraum vom Drei- auf das Vierfache.“ (BMAS 2013, S. 49). Dass die zukünftige Bundesregierung diesen Privatisierungs-Wahn fortzusetzen gedenkt, zeigt sich schon jetzt an Planungen, die Gelder der gesetzlichen Renten an der Börse spekulieren zu lassen oder Konzepten zur Privatisierung (von Teilen) der Deutschen Bahn.
Auch die Regierungsmaßnahmen der letzten anderthalb Jahre verbleiben trotz aller Investitionspakete weiterhin im Rahmen einer neoliberalen Organisation sozialer Ungleichheit zugunsten weniger und zu Ungunsten sehr vieler Menschen. Wenn z.B. Millionen von Menschen bis zum Ende des Jahres 2020 immer noch keine von der Bundesregierung versprochenen Fördermittel und Hilfspakete erhalten hatten, aber unterdessen große Konzerne bereits mit Milliarden von Euros unterstützt wurden, so drückt dies eine ebensolche Schieflage aus. Wenn zudem staatlich geförderte Großunternehmen zehntausende von Beschäftigten in von der Solidargemeinschaft mitfinanzierte Kurzarbeit schickten, aber zugleich Milliarden an Dividenden an ihre Großaktionäre defacto von den Steuer- bzw. Beitragszahler(inne)n finanzieren ließen, deutet sich das gleiche neoliberal strukturierte Muster der Privatisierung von Gewinnen und Sozialisierung von Verlusten an. Wenn zudem die Bundesregierung zum Beispiel die Bedingungen in Kitas und Schulen (Belüftungsmängel und täglich volle Schulbusse, während Reisebusse ungenutzt herumstehen) sowie außerschulischen Bildungseinrichtungen (z.B. der offenen Jugendarbeit) nicht deutlich verbesserte, wenn sie in Krankenhäusern und Pflegeheimen, im öffentlichen Personenverkehr und in der Arbeitswelt (z.B. der Fleischindustrie) keine deutliche Korrektur erwirkte, aber zugleich tagtäglich alleine an die private Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger appelliert, um die Corona-Krise zu bewältigen, so wird fortsetzend nach dem neoliberalen Prinzip der Privatisierung aller sozialer und gesundheitlicher Risiken geredet, gehandelt und verordnet. Jede/r ist demnach seines/ihres gesundheitlichen Glückes Schmied/in. Dazu passte dann auch, dass in pseudonostalgischen Werbefilmchen der Bundesregierung (aus der Zukunft ins Jahr 2020 wie in Kriegszeiten an die „Front“ zurückblickend) auf fast allen Fernsehsendern im November 2020 unter dem Slogan „besondere Helden“ (offenbar an sog. Kriegshelden anspielend) für das Zuhause-bleiben junger Erwachsener geworben wird (vgl. https://www.youtube.com/watch?v=krJfMyW87vU). Die jungen Menschen wurden dabei aufgefordert, mit Fast Food und Cola vor dem Fernseher zu „verschimmeln“, während weder die Sorgen wirklicher junger Erwachsener um ihren Ausbildungs- oder Arbeitsplatz und ihren Lebensunterhalt, noch die Sorgen derjenigen (meist jungen Leute) berücksichtigt wurden, die das Schnell-Essen herstellen, zubereiten und liefern sollten, welches die „besonderen Helden“ vorm Fernseher verzehren.
Der Professor für Politikwissenschaft am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), Wolfgang Merkel, erläutert in einem Interview mit der Zeit vom 15. Oktober 2020, wie die Epidemiologie mit Hochrechnungen über den Pandemieverlauf arbeite, die sie in verschiedene Szenarien von harmlos bis besonders schlimm einteile. »Die Politik wiederum«, so Merkel, »orientiert sich dann vor allem an den Worst Cases, den schlimmsten Szenarien, weil sie diese ja unbedingt verhindern muss, der humanitären Sache wegen – und um nicht abgewählt zu werden. Deshalb ist den Regierungen auch nicht der Virologe Hendrik Streeck, der eher für moderate Eingriffe ist, die wissenschaftliche Referenz, sondern der pessimistischere Christian Drosten. Mit dessen Sichtweise lassen sich harte Eingriffe viel besser begründen. Aus dieser Spirale ergibt sich eine Übervorsicht, eine Tendenz, die Freiheit lieber einmal zu viel einzuschränken aus Angst, die Sicherheit sonst zu gefährden«. Über die dabei voranschreitende Exekutivorientierung durch Verordnungen und Entmachtung des Parlamentsvorbehalts hatte sogar der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier einige kritische Bemerkungen fallengelassen. In der Neuen Zürcher Zeitung vom 20. Oktober sagte er: »Auch wer die Gesundheit der Bevölkerung schützen will, darf nicht beliebig in die Grundrechte eingreifen«. Die Politik müsse die Maßstäbe ihres Handelns offenlegen, einen naturwissenschaftlichen Automatismus gebe es nicht, das Parlament solle aus dem Dämmerschlaf erwachen, und die Schieflagen in der politischen Debatte um das Coronavirus seien zu kritisieren.
Schockstrategie
Als ob es die Thesen aus Naomi Kleins im Jahr 2007 erschienenen Buch »Die Schockstrategie. Der Aufstieg des Katastrophenkapitalismus« noch einmal untermauern wollte, entwickelte unterdessen das Bundesinnenministerium (BMI) in einem geheimen Konzeptpapier die Strategie vom Frühjahr 2020, die Regierungsmaßnahmen gegen die Coronapandemie durch Schock und Angst in der Bevölkerung und besonders unter den Kindern zu verankern. Bei diesem BMI-Papier sollten insbesondere Kinder eine regelrechte Erziehung zur Angst vor qualvollem Großelterntod und damit verbundenen Formen von Schuldangst, Depressionen und Traumatisierungsfolgen erhalten. Wörtlich hieß es: »Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen (…) verdeutlicht werden: Wenn sie (die Kinder; M. K.) dann ihre Eltern anstecken und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, Schuld daran zu sein, (…) ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.«⁷ Zur Verständlichmachung der Regierungsmaßnahmen sollte dies den Kindern und ihren Eltern offenbar eingeredet werden. Naomi Klein hat eine solche sowohl militärisch als auch wirtschaftspolitisch angewandte Schockstrategie als Herrschaftsmethode im neoliberalen Kapitalismus begriffen, wodurch mit jeder neuen Katastrophe herrschende Klassen in Wirtschaft und Politik die Welt neu unter sich aufteilen können, während die mehrheitlich betroffenen Bevölkerungen sich meist – wie gelähmt – noch in buchstäblicher Schockstarre befinden. Erstaunlicherweise äußerte sich auch der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) während der Pandemie in ähnlicher Form, als er in der Neuen Westfälischen vom 20. August sagte: »Die Coronakrise ist eine große Chance. Der Widerstand gegen Veränderung wird in der Krise geringer«.
Allein der Verdacht, diese Vorgehensweise könnte womöglich auch tragendes Motiv für politische, wirtschaftliche und mediale Maßnahmen sein, trüge dem Verfasser solcher Zeilen den sofortigen Stempel „Verschwörungstheoretiker“ oder schlimmeres von Seiten verschiedenster regierungsfrommer Fraktionen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien ein. Nein, das würde ja unterstellen, dass wir in einer Gesellschaft leben würden, die von Herrschaft, kapitalistischer gar, und daher auch von Herrschaftsinteressen geprägt wäre. Und das wäre doch völlig unmöglich. Was, wenn es die Pandemie wirklich gäbe, aber trotzdem wirkliche Akteure und Interessensgruppen mit ihren selbstverständlichen kapitalistischen ökonomischen Interessen damit zu arbeiten gedenken? Doch das setzte ja fast voraus, dass zum Beispiel im Gesundheits- und Pharmasektor mitunter noch andere Interessen leitend wären, als die des Gemeinwohls und der philanthropischen Spenderstiftungen mit kreativer Steuervermeidungsstrategie. Das darf also nicht sein.
Deshalb muss, wer für wissenschaftliche, politische und mediale Pluralität und Kontroversität in der gegenwärtigen Pandemie-Debatte eintritt, noch lange nicht Corona für einen besseren Schnupfen halten. Insofern sind die Regierungsmaßnahmen auch nicht als „Corona-Diktatur“ oder gar „faschistische Diktatur“ anzusehen, wie manche „Querdenker“ zu glauben vorgeben, sondern vielmehr als Ausdruck eines sozial gespaltenen und autoritärer werdenden Kapitalismus, wobei die Pandemie recht deutlich macht, wer in der Gesellschaft lebenswichtige Tätigkeiten erfüllt, unter äußerst schäbigen Bedingungen (vgl. Butterwegge 2020a, S. 136ff.). Zu diesen immer wieder verleugneten Unverzichtbaren der werktätigen Klasse gehören z.B. diejenigen, die die Regale füllen, die Lkw abladen, die Bettlaken waschen, die Seniorinnen und Senioren versorgen, die Spargel stechen und Erdbeeren pflücken, die in den Geschäften bedienen, die die Tiere in Fleischfabriken zerlegen, die den Müll abholen, die Fabriken am Laufen halten, die Feuer löschen, die Kranken pflegen, die Busse und Bahnen fahren, die Flure putzen, die Kleinkinder versorgen usw. Es wäre sehr zu wünschen, dass sie sich als gemeinsame Klasse mit entsprechenden Interessen verstehen, organisieren und agieren – zum Nutzen aller.