Arme Menschen – oder noch schlimmer, arm, ungebildet und vielleicht auch noch kürzlich eingewandert – waren schon immer ein Risikofaktor für das Wohl der bessergestellten Mitglieder einer Gesellschaft, denn vom Plebs droht unentwegt der Untergang der Kultur. In neuerer Zeit droht der Untergang der Wirtschaft. Als aktuelles Desiderat droht nun der Untergang der Gesundheit, doch die nächste Apokalypse von unten kommt bestimmt. Es kommt daher vielleicht nicht von ungefähr, dass die sozialen und kulturellen Eliten Ethik und Moral wiederentdeckt haben – als Licht in der Dunkelheit, als Legitimationsfigur für die berühmten unpopulären Entscheidungen und natürlich als social marker.
Tugendhaftigkeit ist wieder angesagt, und ich denke, dass es höchste Zeit wird, dieses kulturelle Kapital gerade für Menschen anschlussfähig zu machen, die qua ihres soziokulturellen oder legalen Status erfolgreich von allen Entscheidungspositionen ferngehalten werden können, was ihnen völlig neue Chancen für eine Tugendkarriere mit hohem Distinktionspotential eröffnet. Passend zum Zeitgeist möchte ich daher ein Ritual vorschlagen, für das man lediglich Zugang zu einem Handy braucht. Ich nenne diese Tugendpraktik das „Unschuldsselfie“ und es geht beispielsweise so:
Wir stellen uns einen Menschen vor, der aus einem Land kommt, dessen Bildungsabschlüsse hierzulande höchstens aus Versehen anerkannt werden würden. Das Asylverfahren läuft, Deutsch lernt er auch, aber seine Kreditwürdigkeit ist nicht der Rede wert und als ihm jemand das Informationsblatt der Bundesregierung zu Existenzgründungen durch Migrantinnen und Migranten (GründerZeiten) in die Hand drückt, kann er darüber nur müde lächeln. Er wartet nun, bis es ihn durch Zufall oder eine amtliche Fehlleistung in eines der vielen Städtchen dieses Landes wie, sagen wir mal, Wolfsburg verschlägt. Dort spaziert er zur VW-Zentrale, sucht sich ein Plätzchen, von dem man ihn nicht sofort aus Gründen der öffentlichen Sicherheit vertreiben wird, stellt sich mit dem Rücken zur Konzernzentrale und macht ein Selfie. Mit ein bisschen Glück findet sich auf dem Foto das Büro, an das sich ein paar der Manager inzwischen nicht mehr erinnern können. Als dort damals jene Gespräche stattfanden, die es nie gegeben hat und jene Mails geschrieben wurden, die sie zu löschen vergaßen, hätte man so einen wie unseren imaginären Asylbewerber höchstens zum Putzen in die Nähe gelassen. Was dann passierte, nennt sich Dieselskandal, und bei allen diesbezüglichen Unklarheiten ist eines klar: Der Asylbewerber, der gerade das Selfie schießt, hätte so einen Schaden niemals anrichten können. Er schreibt daher in der Sprache seiner Wahl unter sein Selfie „Ich hätte das nicht so verbocken können, selbst wenn ich es gewollt hätte J “ und schickt es an seine Freunde. Das Spiel gewinnt, wer die meisten Unschuldsselfies hat, und die Gelegenheiten dazu sind zahl- und grenzenlos, wenn man erst mal weiß, wonach man suchen muss: Entscheider-Hotspots.
Um Gesundheit, Umwelt, Bildung und die Einkommen der abhängig Beschäftigten im großen Stil und auf qualitativ hochwertige Weise schädigen zu können, braucht es mehr als unrealistische Wunschvorstellungen und ein Quäntchen kriminelle Energie, das gerade mal zum Wegwerfen des Passes reicht. So etwas wie der Dieselskandal konnte nur von Leuten ausgeheckt und durchgeführt werden, die bestens ausgebildet waren, einen komplizierten Bewerbungs- und Auswahlprozess durchliefen, sich international vernetzt hatten und wussten, welches die richtigen Manschettenknöpfe sind. Nur vor diesem überdurchschnittlichen Bildungs- und Sozialisationshintergrund konnten sie so kompetent und umfangreich Schaden verursachen. Den hypothetischen Asylbewerber oder irgendwelche anderen bildungsdistanzierten Prekären hätte man niemals an diese Schalthebel der Macht gelassen.
Da könnte ja jeder kommen.