Die Projektile warfen ihn auf den Rücken. Die Schmerzen durchdrangen und zerstörten die Hülle der Traurigkeit. Der Krieg, sein Krieg, sein Zuhause holte ihn heim. Im Sterben empfand er endlich Ruhe und Frieden.
„In Chile habe ich gelernt, dass wir nach und nach der Zerstörung anderer und unserer selbst Grenzen setzen können, wenn wir den traumatischen Erfahrungen nachspüren. Wenn wir in den Menschen nach den Spuren des Terrors suchen, die sie nicht nur verdrängen, sondern auch verleugnen müssen, wenn wir individuelles Trauma auch als kollektiven Prozess verstehen und bearbeiten können, dann können wir den Opfern ermöglichen, von ihrem scheinbar individuellen Leid zu gesunden.“
(‘Ohne Hass keine Versöhnung’. Becker 1992, Text Rückentitel)
Vorbemerkung
25.6.21 – Also wieder Würzburg. Wieder eine Messerattacke! Ich möchte versuchen, hierzu einen Beitrag zu leisten. Nicht um irgendetwas zu erklären oder gar zu relativieren, sondern um zu zeigen, wie komplex individuelle Leben in einer Weltlage sein kann, wie ‚wir‘ sie uns im Moment erlauben mitzugestalten. ‚Wir‘, d.h. dabei alle derzeitigen ‚globalen Player‘ – USA, Russland, Europa und China, die auch die Waffen für die weltweiten Konflikte liefern, und deren Bevölkerungen zumindest in Europa und USA – auf dem Hintergrund dieser Dominanz auch im Verhältnis zum weitaus größten Teil der Weltbevölkerung recht gut und – von COVID einmal abgesehen – recht unbeschwert lebt. (Dass dies nicht gestört wird, leistet sich Europa eine Mauer im Süden (FRONTEX …), an der seit 2015 ein Vielfaches an Menschen erbärmlich zu Grunde gingen – im Meer[2] oder schon in der Sahara – oder in unmenschliche Bedingungen zurückbefördert wurden, als in den 40 Jahren der deutschen Mauer!) Der größte Teil der Menschheit ist diesen Prozessen dabei im engen Sinne hilflos ausgeliefert.
Der folgende Text ist eine ‚Social-Fiction‘, d.h. der Hintergrund ist ein echtes Geschehnis, der Text nimmt dieses aber nur zum Anlass exemplarisch eine mögliche Vorgeschichte in ihren Wirkungen bis hin zur Katastrophe in Würzburg hypothetisch darzustellen. Es geht dabei, wie gesagt, nicht um Schuld oder Unschuld Beteiligter, sondern um die Auslotung der möglichen Komplexität eines solchen Geschehens. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hatte das reale Geschehen ganz andere Hintergründe![3] Es geht also im Anschluss an das Zitat von David Becker (s.o.), um das – exemplarische – Verstehen solcher Prozesse als Voraussetzung, Menschen mit entsprechend traumatischen Vorerfahrungen ein Gegenüber zu bieten, dass eine Chance eröffnet Radikalisierungen bzw. solche Dynamiken wie in Würzburg 2016 und jetzt 2021 wieder, evtl. im Einzelfall zu verhindern.
Heimat
Sami F. wurde zwei Jahre vor dem Afghanistan Krieg (ab 2001) geboren, d.h. er hatte die lange Zeit des Bürgerkrieges gegen die säkulare Regierung, die durch einen Putsch an die Macht gekommen war und von der Sowjetunion (ab 1979 durch einen Einmarsch) massiv unterstützt wurde, sowie den Sieg der Mudschahedin auf der Basis amerikanischer Militärhilfe und den Sieg der Taliban bei den anschließenden Auseinandersetzungen zwischen den Mudschahedin um die Macht in Afghanistan nicht mitbekommen, allerdings waren seine Eltern noch sehr davon beeindruckt.
Sie lebten in einem kleinen Bauernhof in einer Schleife des Kunduz Flusses wenige Kilometer westlich des Flughafens der Stadt Kunduz. Der Vater versorgte die Felder – auch einige Tulpenfelder, die Sami besonders mochte – und die Tiere, was ihnen keinen Reichtum, aber ein stabiles Auskommen ermöglichte. Seine Mutter hatte in ihrem Weiler eine kleine Koranschule für Mädchen gegründet und versuchte hier ihren Schülerinnen ihren Glauben in einer Weise zu vermitteln, dass er nicht mit den Werten, die die Frauen in der säkularen Zeit erhalten hatten, und die sie schätzen gelernt hatte, kollidierte. Kurz die Umgebung von Samis Kindheit war, dank des Wassers des Kunduz, an dessen Ufern er oft spielte, mild und das soziale Klima freundlich zugewandt. Sicher eine kleine friedvolle Oase bedenkt man die ja weiterhin heftigen politischen Konflikte in und um die Macht in Afghanistan.
Ab dem Jahr 2014 änderte sich diese Situation radikal. Der Kampfeinsatz, der die Taliban-Regierung 2001 gestürzt hatte (Enduring freedom später ISAF ab 2003 NATO Mission), der aber insbesondere mit dem geringen Volumen der begleitenden Maßnahmen (Aufbauarbeit) nie auch nur annähernd in der Lage war, stabile Ersatzstrukturen zu schaffen, förderte letztlich das Entstehen von neuen Milizen und Clans und machte damit auch wieder die Taliban stark. Die Erkenntnis, diesen Krieg, der letztlich völkerrechtlich nie erklärt war, so nicht gewinnen zu können, führte 2014 zu der Beendigung des ISAF Einsatzes und zu dem Einsatz ‚Resolut Support‘, der nun als Ersatz afghanische Sicherheitskräfte ausbilden sollte. Letztlich ein unausgesprochenes Eingeständnis, das Ziel, die Taliban zu besiegen und durch ‚dauerhafte‘ (enduring freedom) demokratische Strukturen zu ersetzen, nicht erreicht zu haben.[4]
So tauchten schon früh im Jahr 2014 rund um die Stadt Kunduz Gruppen von Taliban auf, zum einen wohl, um außerhalb des recht stabilen Herrschaftsgebiets im Süden hier einen zweiten Brückenkopf im Norden zu ermöglichen, zum anderen sicher aber auch, um an dem Opium und Heroinhandel, der gerade im fruchtbareren Norden des Landes bis heute floriert, zu partizipieren.
Der Flughafen von Kunduz hatte dabei selbstverständlich zentrale Bedeutung und so war der Weiler in dem Sami lebte für die Taliban von hoher militärischer Bedeutung. Sie besetzten den Weiler, achteten nicht auf die Felder und verlangten Tribut von den Bewohnern des Weilers. Eines Tages eskalierte die Situation, als die Taliban die Mutter von Sami in der Schule angriffen, sie würde den Mädchen Teufelszeug lehren. Vater und Sami hatten die Mutter und seine Schwester gerade zur Schule gebracht und der Vater versuchte seine Frau in dieser Situation zu schützen. Er wurde vor den Augen seiner Frau und den Kindern direkt von einem der Taliban erschossen.
Was dann folgte war, letztlich nicht mehr nachvollziehbar. Sami war schon nach der Erschießung in Panik weggerannt. Als in einer fürchterlichen Explosion die Schule mit allen Kindern explodierte. Ob dies eine Sprengung der Taliban war, die aber z.T. auch selbst von der Explosion verletzt wurden, oder ein Drohnenbeschuss, der sich gegen die an dem Platz vorhandenen Taliban-Kommandeure richtete, war nicht mehr auszumachen. Im Zurückschauen sah Sami den Platz vor der Schule mit Körperteilen und Leichenfetzen übersäht. An einigen erkannte er Kleiderreste seiner Schwester und seiner Mutter. … SAMI rannte … … er rannte und rannte … ES rannte, es rannte ihn nach Hause in ihr Haus, aber als sein Körper ankam war ER verschwunden.
… … … … … … … …
Nach Europa!
2 Tage hatte Sami so in einer Ecke seines Zimmers gesessen. In ihm hatte sich eine zeitlos starre Leere breitgemacht. Wachheit und Schlaf unterschieden sich kaum. Wenige Male ging er mit schweren Schritten fast schlafwandelnd in die Küche um einige Schluck zu trinken. Keine Zukunft, kein Leben, nicht mal seine Gegenwart waren spürbar. (ein Zustand den Benedetti zutreffend mit ‚Todeslandschaften der Seele‘ (Benedetti 1994) beschreibt.) Auch die Gewehrschüsse und Mörser und Granatexplosionen, die vom Flugplatz herüberhallten, durchdrangen nicht dieses Nichts, dass ihn ausfüllte.
… … …
Irgendwann bewegte etwas diesen ‚Nebel‘. Mit der zunehmenden Lebendigkeit stieg auch die Panik wieder in ihm auf. … … Das Krachen, die Schreie, die Leichenteile … … „Sami!“ er hörte den Ruf, wer war gemeint? … „Sami!!!“ Neben dem Laut erschien ein Gesicht in dem Nebel. Er spürte Hände die ihn hochzogen, Arme, die ihn umfingen, spürte die Brust eines Mannes, und nochmal jetzt leiser dunkel und zärtlich den Namen, seinen Namen: „Sami“. Es war sein Onkel Tjark aus Masar-e-Sharif. Der Halt, die Stimme gab Sicherheit. So konnte sich ein wenig Leben an seiner Peripherie ausbreiten. Auch wenn er noch lange nicht zum Weinen in der Lage war, so spürte er dennoch die Tränen des Onkels, die in sein Gesicht tropften.
Mehr war aber nicht möglich. Der Onkel gab ihm etwas zu trinken und trug ihn in seinen Land Rover. Auf der Rückbank schlief Sami erschöpft ein. Nach 2 h Fahrt machte sein Onkel Rast in einem Gasthaus in Kholm und ließ ihm eine Brühe kochen, die er ihm langsam Löffel für Löffel einflößte. Nach einer weiteren knappen Stunde erreichten sie dann Masar-e-Sharif und dort das Anwesen des Onkels.
Dieses Anwesen war wirklich groß und zeigte den Reichtum des Besitzers. Eine große Zahl Bediensteter lebte und arbeitete mit ihren Familien auf dem Anwesen. So wurde Sami gut untergebracht und von den Bediensteten auch gut versorgt, Onkel Tjark wendete sich aber wieder seinen Geschäften zu und war deshalb meistens nicht anwesend. Es dauerte über einen Monat, bis Sami wieder scheinbar normal ‚funktionierte‘. Dies betraf aber nur sein Handeln, dass den jeweiligen Gegebenheiten des Lebens angepasst und in diesem Rahmen durchaus auch freundlich erfolgte. In der Innenschau galt das aber nur für die Peripherie, eben das lebensnotwendige Handeln. Dieses war aber von keinerlei Eigen-Sinn angetrieben. Es realisierte kompetent das pragmatisch Notwendige, aber nicht mehr. Sein Inneres war eine dunkle unbeweglich stumpfe, unendliche Leere.
Nach sechs Wochen setzte sich der Onkel abends mit Sami zusammen und besprach mit ihm, wie es nun mit ihm weitergehen sollte. Ihm wurde schnell klar, dass der übliche Weg, in Not geratenen Verwandten zu helfen, d.h. Sami mit der Tochter eines Geschäftspartners zu verheiraten um ihn so familial einzubinden und abzusichern – und gleichzeitig die Geschäftsverbindungen zu stärken – nicht funktionieren würde, da Sami immer noch in einem Zustand war, der es ihm unmöglich machte, überhaupt eigene Wünsche zu haben, geschweige denn Entscheidungen zu fällen. Es wurde aber auch deutlich, dass Sami sich hier in Afghanistan nicht würde von dem Erlebten trennen können.
An dieser Stelle kam das Geschäft des Onkels ins Spiel. Onkel Tjark war Schmuggler, was seinen Reichtum begründete. Er sorgte für den Transport von Drogen aus dem Norden in Richtung Europa und Waffen nach Afghanistan hinein. Er war zwar nicht einer der ganz großen Player in diesem Geschäft, aber doch genügend groß, dass seine Verbindungen, mit dem räumlichen Abstand abnehmend, bis hin zu Kontakten in der Türkei reichten. Diese wollte er nun nutzen, um es Sami zu ermöglichen, vor dem Krieg und den Erinnerungen in Afghanistan bis nach Europa zu fliehen.
Hier zeigte sich aber auch der Geschäftsmann Tjark. Ja, er hatte erst einmal ohne Hintergedanken nur aus Sorge um seinen Neffen und seinem grausamen Schicksal heraus gehandelt. Aber jetzt im Abstand zu dem Geschehenen und mit der Perspektive Sami eine Flucht nach Europa zu organisieren, was neben dem Know-how um Netzwerke vor allem auch hohe Kosten für Bestechung und Schlepperdienstleistungen bedeutete – immerhin hatte Sami ja keine Papiere und er sollte auch keine bekommen, da das auf der Flucht günstiger erschien – war der Onkel der Meinung, Sami solle sich an diesen Kosten beteiligen. Da Sami aber kein Geld hatte, sollte er 6 Monate für den Onkel arbeiten und bekäme dann das Geld, das ihm den Weg bis nach Europa ebnen sollte.
Sami stimmte ohne jede innere Beteiligung oder irgendein Urteilen über die Perspektive dieser Arbeit zu, wie er zu allen Anforderungen des Lebens – ohne innere Beteiligung – ‚ja‘ sagte und dann im gegebenen Rahmen funktionierte.
So fuhr Sami schon bald mit seinem Onkel nach Herat im Tal des Harirud Flusses südlich des Gebirges, dass die Ebene, in der Kunduz und Masar-e-Scharif liegen, nach Süden begrenzt. Es wurde eine Zweitagesfahrt, da sie noch ein geheimes Lager des Onkels in den Bergen besuchten um einige Güter von dort mitzunehmen. In Herat hatte der Onkel ein Haus mit dem ganz offiziellen Sitz einer Import-Export- und Transport-Firma, die eine Filiale in dem 2,5 Fahrstunden entfernten Taybad im Iran hatte, womit häufige Grenzübertritte offensichtlich begründet waren. Die meisten Grenzer an dem dortigen Grenzkontrollpunkt Dogharoun lebten gut von Tjarks Geschäften, so dass das alles in der Regel problemlos von statten ging.
Die Rolle von Sami war es nun, besondere Boten- und Transportgänge zu machen, die man den normalen Fahrern, wg dem Wert der Waren nicht anvertrauen wollte. Dabei ging es zum einen darum, mit einem solchen Transport einfach mit durchzurutschen oder, wenn die Ware heißer war, nördlich des Kontrollpunktes, wo der Harirud-Fluss die Grenze zwischen Afghanistan und Iran darstellt, den Fluss nachts zu durchschwimmen – Sami hatte von seinem Vater im Kunduz gut schwimmen gelernt – und sich auf der anderen Seite der Grenze wieder aufsammeln zu lassen.
Das ging so sechs Monate gut, insbesondere da Sami auf Grund seiner ‚Gefühlsstummheit‘ weder moralische Bedenken hatte noch in schwierigen Situationen nervös wurde. Er entwickelte in dieser Zeit Fähigkeiten, die ihm bei seiner Flucht hilfreich werden sollten: sich schnell und unauffällig aus dem Staub machen, die Nerven unter allen Bedingungen zu behalten und die Erfahrung, wie über Bestechung und deren Höhe zu verhandeln war. Kurz, der Onkel war sehr zufrieden und teilte Sami nach den sechs Monaten mit, wie seine Flucht von statten gehen sollte.
Taybad (Iran) war für Tjark nur der Umschlagplatz zu geheimen Lagern in dem westlich gelegenen Gebirge. Von dort ging ein großer Teil der Drogen über die Südroute des Gebirges entlang der Grenze zum Irak in Richtung Türkei. Da die Kurden in ihrem Gebiet sehr stabile Polizeistrukturen etabliert hatten, mussten diese über den Irak und Syrien südlich umgangen werden, so dass hier die recht offene Grenze im Süden der Türkei benutzt wurde. Diese Strecke schien Tjark für Samis Flucht nach Europa aber nicht günstig, da sie als Drogenstrecke bekannt war und er später evtl. in Europa mit diesen in Verbindung gebracht würde.
Einen kleinen Teil seiner Waren lieferte er aber auch an der Küste des Kaspischen Meeres entlang nördlich an Teheran vorbei und entlang der Grenze zu Aserbaidschan und Armenien in die Türkei aus. Ein solcher Transport verließ in dieser Zeit Taybad zu einem Lager in den Bergen nahe Amol nordöstlich von Teheran, dem sich Sami anschließen sollte. Von da sollte sich Sami mit dem Geld, dass er vom Onkel bekam, bis zu einer Gewährsperson im 550 km entfernten Ardabil durchschlagen.
Dieser würde ihn mit frischem Geld versorgen – Tjark hatte das über private Schuldscheine so organisiert, dass er nicht bestohlen werden konnte – und die 400 km nach Khoy an die Türkische Grenze bringen, wo er in einem bestimmten Gasthaus übernachten sollte um dann von einem türkischen Geschäftspartner dort aufgelesen und über die Grenze nach Erzurum gebracht zu werden. Der würde ihm auch die letzte große Charge Geld für die Reise nach Bodrum – Lesbos schien zu überlaufen – und die Schlepper für die Überfahrt nach Griechenland (Kos) auszahlen, wobei er hierfür, obwohl recht billig, nicht das Flugzeug nehmen, sondern sich irgendwie anders nach Bodrum durchschlagen sollte, um nicht als ‚reich‘ zu erscheinen.
Ohne hier weiter in die Details zu gehen[5]: Sami erreichte, vor dem Hintergrund aller seiner Überlebenskenntnisse, dem erarbeiteten Geld, der Infrastruktur seines Onkels und einiger Übernachtungen im Freien nach drei Wochen die Türkei und benötigte bis Bodrum noch einmal fast einen Monat. Die Geschehnisse in Kunduz lagen nun schon fast ein Jahr zurück und doch fand auch weiterhin sein Leben ohne innere Beteiligung in der pragmatisch handelnden Peripherie seiner Existenz statt.
Bodrum war einerseits ein Touristenort und andererseits nachts Startpunkt für illegale Schlauchbootpassagen nach der griechischen Insel Kos, also nach Europa. Als Sami am ausgemachten Ort eintraf zeigte sich, dass sich in dieser Nacht zwei große Schlauchboote mit je um die hundert Passagieren an Bord auf den Weg machten. Viele Mitreisende waren sehr aufgeregt, weil sie aus Gegenden kamen, wo sie keinerlei Erfahrung mit Gewässern machen und auch nicht schwimmen lernen konnten und jetzt gleich auf ein Meer!
Nach dem Durchfahren der Brandungswellen und dem kleiner werden der Lichter der Küste wurde es dann aber stiller. Der Motor klang gleichmäßig und gesund und so warteten sie einfach, dicht an dicht gedrängt, die Überfahrt ab. Schon wurden die Lichter von Kos herüber größer, da zerriss eine Sirene die Stille und ein gleißender Suchscheinwerfer erfasste die beiden Boote. Ein Schiff, das sich in der Dunkelheit riesig schwarz gegen den Himmel und das Schimmern des Meeres abhob, schob sich zwischen sie und Kos. Die Lichter von Kos wurden unsichtbar. Eine Stimme schallte aus einem Megaphon verstärkt herüber. Obwohl die Rufe unverständlich waren wurde schnell klar: das war kein Rettungsschiff, es war ein Schiff von Frontex.
Natürlich hatten die Flüchtlinge schon von diesen Schiffen gehört und sie wussten, dass es nun trotz all des verausgabten Geldes – für einige Menschen war es ihr absolut letztes Geld – zurück in die Türkei gehen würde. In ihrer Verzweiflung zerstachen einige Männer den Schlauch des Bootes auf dem Sami war in der Hoffnung, sie würden dann wenigstens als Schiffbrüchige gerettet. Das löste die Katastrophe aus!
Sami, der seitlich zum Bug hin saß, gelang es, von dem Chaos wegzuschwimmen. Der Junge neben ihm, der, wie er ihm vorher erzählt hatte, durchaus Schwimmen konnte, wurde von einem um sein Leben ringend panischen Nicht-Schwimmer unter Wasser gezogen und ertrank. Da wo das Boot gewesen war schäumte das Wasser von um ihr Leben ringenden Leibern. Einige krochen über die zuckenden Leiber der Ertrinkenden auf die Schiffswand zu. Einige erreichten Sie und konnten an Bord geholt werden. Einige der Ertrinkenden klammerten sich an diese Körper über Wasser und rissen Sie so, in dem Versuch doch wieder hoch zu kommen, in die Tiefe.
Eine ertrinkende Frau hielt Ihr Baby verzweifelt über das Wasser. Als ein Matrose es erreichte und das Baby an Bord holte, versank ihr Körper im Dunkel der Tiefe. Auf der dem Schiff gegenüberliegenden Seite dieses Menschenknäuels versuchten Frontex Matrosen von einem Beiboot aus noch Menschen zu retten. Einer wurde sogar überbordgezogen und überlebte wohl nur dank seiner Schwimmweste. Auch Sami, der auf Grund seiner günstigen Position und guter Schwimmfähigkeit früh an Bord gekommen war, konnte noch einige mit retten. Letztlich überlebten von seinem Boot nur knapp 20 Menschen und das Baby. Aber auch dem anderen Schlauchboot fehlten etliche Passagiere, die in der ersten Euphorie zum Schiff schwimmen wollten und dann in dem Tohuwabohu den Tod fanden.
Die Frontex Mannschaft hatte sich wirklich um die Rettung der Menschen bemüht und einzelne waren dafür durchaus auch Risiken eingegangen. Als die Situation jetzt aber geklärt war und Überlebenshilfe nicht mehr möglich war, griff dann doch ihr Auftrag: Die geretteten wurden in das verbliebene Schlauchboot gesetzt und bis kurz vor das türkische Ufer geschleppt, wo sie von türkischen Offiziellen, die Frontex informiert hatte, in Empfang genommen und mit Bussen in ein Flüchtlingslager gebracht wurden.
Samir registrierte das alles eher computerhaft ohne Angst oder Verzweiflung. Er handelte jeweils der Situation gemäß ausgehend davon, wie sich die Fakten der Realität je darstellten. Jetzt war er also statt in Europa in einem riesigen Flüchtlingslager angekommen. Der Großteil seines Geldes war für die Schlepper draufgegangen. Er hatte noch etwas in seinen Schuhen, was eigentlich für die weitere Flucht gedacht gewesen war.
Er orientierte sich in dem Lager. Es war Sommer und die Sonne brannte erbarmungslos. Er stand für eine Wasserflasche und etwas Essen an. Dann ging er scheinbar planlos herum. Er musste irgendwie sehen wie das Überleben hier funktionierte. Seine Übung von der Flucht bis hierher half ihm dabei sehr. Im Wesentlichen bestand das Lagerleben aus Nichtstun bzw. für Wasser oder Lebensmittel und dem WC anstehen. Er fand aber auch heraus, dass von der Lagerverwaltung Menschen für externe Arbeiten aus dem Lager gelassen wurden, wenn sie ihnen bekannt waren. An einer vom Tor entfernten Stelle gab es aber auch ein verdecktes Loch im Zaun, wo früh morgens potenzielle Arbeitgeber Menschen für Tagesarbeiten suchten.
Sami konnte so trotz des Lagerlebens mit mehr oder weniger legalen Tagesjobs Geld sammeln um seine Flucht vorzubereiten. Nach 5-6 Monaten glaubte er genug zu haben, um den Rest der Flucht finanzieren zu können. So verschwand er eines Nachts durch das Loch und begab sich erneut auf die Wanderschaft. Diesmal wollte er sich nicht erneut auf eine teure und unsichere Bootspassage verlassen und so ging es diesmal ganz in den Norden um bei Istanbul über den Bosporus nach Europa zu kommen.
Mit der Weile in dieser Art des Reisens recht erfahren und auch mit einigen Türkischkenntnissen aus dem Lagerleben schaffte Sami es, in gut zwei Wochen über Istanbul das fast 1000 km entfernte Edime an der türkisch-bulgarischen Grenze zu erreichen. Aus diese Route über Bulgarien versprach sich Sami weniger der riskanten Grenzübertritte. Die Einreise nach Bulgarien gestaltete sich dann aber doch dramatisch, da der Beamte nicht nur das für den Übertritt angesparte Bestechungsgeld nahm, sondern ihn darüber hinaus ‚filzte‘ und ihm auch sein anderes Geld abnahm.
Wiederum rettete ihn seine Notreserve in den Schuhen um halbwegs versorgt zumindest bis Sofia zu kommen. Dort war aber auch diese aufgebraucht. So suchte Sami in Sofia nach irgendeiner Arbeitsmöglichkeit. Dies war aber auf Grund der allgemeinen Armut nicht so einfach. Es gab einfach genug billige Arbeitskräfte und so keine Jobs für wandernde Tagelöhner. Letztlich blieb ihm nur noch die Möglichkeit sich nahe dem Bahnhof als Stricher sein Geld zu verdienen, anfangs einfach um Essen kaufen zu können, später auch um Geld für die Weiterreise zu sparen. Im Herbst 2015 hatte er dann genügend Geld gespart, um weiter zu ziehen.
Sein nächstes Ziel war das 400 km entfernte Belgrad. Diesmal schaffte er es den Grenzkontrollpunkt über die nördlich gelegenen Berge zu umschleichen, was ihm das potenzielle Bestechungsgeld sparte. Dies ermöglichte ihm einen Teil des Weges nach Belgrad und von da nach Novi Sad mit dem Bus zu fahren, In der Nähe von Vukovar fand er eine Möglichkeit die Donau zu durchschwimmen und so nach Kroatien zu kommen. Damit hatte er die damals noch offene Balkanroute der Flüchtlinge erreicht und schloss sich einem dieser Tracks an.
Im Dezember 2015 erreichte Sami so München. Dort wurde er als ‚17jähriger unbegleiteter Jugendlicher aus Afghanistan ohne Papiere‘ registriert und in ein Flüchtlingsauffanglager gebracht. Nach eineinhalb Monaten in diesem Erstauffanglager wurde er dann weiter in ein spezielles Heim für unbegleitete jugendliche Flüchtlinge in Ochsenfurt bei Würzburg verschickt.
In der Fremde
Sami hatte im Vergleich zu anderen unbegleiteten jugendlichen Flüchtlingen sehr großes Glück. Die Ochsenfurter Einrichtung – eine Einrichtung des Kolpingwerks – war stark aber nicht übermäßig belegt. Die Einrichtung war gut ausgestattet und hell und das Personal sehr freundlich zugewandt und respektvoll. Zudem fand Sami nach wenigen Monaten in der Einrichtung eine Pflegefamilie, die ihn aufnahm.
Bis zu seiner Ankunft in Deutschland hatte Sami aus der Ruhe seiner Gefühllosigkeit heraus seinen Weg nach Europa trotz aller Katastrophen und Widernisse gut organisiert. Er war stabil, das innere leer und die Peripherie pragmatisch kompetent. Jetzt aber, schon im Heim, umso mehr aber in der Familie wurde er unruhig. Er war angekommen. Ihm ging es besser wie es ihm je gegangen war. Er hatte ein eigenes Bett ein eigenes Zimmer, einen kleinen Schreibtisch und eigene Bücher zum Lernen. Zum anderen lebte er in einer Familie, die ihn vorbehaltlos aufnahm, ihn an Allem beteiligte und sich über seine Anwesenheit offensichtlich sogar freute, d.h. so etwas wie echte familiäre Verbundenheit zeigte.
Gleichzeitig war die Umgebung von Ochsenfurt noch weitläufiger grün als ihre Felder in Kunduz, es gab auch einen Fluss und das romantische Städtchen war sauber herausgeputzt. Ja eine echte milde Idylle voller Freundlichkeit. … …
Und genau das machte Sami zunehmen unruhig. Sein fest verschlossener innerer Kern begann zu schmelzen. Er wurde wieder empfindsam. Damit brach aber nicht nur der anfängliche Schrecken bei der Vernichtung seines Vaters, seiner Mutter und seiner Schwester, seiner Familie hervor, sondern auch die Erfahrungen des Teppichs von ertrinkenden Menschen im Mittelmeer, seine Zeit als Stricher und all die anderen Belastungen seiner Reise.
Seine gesamte Vergangenheit stellte sich im Verhältnis zu seiner Gegenwart als erbärmlich heraus und gleichzeitig hatte er ein schlechtes Gewissen gegenüber all den Menschen, die er überlebt hatte. Mit welchem Recht? Warum durfte es gerade ihm jetzt so gut gehen. Auch seine jahrelangen kriminellen Handlungen, die ja immerhin dieses Überleben gesichert hatten, mochten so gar nicht in das neue Szenario passen, er gehörte irgendwie einfach nicht hier hin. Sami wurde immer depressiver und die Familie spürte dies und kümmerte sich umso mehr um ihn, was das Problem nicht kleiner werden ließ.
Ab und zu fuhr Sami auch nach Würzburg, das aber trotz seiner Größe mit den ganzen Kirchen, der Residenz, dem Käppele und der Festung Marienberg auch sehr ästhetisch beeindruckend war. Der Bahnhofsvorplatz war dem gegenüber in seiner Funktionalität ein ‚coolerer‘, für Sami erholsamerer Ort und auch ein Treffpunkt von Jugendlichen. Hier traf Sami eines Tages Tariq, einen anderen jungen Erwachsenen aus Afghanistan. Der brachte ihm in seinem Aufruhr wieder seinen Glauben in Erinnerung und wie wichtig es wäre, dafür einzustehen. Allein seine Muttersprache zu hören beruhigte Sami. Auch das gemeinsame Gebet gab ihm Halt, hatte er von seinen Eltern, insbesondere seiner Mutter doch einen sehr freundlich liberalen, friedlichen Glauben gelernt. Die Tatsache, dass Tariq immer wieder auf den Kampf gegen Ungläubige zu sprechen kam, bezog Sami auf sein Land und die dortigen Besatzungsgruppen. In diesem Zusammenhang machte er auf Wunsch von Tariq auch ein Video, in dem er sich als Kämpfer für den Glauben darstellte.
Nichts desto trotz hatte Sami nie die Idee, die Menschen hier, die ihm, ohne dass sie es wollten und wussten, so viele Schmerzen machten, irgendwie zu beschädigen, spürte er doch ihren Willen ihm gut zu tun – schmerzhaft genug! – sehr deutlich. Tariq erreichte aber, Sami für einen Kampf gegen die Symbole dieser Welt, den selbstverständlichen ungeheuren Reichtum wie auch den christlichen Glauben, der diesen nicht beschränkte und zu wertvolleren Zielen umleitete, zu gewinnen.
Frieden
Sami stieg wieder einmal in den Zug nach Würzburg. Er hatte sich eine Axt besorgt, um irgendetwas kaputt zu machen. Dieser friedlichen Idylle, die ihn so quälte, eine Schramme, ein bisschen Realität, seiner Realität anzutun. Der Zug fuhr das Maintal entlang. Trotz der großen Hitze des Tages war die Landschaft mild und grün. Winter- und am anderen Ufer Sommerhausen flogen vorbei. Kleine Städtchen sauber und romantisch wie aus dem Bilderbuch. Sein Blick wendete sich ab, wanderte zu den Menschen im Zug. In Fahrtrichtung schräg vor ihm saß eine fröhliche asiatische Familie und genoss offensichtlich die gemeinsame Fahrt durch die schöne Landschaft: Vater, Mutter, Bruder, Schwester und ein junger Mann, der sich an die Schwester schmiegte.
Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Vater, Mutter, Bruder, Schwester … die Schwellen unter dem fahrenden Zug schlugen hämisch den Takt … Vater, Mutter, Bruder, Schwester, … … der Fluss Kunduz, die Landschaft, da war er wieder der Tag, an dem sein Leben verging … Vater, Mutter, Bruder …. mit einem Schrei stürzte er sich mit der Axt auf die Familie, die Schwellen schlugen den Takt … jemand betätigte die Notbremse der Zug kam zum Stehen, Sami erwachte …
In Panik rannte er aus dem Zug. Er rannte und rannte, wie er damals gerannt war. In einem Gebüsch wollte er sich verbergen wurde aber von einer Spaziergängerin gesehen. Er vertrieb sie, die Axt über dem Kopf schwingend. Dann wieder ins Gebüsch. Das Chaos in seinem Innern schmerzte. Was er getan hatte und was ihm angetan worden war und wie er stumpf gelebt hatte und hier zum Leiden neu geboren wurde. … … Die Polizei entdeckte ihn, er entdeckte die Polizei. Die sollten weg da! Er wollte hier sitzen, wieder stumpf werden. Er rannte ihnen wie vorhin der Spaziergängerin mit erhobener Axt entgegen. Die Polizisten eröffneten das Feuer.
Die Projektile warfen ihn auf den Rücken. Die Schmerzen durchdrangen und zerstörten die Hülle der Traurigkeit. Der Donner eines aufziehenden Gewitters in der Ferne. Der Krieg, sein Krieg, sein Zuhause holte ihn heim. Im Sterben empfand er endlich Ruhe und Frieden.
Epilog
„Ich glaube, dass die breite Öffentlichkeit niemals die seelischen Zustände der Opfer des Nationalsozialismus nachvollziehen kann und sie daher auch niemals wirklich verstehen wird“ Ernst Federn (Häftling in Buchenwald von 1936-1945). (Kaufhold 2014, S. 124)
„Kaum begannen wir zu erzählen, verschlug es uns schon die Sprache. Was wir zu sagen hatten, begann uns nun selber »unvorstellbar« zu werden.“ (Antelme 1987, S. 7)
„Er sieht mich an. Er lächelt. Er lässt sich ansehen. In seinem Lächeln zeigt sich eine übernatürliche Erschöpfung, die, dass es ihm gelungen ist, bis zu diesem Augenblick zu leben. An diesem Lächeln erkenne ich ihn plötzlich … Es ist ein Lächeln der Verlegenheit. Er entschuldigt sich, dass es so weit mit ihm gekommen ist, zum Abfall heruntergekommen. Und dann erlischt sein Lächeln. Und er wird wieder ein Unbekannter.“ (Duras 2015, S. 64)
„Zu sagen, wir hätten damals das Gefühl gehabt, als Mensch, als Angehöriger der Gattung in Frage gestellt zu werden, mag wie ein Rückblick, wie eine nachträgliche Erklärung anmuten. Aber es war genau das, was wir damals unmittelbar und ganz schmerzhaft erlebten, und es war übrigens auch das, genau das, was die andern wollten. Sobald das eigentliche Menschsein in Frage gestellt wird, stellt sich ein fast biologischer Anspruch auf Zugehörigkeit zur Gattung Mensch ein. Er dient in der Folge dazu, über die Grenzen dieser Gattung nachzudenken, über das, was sie von »der Natur« trennt, über ihre Beziehungen zu dieser Natur, über eine gewisse Vereinzelung der Gattung also, vor allem aber dazu, eine klare Ansicht von ihrer unteilbaren Einheit zu gewinnen.“ (Antelme 1987, S. 10)
Dies sind alles Texte, die von massiven Traumatisierungen ausgehen. Aber es sind Texte! Schon in der Situation selbst hilft dieser Erhalt der inneren Sprache und sei sie noch so entemotionalisiert – Frankl Logotherapie – einen letzten Kern, wenn nicht Selbstgefühls, so doch menschlichen Selbstverständnisses zu erhalten (s. letztes Zitat Antelme). Was aber, wenn insbesondere bei Kindern und Jugendlichen oder Erwachsenen, die dieses Mittel nicht erworben haben, dieser Schutz nicht oder (noch) nicht ausreichend ausgebildet ist? Hier kann es zu einer völligen psychischen Implosion kommen, die alle inneren Anteile unverfügbar macht. Handeln ist dann im Sinne der Lebenssicherung funktionell noch möglich, die ist aber kein erlebtes oder belebtes Leben, sondern eben nur ein Funktionieren ohne Geschichte und Zukunft.
Wenn wir David Becker folgen wollen, besteht hier einzig die Chance, diesen namen- und wortlosen Schrecken zu teilen, diese Traurigkeit, Verzweiflung und auch den Hass auszuhalten, der entsteht, wenn mit der aufsteigenden Hoffnung die Wiederholung der Schmerzen ins schier Unermessliche wächst.
Ich denke, dass in vergleichbar schrecklichen Fällen, wie hier exemplarisch angedeutet, nur noch das solidarische Schweigen und das Aushalten all dieses Leidens, das erst als ein gemeinsames die Chance hat, sein archaisch wortloses Diktat zu beenden und als Narbe Geschichte zu werden, eine Chance auf eine Normalisierung bietet, die dann später auch kleine Gruppen von Peers mit ähnlichen Erfahrungen möglich machen sollte.
Dieser Anspruch ist offensichtlich hoch und kann nicht von freiwilligen Ehrenamtlichen oder wenig ausgebildeten Hilfskräften geleistet werden. Dies ist eine Arbeit für Menschen mit einer umfassenden therapeutischen Ausbildung und unter kontinuierlicher supervisorischer Kontrolle.
Wer an dieser Stelle die Probleme bei der Finanzierung sieht, sollte bedenken, dass es in solchen Fällen letztlich immer um Leben und Tod geht, was in einem Fall wie dem hier beschriebenen, neben den menschlichen auch die pekuniären Kosten in eine Höhe treibt, denen gegenüber die Kosten einer solchen Langzeitintensivbehandlung, vergleichsweise klein wären. Darüber hinaus sollten wir auch nicht vergessen den Gewinn, den unsere Gesellschaft aus den beschriebenen Weltverhältnissen zieht, so dass wir, wenn auch nicht unmittelbar, so doch mittelbar oder zumindest ideell für die Entmenschlichung der Verhältnisse und ihre Opfer mit verantwortlich sind.
Trotz alle dem und gerade deshalb widme ich den Text den Ochsenfurtern, der Stadt, in der Sami mehrere Monate lang im Kolpingheim gewohnt hat, weil „…die Ochsenfurter – nach der Bluttat vor einem Jahr –den Flüchtlingen eben nicht den Rücken gekehrt haben. Im Gegenteil: Ochsenfurt habe im Landkreis die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Der Spiegel titelte einige Zeit nach dem Attentat einen Artikel mit ‚Ochsenfurt – die Jetzt-Erst-Recht-Stadt‘ “. (BR24, S. 1)
Literaturverzeichnis
Antelme, Robert (1987): Das Menschengeschlecht. München, Wien: Hanser.
Becker, David (1992): Ohne Hass keine Versöhnung. Das Trauma der Verfolgten. Freiburg (Breisgau): Kore.
Benedetti, Gaetano (1994): Todeslandschaften der Seele. Psychopathologie, Psychodynamik und Psychotherapie der Schizophrenie. 4. Aufl. Göttingen, Zürich: Vandenhoeck und Ruprecht.
BR24: Nicht alle Wunden sind verheilt. Online verfügbar unter https://www.br.de/nachricht/unterfranken/inhalt/axt-attentat-wuerzburg-jahrestag-100.html.
Duras, Marguerite (2015): Der Schmerz. Roman. Berlin: Wagenbach (Wagenbachs Taschenbuch, 746).
Gläser, Christiane (2017): Als der Terror nach Würzburg kam: Ein Jahr nach Axt Attacke. Hg. v. dpa. Nordbayern.de. Online verfügbar unter https://www.nordbayern.de/region/als-der-terror-nach-wurzburg-kam-ein-jahr-nach-axt-attacke-1.6374943, zuletzt aktualisiert am 17.07.2017, zuletzt geprüft am 27.06.21.
Kaufhold, Roland (Hg.) (2014): Versuche zur Psychologie des nationalsozialistischen Terrors. Unter Mitarbeit von Ernst Federn, Bernhard Kuschey, Marita Barthel-Rösing und Wilhelm Rösing. Gießen: Psychosozial-Verl. (Edition psychosozial).
Piper Gerhard (2016): Die Infiltration der Flüchtlingsströme durch Dschihadisten. Telepolis. Online verfügbar unter https://www.heise.de/tp/features/Die-Infiltration-der-Fluechtlingsstroeme-durch-Dschihadisten-3336579.html?view=print, zuletzt aktualisiert am 18.09.2016, zuletzt geprüft am 27.06.21.
Peter Rödler proedler@uni-koblenz.de
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[1] Der Titel ist angelehnt an den Titel einer dpa Nachricht ein Jahr nach dem Anschlag 2016 in Würzburg (Gläser 2017).
[2] Allein vor Libyen 2020 900 Ertrunkene und 11.000 Zurückgebrachte.
[3] So bezweifeln mehrere Quellen sowohl das Alter, als auch die Herkunft des Jungen (Pakistan?). Unwahrscheinlich scheint mir dagegen die Vermutung, der Junge sei in Afghanistan aufgebrochen ‚um Ungläubige zu töten‘. Wenn es sich hier um eine geplante Infiltration des IS gehandelt hätte, die ja tatsächlich damals auch stattfand (Piper Gerhard 2016), wäre er, bei dem damaligen hohen Organisationsgrad des IS; sicher besser bewaffnet und das Ziel symbolisch bedeutsamer gewesen. Die Axt und das Ziel – chinesische Touristen im Regionalzug – deuten mir auch im realen Fall eher auf eine unkontrollierte Spontantat hin.
[4] Die angeblich ‚vernichtend geschlagenen‘ Taliban hielten 2014 letztlich den Süden und besetzten schon 2015 zumindest vorübergehend die Stadt Kunduz.
[5] Man mag diese recht umfassende Beschreibung im gegebenen Rahmen als zu ausführlich finden. Mir ging es aber darum, was es – selbst wenn man so einen Onkel Tjark hat – heißt ein jugendlicher ‚Flüchtling aus Afghanistan‘ zu sein. Das ist wirklich weit weg! D.h. 2-3 Jahre sollte man deshalb schon vom Lebensalter der Flüchtlinge abziehen um auf das Alter bei ihrer Abreise zu kommen, was schon alleine den Blick deutlich verändert. Das Gefühl dafür schrumpft aber, wenn wir Entfernungen nur in Flugstunden mit perfektem Service denken. – Häufig entspricht dann auch die touristische ‚Fremde‘ dieser kurzen Flugzeit: d.h. sie ist nicht wirklich fremd, sondern exotisch, im Sinne ‚unserer‘ Kulturfantasien zugerichtet, wie die Clubs und Ressorts rund um den Erdball zeigen. Eben nicht die Tröpfeldusche auf dem Dach oder die wegen Wassermangel kaum sauber zu haltende Latrine …