Noch niemals war die Risikogesellschaft so brisant wie heute. Die lange angestauten gesellschaftlichen Herausforderungen sind unübersehbar geworden. Die Bundestagswahlen am 26. September kommen eigentlich zum richtigen Zeitpunkt. Sie bieten eine optimale Chance, darauf zu reagieren und die politische Landschaft entsprechend nachhaltig zu verändern. Die Frage ist nur, ob bei den Wahlen tatsächlich auch die entsprechenden Konsequenzen gezogen werden.
- Bisher ist es doch immer wieder irgendwie gut gegangen
Lange hat man aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen entweder verdrängt oder auf die lange Bank geschoben. Die vom Club of Rome seit 1968 immer wieder ausgesprochene Warnungen vor den Grenzen des Wachstums wurden einfach verdrängt. Die von Ulrich Beck 1986 verfasste und später in 35 Sprachen übersetzte Arbeit über die Risikogesellschaft machte eine solche Verdrängung schon schwieriger. Hier wurde nämlich nicht nur erneut vor massiven gesellschaftlichen Risiken gewarnt, sondern sie wurden auch konkret benannt und erstmals durch zeitnahe Ereignisse schlaglichtartig belegt. Es war der Super‑GAU von Tschernobyl vom 25. April 1986, der ein erstes breiteres Umdenken einleitete. Im Jahr 1992 wurde dann die Agenda 21 beschlossen, ein damals von 178 Mitgliedsstaaten der UNO verabschiedetes Handlungsprogramm, das lokale Gemeinden und Regionen dazu bewegen sollte in Richtung Nachhaltigkeit aktiv zu werden. Damit wurde vor Ort einiges bewegt. Aber erst nach der Atomkatastrophe von Fukushima am 11. März 2011 wurde mit dem in vielen Ländern beschlossenen Ausstieg aus der Atomindustrie erstmals zumindest eine teilweise Umsteuerung der industriellen Entwicklung überlegt.
Eine dritte noch größere Herausforderung, nämlich der Klimawandel, hat zunächst nur zu einer Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC) mit dem Ziel eines breiten Klimaschutzes geführt. Sie wurde aber später mit dem Zusatzprotokoll von Kyoto zu einem Rahmenübereinkommen, das 2005 in Kraft getreten ist und wo erstmals völkerrechtlich verbindliche Zielwerte für den Treibhausgas‑Ausstoß B Hauptursache der globalen Erwärmung B in den Industrieländern festlegte wurde. Auch hier blieb es freilich bei eher vagen Absprachen und es kam nur zu einem sehr begrenzten und nur auf einzelne Felder beschränkten Wandel, nicht zu einem wirklich umfassenden und breit angelegten gesellschaftlichen Wandel. Tatsächlich wollten Länder wie Deutschland auf keinen Fall ihren seit langem eingespielten kapitalistischen Wachstumspfad verlassen und waren allenfalls dazu bereit technologische Veränderungen zuzugestehen. Ein gutes Beispiel ist dafür die schrittweise Substitution einer auf Verbrennungsmotoren basierenden Individualmobilität durch e-Mobilität, die dann natürlich auch wiederum jahrelang hinausgezögert wurde.
- Heute spitzen sich die Ereignisse dramatisch zu
Im Augenblick erleben wir, wie die gesellschaftlichen Risikolagen dramatisch zunehmen und wie sie dabei erstmals für alle unmittelbar sinnlich erfassbar werden.
- a) Das Klima wird unberechenbar, der Klimawandel wird erlebbar. Die Fridays-for- Future-Bewegung hat 2018 klar gemacht, dass ein Aweiter so@ zu einer Zerstörung unser aller Lebensgrundlagen führen dürfte und dass zudem viele Sekundäreffekte zu befürchten sind, z.B. die Zunahme globaler Fluchtbewegungen. Die junge Generation ist deshalb nicht länger bereit, eine solche Entwicklung einfach hinzunehmen.
- b) Die Corona-Pandemie, die alle seit 2020 weltweit bedroht, hat nicht nur gezeigt, wie gefährlich es ist, die Lebensräume von Tieren und Menschen miteinander zu verschmelzen, sondern vor allem auch, dass offenbar auch eine hochindustrialisierte Gesellschaft wie Deutschland nicht dazu in der Lage ist, in einer bedrohlichen Lage wirklich überzeugend und schnell zu handeln. Die mangelhafte Digitalisierung des Bildungssystems ist dafür ein klassisches Beispiel.
- c) Wer sich in europäischen Mittelgebirgen bewegt, der erlebt überall das Absterben ganzer Wälder. Und wer auch nur die Zeitung aufschlägt, der liest von sich global ausweitenden extremen Hitzewellen in Nordamerika, in Sibirien und im Mittelmerraum. Dabei werden bislang unbekannte Höchsttemperaturen gemessen. Und es kommt zu extremen, ganze Städte zerstörenden Bränden. Auch das weltweite Verschwinden der Gletscher und der auch damit verknüpfte Anstieg der Meereshöhe sprechen eigentlich eine klare Sprache.
Jetzt sollte man sich eigentlich nicht mehr erlauben können, die gesellschaftlichen Herausforderungen länger auszusitzen. Aber dennoch: Erst das Bundesverfassungsgericht musste klar machen, dass eine Prolongierung der Klima-Probleme auf dem Rücken zukünftiger Generationen nicht länger geht. Und erst immer neue Coronawellen zeigen, dass allmählich überzeugend und nachhaltig gehandelt werden muss. Und die jüngsten Überschwemmungen machen klar, dass kleine technische Lösungen nicht mehr ausreichen, um dem Klimawandel längerfristig zu begegnen.
Die Frage bleibt, ob selbst eine solche Zuspitzung an dramatischen Ereignissen wirklich zu neuen Einsichten führt. Tragen sie tatsächlich zu einem neuen und komplexitätsangemesseneren Politikstil bei? Wenn man sich die aktuellen Debatten vor den Wahlen anschaut, kann man durchaus skeptisch sein:
- a) Zunächst einmal gibt es ja nach wie vor diejenigen, die die schon seit langem erkennbaren und jetzt nicht mehr zu übersehenden längst global bedrohlichen gesellschaftlichen Herausforderungen einfach weiter leugnen. So macht es die AfD im Blick auf den Klimawandel und so machen es die teils anthroposophisch, teils rechtsradikal orientierten Corona-Leugner und Impfgegner im Blick auf die Corona-Pandemie. Sie beschwören eine fiktive Aheile Welt von gestern@ die AGanzheitlichkeit menschlichen Lebens@, die nur wieder hergestellt werden müsse. Beschwörungen bringen angeblich alles wieder in Ordnung.
- b) Sodann gibt immer noch diejenigen, die Aalles beim Alten lassen@ wollen, die z.B. angesichts des Desasters in Afghanistan auf jeden Fall vermeiden wollen, dass nach Deutschland neue Flüchtlinge kommen. CDU und SPD erklären sogar unisono, sie wollten auf jeden Fall Aeine neuen Oktober 2015″ verhindern. Man ist hier nicht einmal bereit in einer globalisierten Welt zu seiner Verantwortung zustehen, nicht einmal dann, wenn man wie in Afghanistan direkt involviert ist. Analog gilt das für die Folgen des Klimawandels. So verharmlost der gegenwärtige CDU-Kanzlerkandidat am 2.07.2021 die Flutkatastrophe. Er sieht keinen Grund dafür, seine politische Orientierung zu verändern. Es sieht auch hier weiterhin keine `großen grundsätzlichen ProblemeA und plädiert für eine Fortschreibung der bisherigen konservativen Politik. Nach wie vor glaubt man hier, die Probleme erledigen sich, wenn man sie lange genug aussitzt.
- c) Und dann gibt es nach wie vor die Vorstellung, es reiche aus, punktuell einzelne ökologisch besonders problematische Aspekte technologisch zu substituieren und im Übrigen grundsätzliche Veränderungen auf morgen zu verschieben, wenn sie die jetzige Wählerschaft nicht mehr betreffen. Man hat dazu verschiedene Wege entwickelt:
– die Strategie der Prolongierung von Problemlösungen (z.B. wird der Kohleausstieg so lange verzögert, bis die heutige Wählerschaft nicht mehr betroffen ist),
– die Strategie der Verschleppung (so wird die Verkehrswende beschworen, tatsächlich aber werden weiter Milliarden in Autobahnen investiert und trotz sinkender Bevölkerung steigt die Anzahl zugelassener PKWs in zehn Jahren um sechs Millionen),
– die Strategie der Beschränkung (statt auf ökologische Landwirtschaft zu setzen wird bloß der Artenschutz gefördert, und der auch nur soweit wie er der industrialisierten Landwirtschaft nicht die Quere kommt).
Mit einer solchen Symbolpolitik hofft man noch einige Zeit durchzukommen.
Aber es gibt auch viele hoffnungsvolle Ansätze, wo die längst bekannten gesellschaftlichen Herausforderungen tatsächlich anerkannt und als zugleich globale wie auch als lokale Herausforderungen ernst genommen, wirklich realisiert und als breit gefächerte und vielfältig wirkende Modernisierungsdefizite wahrgenommen werden. Eine solche Sichtweise setzt freilich voraus, dass man diese Herausforderungen in ihrer ganzen Tiefe nicht nur anerkennt, sondern sie auch in ihrer ganzen Komplexität begreift. Die Herausforderungen müssen entsprechend gesellschaftspolitisch neu eingeordnet und praktisch angegangen werden, es muss eine nachhaltige Modernisierungspolitik entwickelt werden.
- Menschengemachte Herausforderungen verlangen ein gesellschaftspolitisch beim menschlichen Handeln Ansetzen
Da es sich bei den Herausforderungen um einerseits dramatische, aber anderseits auch eindeutig menschengemachte Effekte handelt, ist klar, wo man ansetzen muss: beim menschlichen Handeln. Es ist also entscheidend, aus der Perspektive unserer Lebenswirklichkeit heraus vorzugehen, aus praktischer alltagsweltlicher Sichtweise heraus eine nachhaltige lokal bis global ansetzende Politik zu entwickeln. Es geht dann darum, die zunehmend dramatischeren Ereignisse in ihrer ganzen sich wechselseitig bedingenden und das gesamte Alltagsleben umfassenden Komplexität zu erfassen: ihre menschengemachten Auslöser müssen identifiziert, ihre Bedeutung muss verstanden werden, ihre Effekte müssen erkannt werden. Damit wird die Alltagspraxis zum Ansatzpunkt für eine nachhaltige Modernisierungspolitik.
Die Situation ist dafür eigentlich so günstig wie noch nie. Es gibt die Bereitschaft, die Dinge anzugehen und praktisch aktiv zu werden. Die FfF-Bewegung belegt das genauso wie die aktuelle Hilfsbereitschaft, den Menschen in den Überschwemmungsgebieten beizustehen. Die Bundestagswahlen könnten zum Anlass werden, dass sich große Teile der Bevölkerung einer solchen Sicht der Dinge anschließen. Leugnen und rechte Beschwörungen, konservatives Aussitzen und Verdrängen, Verharmlosen und Hinausschieben, kleine, eher symbolische Schritte zu großartigen Lösungen zu stilisieren, all das überzeugt nicht mehr. Längst gibt es Ansätze für eine von der Alltagspraxis, von der urbanen Alltagsrealität ausgehende und das ganze Zusammenleben neu ins Blickfeld rückende Politik (Leipzig Charta von 2007, Habitat I-III: the United Nations Conference on Housing and Sustainable Urban Development zuletzt 20161.
Und wer sich umschaut, erlebt immer wieder entsprechende Beispiele, die symptomatisch für die hier gebotene nachhaltige Modernisierungspolitik genommen werden können: Ein aktuelles Beispiel notiert hier gerade der Tagesspiegel:
A(Die 62‑jährige Pariser Bürgermeisterin) Hildago will aus Paris eine sogenannte `Stadt der ViertelstundeA machen, eine Stadt, in der man alles in der Nähe in weniger als 15 Minuten von seinem Wohnort entfernt findet. Das ist die Bedingung für die ökologische Transformation der Stadt. Dazu gehören für Hidalgo auch 100 Prozent Straßen mit Fahrradwegen und viel Vegetation. Sie träumt von einer Stadt, in der man angenehm lebt. Paris ist überall grüner geworden, Autos, die nicht modernen Umweltnormen entsprechen, hat Hidalgo schon 2015 aus der Stadt verbannt und insgesamt 1400 Kilometer Radwege geschaffen. Seit dem 1. Juli 2015 sind Lastwagen, die älter als 14 Jahre sind in Paris verboten. Seit dem 1. Juli 2016 gilt das auch für Privatwagen. `Ich bin nicht gegen Autos. Ich bin gegen VerschmutzungA, sagte Hildago. (Quelle: Der Tagesspiegel vom 16.8. 2021)
Natürlich ist dieses Konzept noch entwicklungsfähig, da es bislang weder alle Pariser Stadteile erfasst (z.B. noch nicht die Banlieus) noch strukturell ausreichend breit aufgestellt ist (z.B. Arbeiten und Wohnen noch nicht zusammen gedacht wird). Aber es setzt lokal und an der Alltagspraxis des Zusammenlebens an und orientiert sich an einer nachhaltigen Modernisierung von Gesellschaft insgesamt. Es werden politische Linien skizzeirt, die überall, in Paris genauso wie in Köln oder in Istanbul oder New York Quartier für Quartier zu einer neuen nachhaltigeren gesellschaftlichen Wirklichkeit beitragen könnten. Das wäre eine Perspektive, die im Rahmen der Wahlen angestoßen werden könnte.
[1] Vgl. Wolf-D. Bukow, Nina Berding (2020) Hg.: Die Zukunft gehört dem urbanen Quartier ‑ Das Quartier als eine alles umfassende kleinste Einheit von Stadtgesellschaft. Springer VS