Zusammen mit der Covid-19-Pandemie selbst führten Kontaktbeschränkungen, das Homeoffice vieler Eltern sowie vorübergehende Kita- und Schulschließungen zu einer tiefgreifenden Veränderung des Familienlebens, aber auch der Kindheit selbst. Schulen, Kindertageseinrichtungen und Horte wurden im März 2020 für mehrere Wochen geschlossen. Kitas hielten zwar teilweise eine Notbetreuung aufrecht, die sich jedoch im Wesentlichen auf den Nachwuchs von Eltern bzw. Elternteilen beschränkte, deren Berufstätigkeit für die Sicherung der kritischen Infrastruktur erforderlich war.
Lockdown-Situationen waren für die meisten Familien (einschließlich der Großeltern), Kinder und Jugendliche extrem belastend. Die unvorbereitet erfolgten Kita- und Schulschließungen warfen sie infolge anfangs fehlender Regelungen zu Verdienstausfällen und zum Homeoffice mit gleichzeitig zu leistender Kinderbetreuung und Homeschooling, strengen Kontaktverboten, geschlossenen Spiel- bzw. Bolzplätzen und Freizeittreffs sowie einem weitgehenden Stillstand des öffentlichen Lebens auf sich selbst und ihre eigenen vier Wände zurück.
In dieser Hinsicht wirkte die Pandemie ausgesprochen polarisierend auf junge Menschen: Kinder und Jugendliche ohne eigene digitale Endgeräte und einen WLAN-Anschluss im Elternhaus wurden abgehängt und sozial ausgegrenzt, Kinder mit guter technischer Ausstattung und stabiler Internetverbindung zogen sich häufiger in eine virtuelle Welt zurück, wo man leicht den Bezug zur Realität verlieren kann.
Homeschooling war für Eltern und Schüler/innen keineswegs gleich Homeschooling. Da gab es Schulen mit einer überwiegend soziökonomisch benachteiligten Schülerschaft in herausfordernden Lagen, in denen manch eine Lehrkraft wegen vermuteter Ausstattungsmängel der Elternhäuser und/oder von in der Schulkultur verbreiteter Defizitorientierungen im Hinblick auf digitale Kompetenzen der Schüler/innen einen Fernunterricht für ihre mehrheitlich benachteiligten Schüler/innen anfangs gar nicht erst in Betracht gezogen hat. Andere Lehrkräfte stießen schnell an ihre Grenzen, wenn es im Lockdown darum ging, überhaupt Kontakt zu allen Schüler(inne)n bzw. ihren Elternhäusern herzustellen und aufrechtzuerhalten. Der postalische Versand oder Bring- und Abholdienste von Arbeitsblättern am Wochenbeginn ersetzten weder Rückmeldungen zur Aufgabenbearbeitung noch den sozialen Austausch von Lehrkräften mit Schüler(inne)n, etwa über das kindliche Wohlbefinden und dessen Gefährdung.
Im ersten Lockdown war der Mangel an digitalen Endgeräten eines der Hauptprobleme von Schüler(inne)n. Auch mussten sich die Schulen mitsamt ihren Lehrkräften erst auf den Distanzunterricht einstellen und ihn organisieren lernen, während digitale und datenschutzkonforme Schulplattformen vielerorts noch nicht existierten. Die üblichen Bildungsangebote trotz einer geschlossenen Schule aufrechtzuhalten, gelang sehr unterschiedlich und war stark vom Alter der Lerngruppen, ihren Mediennutzungskompetenzen und der sozioökonomischen Lage ihrer Elternhäuser abhängig: Grundschulkinder ohne gefestigte Lese- und Schreibkompetenzen im Distanzunterricht zu motivieren und „mitzunehmen“, erwies sich für Lehrkräfte als am schwierigsten. Daher erhoben Grundschulen neben Abschlussklassen zuerst den Ruf nach Wiederöffnung. Insbesondere von weiterführenden Schulen mit vielen in beengten Wohnverhältnissen lebenden Jugendlichen ohne Laptop/Notebook bzw. Tablet, Internetanschluss und Drucker sowie entsprechend kompetenten Eltern wurde berichtet, dass die Lehrkräfte den Kontakt zu nicht wenigen Schüler(inne)n mit der Folge verloren, dass für diese schlicht und einfach kein Unterricht mehr stattfand.
Monatelang lehnten die Jobcenter eine Übernahme der Kosten digitaler Endgeräte für Kinder von Hartz-IV-Bezieher(inne)n, die sich im Homeschooling befanden, etwa mit der Begründung ab, dass es sich dabei nicht um einen laufenden, sondern einen pandemiebedingten Mehrbedarf handle. Nur aufgrund mehrerer Urteile der Sozialgerichte wurden Laptops oder Tablets mit Zubehör wie einem Drucker als nicht vom Regelsatz gedeckter Sonderbedarf anerkannt. Erst im Februar 2021 wies die Bundesagentur für Arbeit ihre Jobcenter an, den Anspruch auf Übernahme der Kosten für digitale Endgeräte rückwirkend ab Jahresanfang anzuerkennen. Wenn diese für das Homeschooling benötigt, aber nicht von den Schulen bereitgestellt wurden, war ein Zuschuss in Höhe von bis zu 350 Euro zu bewilligen. Abgesehen davon, dass dieser Geldbetrag kaum ausreichte, um Geräte von guter Qualität anzuschaffen, löste er auch ein weiteres Problem sozial benachteiligter Familien nicht: Oft fehlt armen Kindern ein eigenes Zimmer und damit ein ruhiger Arbeitsplatz, der ihnen ein konzentriertes Lernen ermöglichen würde.
Mehr als ihre materiell bessergestellten Klassenkamerad(inn)en waren diese Kinder im Homeschooling überfordert. Deshalb schuf das Distanzlernen noch mehr Lerndistanz ausgerechnet bei jenen Kindern, die man in der (Medien-)Öffentlichkeit ohnehin als „bildungsfern“ abqualifiziert. Mithin erhöhte sich die Gefahr ihres funktionalen Analphabetismus im späteren Lebensverlauf. Zusätzlich vergrößerten in migrierten Familien die bestehenden Sprachbarrieren das Problem: Sprachen die Eltern nur wenig Deutsch, konnten sie auch nicht als „Ersatzlehrkraft“ herhalten. Auf diese Weise wurde die Schülerschaft aus sozial benachteiligten Elternhäusern im Extremfall regelrecht abgehängt und die schon vor Ausbruch der Pandemie bestehende Bildungsungleichheit zementiert.
Die monatelangen Schulschließungen während der Covid-19-Pandemie warfen Kinder und Jugendliche noch stärker auf ihre Lebens- und Wohnbedingungen zurück, deren Ungleichheit auf die Bildungschancen durchschlugen. Insbesondere sozial benachteiligte Familien stellte die Unterstützung bei den Schulaufgaben unter diesen Rahmenbedingungen auf eine harte Bewährungsprobe. Denn ihnen fehlten die dafür benötigten Ressourcen, als da sind: genügend Freizeit, um sich eingehend mit den Kindern befassen zu können; ausreichend finanzielle Mittel, um erforderliche Nachhilfestunden bezahlen zu können; gute schulische Kenntnisse und pädagogisch-didaktische Kompetenzen (zur Bewältigung des Lernstoffs).
Familien mit einer anderen Herkunftssprache bzw. Eltern ohne gute Deutschkenntnisse sahen sich aufgrund sprachlicher Barrieren meist nicht in der Lage, ihren Nachwuchs bei den Lern- und Hausaufgaben zu unterstützen. Von Schüler(inne)n aus Familien anderer Herkunftssprachen berichteten Lehrkräfte, dass sich deren – noch nicht gefestigte – Deutschkenntnisse nach Phasen der Schulschließung massiv verschlechtert hätten. Dies traf insbesondere für Kinder aus geflüchteten Familien zu, deren Zuwanderung zeitlich zumeist erst kurz zurücklag und die in der Regel als Seiteneinsteiger/innen ohne Deutschkenntnisse in das Schulsystem eintraten. Sie besuchten in der Regel zunächst Internationale oder Vorbereitungsklassen mit Fokus auf den Deutscherwerb (und ggf. die Alphabetisierung in lateinischer Schriftsprache). Als Grund für die Verschlechterung der deutschsprachigen Kompetenz wird das Fehlen der täglichen Sprachpraxis des Deutschen in Schulen und im Unterricht angegeben, weil sich die Kinder während des wiederholten Lockdowns fast ausschließlich in ihren Familien aufhielten und dort eher in der Herkunftssprache kommunizierten. Schulschließungen und Distanzunterricht steigerten auf diese Weise das Ausmaß der Bildungsungleichheit.