Zu meinem Soziologiestudium (ab 1966) gehörte die Teilnahme an einem Mittelseminar zum Buch „The Power Elite“ (1956) von C. Wright Mills. Es wurde an der Universität Köln von Erwin K. Scheuch angeboten, der gelegentlich selbst anwesend war, das Seminar, wie an der feudalen Universität üblich, von seinem Mitarbeiter durchführen ließ. Gemäß der Ausrichtung der Scheuch-Schule konzentrierten sich Fragen auf die methodische Erfassung des Positions- versus Zuschreibungsansatzes. Scheuch wandte sich erst später, als er in der Kommunalpolitik nicht sehr erfolgreich war, der Analyse des „Klüngels“, also des lokalen Machtzentrums in Köln, zu.
Mills, der gerne mit dem Motorrad kreuz und quer durch Nordamerika fuhr und dabei eine kreative Methode der empirischen Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit entwickelte, hatte den Einfluss der militärischen Elite auf die demokratische Regierung untersucht und einen Zuwachs an Macht für das Militär festgestellt. Doch nicht nur für die Kräfteverhältnisse in der Demokratie war dieser Zuwachs problematisch, sondern auch für die „Finalisierung“ von Wissenschaft und Technologieentwicklung. Schließlich würde die Macht des Militärs auch die Außenpolitik der USA beherrschen, was sich nicht nur in den Kriegen in Vietnam, Irak und Afghanistan, sondern auch in der gesamten militärisch bestimmten Hegemonialpolitik der USA bestätigte.
Während Mills noch vom „Militär-Establishment“ sprach, hat der amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower den Begriff des „militärisch-industriellen Establishments“ in seiner Abschiedsrede verwendet, als er 1961 als Präsident von seinem Amt zurücktrat. Der frühere General hatte die Macht des Komplexes erfahren, sie genutzt und als Präsident einer Universität die Ausbreitung der Krake des MIK erlebt. Er sprach von einer „gigantischen industriellen und militärischen Verteidigungsmaschinerie“, die den demokratischen Prozess gefährde. Eisenhower nahm die Einordnung des MIK in einem konventionellen Schema vor, nach dem die Regierung handlungsmächtig demokratische Einflüsse balanciere und zum Wohl des Ganzen entscheide. Dass das Kapital selbst und mit ihm die Rüstungsindustrie selbst schon an der Macht sei, konnte in diesem Schema nicht erfasst werden.
Die Analyse Eisenhowers wurde sehr bald, wie dies bis heute üblich ist, als Verschwörungstheorie bezeichnet und der Begriff wurde nur gelegentlich noch gebraucht. Dies hängt auch damit zusammen, dass sich der Militärapparat mitsamt seinen wissenschaftlichen und demagogischen Ressourcen außerhalb der einzelstaatlichen Domänen in der NATO als internationale Organisation positionierte. Die NATO, lange vor dem „Warschauer Pakt“ gegründet und im Kalten Krieg zu einer perfekten Kriegsmaschinerie globalen Ausmaßes ausgebaut, entwickelte schnell eine solche ideologische und strategische Machtstellung, dass die Souveränität der Mitgliedstaaten, sieht man von der der USA ab, ein historisches Anhängels geworden ist. Die heute 30 Mitgliedsstaaten haben sich schrittweise auch der politischen Hegemonie der NATO untergeordnet, die gleichzeitig ein wesentliches Instrument amerikanischer Hegemonialpolitik geworden ist. Der 20-jährige Krieg gegen Afghanistan hat diese Dynamik unübersehbar gezeigt. Die NATO ist zum Militärisch-Industriellen Komplex par excellence geworden.
Im Spannungsfeld von NATO-Unterwerfung und nationaler Selbstständigkeit können die Regierungen, die im NATO-Rat vertreten sind, das Spiel spielen, das sie in der Europäischen Union auch zu spielen gewohnt sind. Mit Verweis auf „Solidarität“ innerhalb der transnationalen „Gemeinschaft“ können sie innenpolitisch schwierige Absichten durchsetzen, mit dem Verweis auf die Verpflichtung gegenüber den eigenen Bürgern können sie ihren Spielraum im bargaining des transnationalen Gremiums etwas erhalten. Das Dilemma innerstaatlicher Kritik muss sich dann immer an dem Vorwurf nationalistischer Eigenbrötelei abarbeiten, ganz gleichgültig, um welche Kritik es sich handelt.
Diese Kritik hechelt auch immer mehr der internationalen Verschränktheit der Rüstungsindustrie hinterher. Sie hat sich in global agierenden Konzernen verfestigt und wird dabei von den verbündeten Staaten als international vernetzte Produktion gefördert. Nationale Anstrengungen sind nicht mehr ausreichend, um die hochtechnologischen Entwicklungs- und Produktionsprozesse zu finanzieren, der Rüstungshandel ist ohnehin grenzenlos möglich. Im Ergebnis der Transnationalisierung haben die Nationalstaaten immer weniger Macht, um Einfluss auf diese Prozesse zu nehmen. Sie können Rüstungsexport-Richtlinien erlassen, wie sie wollen – der tatsächliche Handel verläuft nicht mehr steuerbar.
Nicht nur die wissenschaftlich-technologischen Produktionsprozesse sind der Macht der demokratisch gewählten Regierungen weitgehend entzogen, auch die Meinungsbildung ihrer Bevölkerung. Mit einer eigenen Öffentlichkeitsarbeit kann die NATO ihre militärischen Interessen regierungsunabhängig bekannt machen. Dabei tritt die NATO nicht öffentlich auf, sondern in der Regel durch die von ihr finanzierten Institute für „strategische Studien“ unter dem Mantel wissenschaftlicher Neutralität. Ein Beispiel für solche Abläufe ist die Beschaffung von Drohnen für die deutsche Bundeswehr. Insbesondere die SPD hat eine solche Beschaffung zunächst abgelehnt, stimmte dann der Bestellung von unbewaffneten Drohnen zu und muss am Ende die Aufrüstung mit bewaffneten Drohnen für den Kriegseinsatz befürworten. Zwischen diesen Entscheidungsschritten wirkte nicht nur der Einfluss des Koalitionspartners, sondern auch die Lobbyarbeit der Rüstungskonzerne und die Propaganda der NATO.
Die NATO-Osterweiterung 2004 hat die für Mitteleuropa besonders brisante Einkreisung Russlands vorangetrieben, die mit dem amerikanisch finanzierten Putsch in der Ukraine 2013/14 perfektioniert wurde. Seitdem gehört die Agitation gegen Russland zum täglichen Bestand der medialen und politischen Öffentlichkeit, wesentlich durch sogenannte Analysen der NATO genährt. Denn die NATO ist nicht nur in der Bündelung von militärischer Kraft zu einem neuen Typ des militärischen Komplexes geworden, sondern gerade auch dadurch, dass er eng mit wissenschaftlichen Forschungskapazitäten, der europäischen und amerikanischen Rüstungsindustrie und politischen Denkfabriken, die die software für die Begründung der steten Aufrüstung liefern, verknüpft ist. Die „Bildungsarbeit“ der unzähligen Institutionen um die NATO herum für Politiker und Journalisten fundiert ein „nordatlantisches Weltbild“, das alltäglich aus fast allen Medien der „freien Welt“ herausschaut. Ihre geopolitische Macht hat die NATO insbesondere durch drei „Partnerschaften“: Mittelmeerdialog, Istanbuler Kooperationsinitiative und globale Partnerschaft ausgedehnt und verfestigt. Sie hat damit Einfluss auf allen Kontinenten und in allen Konstellationen außerhalb Russlands und Chinas gewonnen. Ein Indikator sind die Ausgaben in den Militärhaushalten der Staaten.
Die weltweiten Militärausgaben sind im Jahr 2020 weiter gestiegen. Im Pandemie-Jahr 2020 wurden nach Angaben des schwedischen Friedensforschungsinstituts in Stockholm (Sipri) insgesamt 1981 Milliarden US-Dollar (1647 Milliarden Euro) für die Rüstung und weitere militärische Zwecke ausgegeben. Insgesamt gaben die 30 Nato-Staaten im vergangenen Jahr rund 1,1 Billionen US-Dollar (etwa 930 Milliarden Euro) für das Militär aus, davon kamen 785 Milliarden US-Dollar von den USA. Im Vergleich zeigt sich, mit welcher Überrüstung die NATO die Welt beherrscht: Nach Zahlen des Internationalen Instituts für Strategische Studien (IISS) hat China zuletzt gerade einmal 193,3 und Russland 60,6 Milliarden Dollar für das Militär ausgegeben. Die dem MIK zur Verfügung stehende Finanzmasse ermöglicht nicht nur die Entwicklung und die Produktion konventioneller Militärtechnik, sondern auch die wissenschaftliche Innovation jeweils neuer Generationen der Waffentechnologie. Der Komplex ist also hoch produktiv.
Das Fundament der Wirksamkeit des industriell-wissenschaftlichen Militärkomplexes der NATO ist Angst. Sie zu schüren ist lebensnotwendig – für die NATO und den Komplex, den man nicht mehr als einen einzelnen Komplex in einem großen Gefüge, das vielleicht auch noch demokratisch regiert wird, verstehen kann. Denn die Einheit von Militärorganisationen und Wirtschaft, Rüstungsindustrie und Regierung, in der ja in den NATO-Staaten keine abrüstungspolitische Position mit Einfluss vertreten ist, verbindet Segmente miteinander, die demokratietheoretisch getrennt werden, aber eben nur theoretisch. Denn als Merkmale des MIK werden nicht nur die intensiven Kontakte und Beziehungen zwischen Personengruppen (Militärs, Partei- und Regierungsmitglieder, Wirtschaft und dabei besonders die Rüstungsindustrie) genannt, sondern auch die Lobbyarbeit und Beratungstätigkeit der Rüstungsindustrie und der personelle Austausch zwischen diesen Institutionen. Übergreifend jedoch wird der MIK abgesichert durch den Glauben an seine Systemrelevanz und seine Fähigkeit, eines der wertvollsten Güter der Gesellschaft, nämlich Sicherheit, zu gewährleisten.
Wie sehr der MIK davon lebt, Bedrohungsangst selbst herzustellen, kann an der Dynamik des vierzigjährigen „Kalten -Kriegs“ von 1950 bis 1990 abgelesen werden. Die Darstellung des Kommunismus als eines aggressiven Systems, vor dem nur ständige Hoch- und Nach-Rüstung schützen könne, funktionierte als self-fulfilling-prophecy – ganz unabhängig davon, was der Gegner tat. Die Aktionen des eigenen Systems provozierten immer Reaktionen des anderen Systems und diese rechtfertigten weitere Rüstungen und Bedrohungsphantasien. Da beide Systeme nach demselben Muster arbeiteten, brachte der Rüstungswettlauf die Staaten in ökonomische Probleme. Erst dann wurden Rüstungskontrollverhandlungen begonnen; zugleich erwiesen sich diese Verhandlungen und ihr Ergebnis als Stabilisierung der weltweiten Vorherrschaft der USA. Wie sehr militärischer Apparat, wirtschaftliche Macht und Interessen sowie Öffentlichkeit und Politik in einem durchkomponierten Bedrohungsszenarium die Angst der Bevölkerung aufrechthielten, hat Dieter Senghaas in „Abschreckung und Frieden. Studien zur Kritik organisierter Friedlosigkeit“ (Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1969, 3. erweiterte Aufl. 1981) unübertrefflich analysiert.
Dass nach der Perestroika nirgendwo im „Ostblock“ Angriffspläne gefunden wurden, wurde nach der deutschen Einigung schnell vergessen. Wäre nämlich die Entspannungslage politisch fortgesetzt worden, dann wäre die Hochrüstung der NATO in Mitteleuropa nicht zu rechtfertigen gewesen. Deshalb begann schleichend der Wiederaufbau einer Bedrohungskulisse, die in der Osterweiterung der NATO praktisch zu einem einstweiligen Höhepunkt führte. Die NATO organisiert ihre Jahrestagungen gelegentlich in Warschau, der Namensgeberin des Warschauer Paktes. Deutlicher kann das Märchen von der „Verteidigungsgemeinschaft“ nicht zum Ausdruck kommen. Es fehlt nicht nur an historisch-politischer Bildung, um die Entwicklung von der Gründung bis zur Gegenwart angemessen begreifen zu können, vielmehr versinken auch die Schulbücher für die aufgemotzte „Staatsbürgerkunde“ in der Anbetung der NATO (vgl. Franz Hamburger: Einübung des hegemonialen Habitus. In: Rudolph Bauer (Hrsg.): Kriege im 21. Jahrhundert: Neue Herausforderungen der Friedensbewegung. Annweiler am Trifels 2015, S. 31 – 59.)
So weit ein paar Worte zum Militärisch-Industriellen Komplex (MIK). Die Verbindung zum Medizinisch-Industriellen Komplex (MedIK) wird mit dem Thema „Angst“ hergestellt.
Die Angst ist der älteste Rohstoff einer jeden Herrschaft. Dies zu formulieren ist keine Neuigkeit. Thomas Hobbes hat in seiner Schrift „Behemoth“ den Naturzustand von Gesellschaft als gnadenlose Gewalt einer jeden gegen jeden beschrieben und die Angst vor dem Terror des Alltags legitimiere den Leviathan, den Staat der Ordnung. Und die Angst vor Aggression und Gewalt ist seit Jahrtausenden eine menschliche Erfahrung. Das Versprechen des Schutzes ist deshalb zur Bedingung von Autorität und Macht geworden. Die Angst vor der physischen Verletzung oder Vernichtung geht möglicherweise den anderen Ängsten um das Leben und Bedürfnissen nach Nahrung, Wohnung und sozialer Bindung voraus. Denn die physische Verletzung zerstört den Bestand des Lebens – in welcher Form auch immer. Es ist ein Verdienst von Franz Neumann (auch ein Autor, der in meinem Studium, aber dieses Mal im Rahmen der „Kritischen Universität“ vorkam), der in seiner Analyse des Nationalsozialismus zeigt, wie die versprochene Herrschaft der Ordnung hinter ihrer Fassade die Herrschaft des täglichen Terrors aufgebaut hat, dass diese Verknüpfung sichtbar wurde.
Weil physische sowie psychische Handlungsfähigkeit gemeinsam eine wesentliche Komponente der Erhaltung des Lebens darstellen, sind auch die Systeme der Sicherung von Gesundheit und Wohlergehen in der Geschichte der Menschheit zu einem wichtigen Strukturelement der gesellschaftlichen und politischen Verfasstheit des Menschen geworden. Wissenschaftlicher Fortschritt, der der medizinischen Versorgung zugutekam, hat in Schüben des Erkenntniszuwachses bis zur Gegenwart die Medizin vielfach revolutioniert.
Gleichzeitig sind nicht nur die Möglichkeiten des Heilens gewachsen, sondern auch die Erwartungen an die Leistungen der Politik und des Gesundheitssystems. Im Wechselverhältnis von Leistungen des Bürgers für das Versorgungssystem und seinen Erwartungen an die Qualität dieses Systems hat sich eine kontinuierliche Wachstumsdynamik im „System der Sozialpolitik“ ergeben. Im Jahr 2019 wird ein Viertel des Sozialbudgets in Deutschland für Gesundheit ausgegeben. Der „Gesundheitsfonds“ hatte ein Volumen von ca. 222 Milliarden Euro; im Jahr zuvor beliefen sich die Gesamtausgaben für Gesundheit auf ca. 391 Milliarden Euro. Dieses System ist als Ganzes „systemrelevant“ und komplex strukturiert und nicht zuletzt schwer steuerbar. Genau dies aber beansprucht das politische System zu leisten.
Doch die Herausbildung eines eigenständigen medizinischen Sektors, vor allem einer anerkannten Profession, hat die Macht im Staat diversifiziert, weil die Anerkennung einer eigenlogischen Kompetenz Einfluss bedeutet und das System nur funktioniert, wenn die Eigenlogik der ärztlichen Tätigkeit anerkannt und respektiert wird. Auch die Kliniken sind ein so komplexes Gebilde, dass eine Steuerung von außen wahrscheinlich mehr Ressourcen verschlingt, als im Falle einer Eigensteuerung für die Sicherung des Eigeninteresses verbraucht werden. Die Herstellung und Verteilung von Medikamenten ist ebenfalls professionalisiert und ist eng an den wissenschaftlichen Fortschritt der Forschung gebunden. Deren Freiheit ist aber weder normativ noch funktional einzuschränken.
Das deutsche Gesundheitssystem besteht in einer ersten, sicht- und konkret erfahrbaren Ebene aus den 1.900 Krankenhäusern, rund 150.000 ambulant tätigen Ärzten und Ärztinnen und 28.000 Psychotherapeuten und -innen sowie fast 19.500 Apotheken. Die Interessen dieser Einrichtungen und Personengruppen sind ambivalent: Sie wollen professionelle Autonomie und stabile Finanzierung durch Staat und Sozialversicherung gleichzeitig erhalten. Interventionen von außen werden jeweils so verarbeitet, dass der Nutzen für die eigene Handlungsebene und die Kooperation mit anderen Systemeinheiten erhalten werden. Grundlage der Finanzierung des Gesamtsystems sind die Kranken- und Pflegeversicherungen und die staatlichen Haushalte. Bund und Länder setzen durch Gesetzgebung und auf dem Verordnungsweg den Rahmen für das System, regulieren es aber in Teilbereichen ganz direkt bis in einzelne Arbeitsprinzipien – Beispiel Fallpauschale.
Historisch am bedeutsamsten ist die Ökonomisierung des Gesundheitssystems, d.h. die Kommodifizierung aller seiner Leistungen und die Selbst- und Staatssteuerung mit Hilfe finanzieller Parameter. Während die Produktion von Arzneimitteln schon lange vom Markt besorgt wird, sind nach und nach relevante Bereiche wie die Pflege oder die Krankenhäuser den Regeln eines Marktes von privaten Anbietern unterworfen worden. Im Aushandeln von Kassen und Kassenärzten haben Standardisierungsprozesse eine ähnliche Struktur geschaffen, die Verwandlung der „Niedergelassenen Ärzte“ in Gewerbetreibende haben den Marktprozess beschleunigt und damit die Privatisierung verstärkt. Mit der Delegation von Zuständigkeit und Macht an die Marktakteure hat der Staat sich von manchen Legitimationserwartungen befreit, ist aber in einen „Komplex“ eingebunden, in dem er nicht mehr autonom agieren kann. Im Gegenteil: Die Politik droht zum Anhängsel der anderen Akteure des Komplexes zu werden und gleichzeitig zum Gefangenen ihrer eigenen Versprechungen, die sie zur Aufrechterhaltung von Legitimation ihres Handelns verkündigt. Die Privatisierung unterwirft das Gesundheitssystem zunehmend dem Zwang der Profiterwirtschaftung. Thomas Gebauer schreibt dazu: „Stolz vermeldete der Krankenhausbetreiber “Rhön-Klinikum AG” kürzlich eine Gewinnsteigerung um 15%, der börsennotierte weltweit tätige Medizinkonzern “Fresenius” einen bereinigten Überschuss von 14%, der Pharma-Multi “Bayer HealthCare”, der zuletzt eine eher schlechte Zeit hatte, ein Anwachsen der Gewinne vor Steuern und Abschreibungen um immerhin 12%. Es sind gesunde Gewinne, die aus solchen Zahlen sprechen; Gewinne, die Anteilseignern eine hohe Dividende sichern, aber keineswegs auch eine bessere Gesundheitsversorgung bedeuten“. (Der Medizinisch-industrielle Komplex. Anmerkungen zum Triumph des Lobbyismus. medico-international Rundschreiben 4/2009)
Damit rückt das Gesundheitssystem systematisch aus der Sphäre der Daseinsvorsorge heraus.
Wie so oft hat die amerikanische Wissenschaft für die Entwicklung des Begriffs MedIK die Voraussetzung geschaffen. „other wiki“ schreibt: „Das Konzept eines ‚medizinisch-industriellen Komplexes‘ wurde erstmals von Barbara und John Ehrenreich in der Novemberausgabe 1969 des Bulletins des Beratungszentrums für Gesundheitspolitik in einem Artikel mit dem Titel ‚Der medizinische Industriekomplex‘ und in einem nachfolgenden Buch (mit Gesundheit) vorgestellt…. Eine aktualisierte Geschichte und Analyse findet sich in John Ehrenreich, ‚Kapitalismus der dritten Welle: Wie Geld, Macht und das Streben nach Eigennutz den amerikanischen Traum gefährdet haben‘ (Cornell University Press, Mai 2016).“ (Quelle: https://de.other.wiki/wiki/Medical%E2%80%93industrial_complex)
Der Begriff des Medizinisch-Industriellen Komplexes wird in Deutschland anfangs nur sporadisch verwendet. Die Zeit Nr. 25/1992 thematisierte den Komplex mit der Botschaft: „Das Gesundheitssystem ist immun gegen alle Reformen. Erst scheiterte Minister Norbert Blüm, jetzt kommt Horst Seehofer dran. Eine mächtige Lobby aus Ärzten, Krankenhausleitern und Pharmamanagern zermürbt die Politik. Geschröpft wird stets nur einer: der Patient: Der medizinischindustrielle Komplex“. 1994 hat Hans Biermann mit seinem Buch „Die Gesundheitsfalle. Der medizinisch-industrielle Komplex“ (Knaur) die Öffentlichkeit erschreckt mit seiner Feststellung, dass die Krankenkassen immer mehr Geld aufwenden müssen, ohne dass die Bevölkerung deshalb gesünder wird. Zehn Jahre später hat Karlheinz Engelhardt nachgelegt mit seiner Untersuchung: „Der medizinisch-industrielle Komplex: Ethische Implikationen“ (The medical-industrial complex: an ethical challenge). Für das Jahr 1994 wurde angenommen, dass in den USA 100000 Todesfälle durch medikamentöse Nebenwirkungen eingetreten seien. Engelhardt bringt dies in Verbindung mit dem Umstand, dass Ärzte für den Einsatz von Medikamenten vor allem von der Pharmaindustrie informiert werden und deshalb schädliche oder nachteilige Folgen von Medikamenten im ärztlichen Problemhorizont nicht wahrgenommen werden. Thomas Gebauer hat dann im Rundscheiben von medico international vom Dezember 2009 die Bezeichnung MedIK wieder aufgenommen und vom „Triumph des Lobbyismus“ gesprochen s.o.).
Nach dem Buch von Hans Biermann wurde der Begriff in der öffentlichen Diskussion intensiv aufgenommen und die mit ihm zusammengefassten Phänomene wurden diskutiert. Danach flachte die Debatte wieder ab. Das Buch von Karl Hartmann „Gesundheit und medizinisch-industrieller Komplex“ (Verlag am Park, 2014) harrt noch heute auf seine erste Rezension. Gleichzeitig muss man festhalten, dass der Begriff als Kleingeld in der kontinuierlichen kritischen Auseinandersetzung mit dem Gesundheitssystem und insbesondere mit den Prozessen der Ökonomisierung und Privatisierung verwendet wird. Wie sehr diese Prozesse auch den Verlauf im Corona-Jahr 2020 bestimmen, zeigt die anschließende (knappe) Beschreibung.
Corona – Gesundbrunnen für den Komplex und das Kapital
Eine Folge der versuchten und fehlgeschlagenen staatlichen Steuerung sind die Dynamiken im Corona-Jahr 2020, wobei sich die folgenden Ausführungen nur auf den Bereich der Krankenhausversorgung beziehen. Obwohl die Kliniken insgesamt deutlich weniger Fallzahlen haben, sind die Zuweisungen von Staat und Kassen gestiegen. „Über das gesamte Jahr 2020 gesehen sind die Fallzahlen in den somatischen Kliniken um 13 Prozent, in den psychiatrischen Kliniken um elf Prozent zurückgegangen. In der Spitze bis Ende Mai 2020 waren es rund 30 Prozent. […] Um den Krankenhäusern das Verschieben elektiver Eingriffe das Vorhalten von Kapazitäten für die Versorgung von COVID-Patienten zu ermöglichen, hat der Bund im vergangenen Jahr 10,2 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Dies sei maßgeblich dafür gewesen, dass die die ausschließlich stationären Erlöse der allgemeinen Krankenhäuser um 3,7 Prozent, die der psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken um 10,6 Prozent gestiegen seien, heißt es in der Bilanz. Die gesetzliche Krankenversicherung hat den Krankenhäusern 1,7 Prozent mehr ausbezahlt als ein Jahr zuvor.“ (Arno Fricke: Krankenhäuser 2020: Weniger Fälle, höhere Erlöse. In: ÄrzteZeitung 02.05.2021). Gleichzeitig haben die Kliniken ihre Bettenzahl um 5.000 (1,1%) verringert.
Mit dem Krankenhausentlastungsgesetz wurden ein halbes Jahr vorher die Kliniken aufgefordert, für 50.000 Euro pro Bett aufzurüsten und sie wurden von den Pflegepersonaluntergrenzen befreit, so dass ihre Politik in der Beeinflussung der beiden zentralen Variablen „Struktur“ und „Personal“ frei nach betriebswirtschaftlichem Eigennutz flexibel gehandhabt werden konnte. Solche und weitere Eingriffe heben sich auf und erhöhen die interne Steuerungskapazität des privatisierten Kliniksystems, so auf Interventionen von außen reagieren zu können, dass der eigene Nutzen in jedem Fall zunimmt.
Die staatlichen Interventionen verpuffen oder verwandeln sich ins Gegenteil: Mit dem Krankenhausfinanzierungsgesetz war die die Auslastung der Intensivbetten einer Klinik zum Kriterium der Finanzierung geworden – ein Anreiz die Vorhaltung von Intensivbetten so zu regulieren, dass immer 75% belegt sind. Ein einfacher Weg: Die Verfügung über solche Betten über das Personaltableau zu reduzieren, wenn die Corona-Patienten fehlen. Wird das Vorhalten von Intensivbetten belohnt, werden sie tatsächlich vermehrt und auch zu 75% beleget – mit welchen Fällen auch immer. Wird nur das belegte Intensivbett finanziert, wird die Zahl der Intensivbetten zurückgefahren, bis die optimale Relation von Finanzierung und Belegung hergestellt ist.
Die unter dem Zwang öffentlicher Legitimation mit Kurzzeitwirkung induzierten Innovationen erweitern tatsächlich die klinik- oder klinikkonzerninternen Reaktionsmuster auf den politischen Aktivismus so, dass am Ende ein Wachstum des medizinisch-industriellen Komplexes herauskommt.
Grundlage der Finanzierung von Kliniken ist das Krankenhausfinanzierungsgesetz, das Gesetz über Entgelte der Krankenhausleistungen und die Verordnung zur Regelung der Krankenhauspflegesätze. Die Feststellung einer epidemischen Lage in 2020 erforderte eine umfangreiche Staatstätigkeit zur Sicherung der medizinischen Versorgung. Das erste „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ enthielt u.a. Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung in ambulanten Praxen, Apotheken, Krankenhäusern, Laboren, Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen und in sonstigen Gesundheitseinrichtungen in Abweichung von bestehenden gesetzlichen Vorgaben.
Das „Zweite Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ (19.5.2020) änderte erneut das Krankenhausfinanzierungsgesetz (Schaffung der Möglichkeit zur Differenzierung der Pauschale nach § 21 Abs. 3 KHG; Anpassung der Ermächtigungsgrundlage nach § 23 Nr. 2 KHG; § 26 Zusatzentgelt für Testungen auf eine SARS-CoV-2-Infektion im Krankenhaus), verlangte also neue Leistungen, stellte dafür die Entgelte bereit und erhöhte die Flexibilität der Kliniken. Das “Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ ist am 19. November 2020 in Kraft getreten. Das Gesetzespaket beinhaltet auch Regelungen für Ausgleichszahlungen an Krankenhäuser, die Corona-Intensivbetten freihalten. Eigenständig definiert sind das COVID-19-Krankenhausentlastungsgesetz und das Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG). Das Jahr 2021 wird dann eröffnet mit dem Krankenhauszukunftsgesetz für die Digitalisierung, mit dem drei Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden.
Die ausschnitthaft berichteten gesetzlichen Änderungen sind natürlich nur die Spitze eines Eisbergs der Regulierung. Verordnungen und Änderungen von Verordnungen bilden den Eisberg unterhalb der Sichtebene der Wasseroberfläche. Gesetzesänderungen und Verordnungen demonstrieren einerseits die Relevanz staatlicher Rahmung des Gesundheitssystems, die Hektik der Veränderung signalisiert die Abhängigkeit von der Reaktionsfähigkeit des privatisierten und teilweise durchaus noch in der kommunalen und wohlfahrtsverbandlichen Zuständigkeit stehenden Systems. Aber diese Teilsysteme, in der Tradition der Daseinsvorsorge stehenden Systemelemente müssen zur Bestandserhaltung sich den allgemeinen Regeln unterwerfen und ökonomisch den Bestand sichern. Die Zahl der Krankenhäuser in Deutschland ist seit Jahren rückläufig. Waren es 1991 noch rund 2.400 Einrichtungen, zählt das Statistische Bundesamt aktuell noch 1.925 Kliniken. Die privaten Träger konnten dabei ihren Anteil von 21,7 Prozent der Häuser im Jahr 2000 auf rund 37,5 Prozent im Jahr 2018 ausbauen. Die Warnung vor einer Überlastung der Kliniken war im ganzen Coronajahr eine der wichtigsten Begründungen für die restriktiven staatlichen Maßnahmen. Die Kliniken haben in diesem Jahr ihre Bettenkapazität um 1,1 Prozent verringert, was etwa 5000 Betten entspricht.
Abschließende Bemerkungen
Die Begriffe MIK und MediK sind nicht scharf von anderen Konzepten abgegrenzt. Die für moderne Gesellschaften typische Differenzierung in „Sphären“ oder „Systeme“ oder „Funktionsbereiche“ oder „Handlungslogiken“ wird nicht aufgehoben, aber so verschränkt („lose gekoppelt“), dass ein sinnhaft erfassbarer Zusammenhang entsteht. Die Komplexe erfassen gleichzeitig systemische, funktionale, rechtliche und Marktbeziehungen. Diese Beziehungen werden von Personen und Organisationen genutzt und „prozessiert“. Die Nutzung geschieht stets unter dem Gesichtspunkt der Interessendurchsetzung und schließt widerrechtliche Ausnutzung ein. Korruption und Bereicherung sind also Phänomene, die mit „Komplexen“ stets verbunden sind. Skandale sind deshalb kein überraschendes Phänomen. Dass dabei phantasievolle Erklärungen im Stil von Verschwörungstheorien verwendet werden, ist ebenfalls zu erwarten.
Gleichzeitig aber sind solche in der privaten und öffentlichen Kommunikation verbreiteten Über-Interpretationen völlig überflüssig. Denn die evidenten Informationen über die Abläufe sind weitgehend öffentlich zugänglich, erfordern aber im Einzelfall oft einen erheblichen Aufwand an Recherche. Ein klassisches Beispiel aus dem MIK war die Starfighter-Affäre, in der der Streit um die Eignung eines Flugzeugs unter Militärs, die Entscheidung eines Ministers, die regionalen Interessen der Rüstungsindustrie, nationale Präferenzen von Regierungen für ihre Rüstungsindustrie und die Bestechungspraktiken des Lockheed-Konzerns miteinander vermischt wurden. Ein aufwendiger Untersuchungsausschuss des Bundestags konnte einiges davon klären. Möglich war die Skandalisierung des Vorgangs aber nur nach erheblicher journalistischer Recherchearbeit. Offen bleiben jedoch in der Regel die tatsächlichen Zusammenhänge zwischen bestimmten Vorgängen, so dass die Komplexe, auch weil sie mit erheblichen Geldsummen ausgestattet sind, immer Kritik und Verdacht gleichzeitig ermöglichen. Zur Untersuchung kann dann wieder auf die Analysetradition seit C. Wright Mills zurückgegriffen werden.
Dennoch ergeben sich Chancen für Personen sich im offenen Wachstumsbereich des Komplexes zu bereichern. So hat eine ganze Riege von Politikern der CDU/CSU sich an der Lösung von Beschaffungsproblemen von Schutzmasken im Jahr 2020 zum eigenen Nutzen beteiligt und bedient. Die schon fast „normalisierte“ Lobbypolitik eines Abgeordneten, der für seinen Wahlkreis und seine Klientel „etwas herausholen“ will, schlägt in den Phasen der Beschleunigung in Korruption um. Wieder einmal hat die Kabarettsendung „Die Anstalt“ (am 4. Mai 2021) eine sorgfältig recherchierte Darstellung dieser Verhältnisse geliefert.
Nicht untypisch ist der Prozess, der im Jahr 2020 in Deutschland beobachtet werden konnte. Zum einen ist er dadurch gekennzeichnet, dass als Krise definierte Umstände die Formierung eines Komplexes beschleunigen. Politik und bisher abgegrenzte Bereiche geraten unter Handlungsdruck, weil sie selbst die Erwartungen wecken und bestärken, sie könnten die Krise bewältigen. Experimentelle Entscheidungen werden als definitive Problemlösungen etikettiert – sind aber revisionsbedürftig und produzieren erhebliche unerwünschte Nebenfolgen. Gleichzeitig werden politisch die Heilsversprechen dynamisiert. An dieser Stelle kann man auf die „Beschleunigungstheorie“ von Hartmut Rosa zurückgreifen und die Vorgänge des Jahres 2020 genauer analysieren. Geradezu exemplarisch ist der Zeitgewinn durch die extrem rasche Entwicklung von Impfstoffen – einschließlich ihrer Erprobung. Aber der technologische und wissenschaftliche Fortschritt erzeugt zugleich eine Zeitnot, denn die Erwartungen an die technische, wissenschaftlich fundierte Problemlösung erzeugen verstärkten Druck. Die Heilserwartung zum Ende restriktiver, sogar die Verfassungsfreiheiten einschränkender Kontrollpolitik erzeugt Zeitnot und keinen Zeitgewinn. Die „Steigerungsrate übersteigt die Beschleunigungsrate“ analysiert Hartmut Rosa präzise.
Vor allem aber: Da in der Krise der Bedrohung zur Rechtfertigung der Eingriffe des Staates durch die Art der öffentlichen Berichterstattung und die Inszenierung der Politik einschließlich ihrer wissenschaftlichen Beratung eine nicht mehr kontrollierbare Angst, kollektive Hysterie, entstanden ist, können die tatsächlich erreichten Sicherheiten diese Angst nicht mehr bändigen. Denn kein Impfstoff gibt eine lebenslange oder zumindest jahrelange Sicherheit gegen die Virusinfektion, die Kontrolle der Frage, ob eine Person tatsächlich geimpft oder getestet ist, wird zum neuen Fundamentalproblem, für das wieder eine technologische Lösung versprochen und entwickelt werden muss usw. Es steigert sich eine Paradoxie: Die Sicherheit, dass technologische Lösungen nur mit einer begrenzten Wahrscheinlichkeit die Infektionsgefahr einschränken können, erhöht wiederum das Angstpotential, vor allem bei bestimmten Gruppen, z. B. bei denen, die sich um kleine Kinder kümmern. Die Menschen müssen ständig die Erkenntnis verarbeiten, dass es keine absolute Lösung gibt, aber gleichzeitig so fest an die Wirkung einer vorläufigen Lösung glauben, dass sie alle Regeln einhalten. Aber warum sollten sie das tun, wenn es doch keine absolute Lösung gibt? Eine Folge ist dann entweder Anomie, das heißt, man hält sich nicht oder, wenn es opportun ist, nur begrenzt an Regeln oder man hält hysterisch an Regeln fest, auch wenn sich dies rational nicht mehr begründen lässt.
Das zweite Merkmal der Herausbildung eines Komplexes ist die Erweiterung der Handlungsebenen um transnationale Institutionen. Die Beschaffung von Impfstoff gegen den „Corona-Virus“ wurde auf die Ebene der EU verlagert, weil ein inner-europäischer Wettbewerb die noch vorhandene Reputation der EU vollständig beseitigt hätte und weil es um die Konkurrenz zwischen den ökonomischen Machtblöcken der Welt ging, in der die einzelnen europäischen Staaten nur eingeschränkt konkurrenzfähig gewesen wären. Der Wettbewerb hat sich innerhalb der EU und global auf die Ebene unterhalb der öffentlichen Kommunikation verlagert. Doch selbst die Verlagerung der Entscheidung auf die mächtigere europäische Ebene kann den Machtzuwachs der internationalen Impfstoffproduzenten nicht kompensieren. Lediglich die Aufhebung von Regeln der Patentsicherung erscheint den Staaten, die Recht setzen können, als Mittel zur Regulierung der Konzerne denkbar – aber sie setzen auch dieses Mittel zur Systemkonkurrenz ein: Nachdem die USA den Export von Impfstoff verhindert haben, die eigene Bevölkerung einen guten Impfstatus erreicht hat und Indien solchen Stoff braucht, dient die Androhung, die Patentrechte aufzuheben, der Strategie in der Systemkonkurrenz, Indien gegen den wachsenden Einfluss Chinas in Stellung zu bringen. Außerdem ist es eine billige Methode, die Sympathie der armen Staaten in der WHO wieder zu erhalten. Heuchelei allenthalben.
Ein drittes Merkmal bei der Herausbildung des MedIK auf einem neuen Entwicklungsniveau ist wie beim MIK im Kalten Krieg der gesellschaftliche Konsens (Regierung, Wissenschaft, zivilgesellschaftliche Organisationen, Medien) über die Problemdefinition und die Problemlösung. Insbesondere die Medien, darunter die Öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten und vor allem die überregionalen Zeitungen, definieren den Korridor, innerhalb dessen die gesellschaftliche Diskussion legitimerweise verlaufen darf. Kritische Stimmen werden früh ausgesondert, abgedrängt und schließlich diskriminiert und diskreditiert. Unterschiedliche Auffassungen werden dabei zu einem angeblichen Meinungsblock zusammengebunden und schließlich kriminalisiert. Kritik an den staatlichen Maßnahmen wird als Fundamentalkritik umgedeutet und damit an den Rand des Akzeptablen gedrückt. Wissenschaftliche Studien zur Wirkungslosigkeit der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung bzw. zu ihrer beschränkten Wirkung, die den Maßnahmen die Legitimation entziehen, werden nicht zur Kenntnis genommen oder an absoluten Maßstäben so gemessen, so dass sie am common sense abprallen. Aus dem System selbst kommen in den Leitmedien nur diejenigen zu Wort, die Alarmmeldungen anbieten. Das dient der Rechtfertigung politischer Kontrollstrategien, dem Faktor Alarmismus der Medien, die um Wahrnehmung kämpfen, und der Ressourcenmobilisierung des MedI-Komplexes. Medizinisch-ärztliche Differenzierungen der Situation haben wegen ihrer geringeren Lautstärke keine Chance, gehört zu werden. An diesem Punkt ist die Übereinstimmung mit der Dynamik des MIK im Kalten Krieg besonders stark. Schon für dem MIK der NATO hatte „Die Anstalt“ 11.5.2014 analysiert, wie die Redaktionsstuben der überregionalen Medienorgane zu „nationalen Niederlassungen der NATO-Pressestelle“ geworden waren.
Angesichts privater Entscheidungen über Investitionen scheint der Politik, also der Regierung eines Landes, nichts anderes übrigzubleiben, als großzügig Forschung und Produktion eines Impfstoffs und vor allem der neuen Technologien für die „Kultur des ewigen Lebens“ zu unterstützen und die Instrumente der staatlichen Finanzierung von Forschung, deren Ertrag dann privat angeeignet wird, verstärkt einzusetzen. Der Koalitionsvertrag für das Land Rheinland-Pfalz aus dem Mai 2021 beginnt mit der Verheißung: „In der Corona-Pandemie war Rheinland-Pfalz die Apotheke der Welt. Der Impfstoff von BioNTech basiert auf einer weltweit neuartigen mRNA-Technologie. Diese individualisierte Therapie kann der Schlüssel zur Überwindung schwerer Krankheiten, wie Krebs, Multiple Sklerose oder Diabetes sein. Wir wollen das Momentum der weltweiten Sichtbarkeit des Wissenschafts- und Biotechnologiestandortes Mainz insbesondere durch die Erfolge der Firma BioNTech nutzen, um schnell und zielgerichtet die gesamte Wertschöpfungskette am Standort dauerhaft zu sichern und zu erweitern. Rheinland-Pfalz soll zum führenden Standort für Biotechnologie ausgebaut werden. Gemeinsam mit der Stadt Mainz, der Universität Mainz, der Unimedizin und weiteren Akteuren werden wir die verschiedenen Maßnahmen bündeln. Ein:e Koordinator:in der Landesregierung für Biotechnologie wird zentrale:r Ansprechpartner:in für alle Akteure sein.“ (Die geschlechtergerechte Formulierung ist beeindruckend korrekt.)
Biontech residiert in Mainz in der Straße „An der Goldgrube“. In den ersten drei Monaten des Jahres 2021 hat die Firma einen Gewinn von 1,13 Milliarden Euro verzeichnet. Die Aktionäre erhalten bald Geld. Denn die Stadt, das Land und die Universitätsmedizin werden alles tun, was biontech wünscht. Und die Wissenschaftler, die Politiker und die Journalisten werden weiterhin zur Straße „An der Goldgrube“ pilgern und den Bitt- und Lobgesang anstimmen „St. Biontech, sorge für uns!“. Mainz wurde im Mittelalter als „Aurea Moguntia“, als das „Goldene Mainz“ bezeichnet. Der Mainzer Erzbischof trug den Titel “Erzbischof des Heiligen Stuhls von Mainz”, den ansonsten nur der Bischof von Rom trägt. Gleichzeitig erhielt der Mainzer Bischof den Titel eines Reichskanzlers. Wo Gold ist, kommt Gold drauf.
Methodische Schlussbemerkung
Die Quellen für einige Aussagen sind in diesem Beitrag angegeben, andere sind leicht zu finden. Wenn Daten berichtet werden, so stammen sie aus regierungsamtlicher Quelle oder anerkannten wissenschaftlichen Studien. Auf die Einzelnachweise habe ich verzichtet. Es geht bei einem solche Text nicht mehr um die Zahl der Anmerkungen, erst recht nicht darum, Quellenhinweise „in den Text hineinzuschaufeln“ – wie mein früherer Mitarbeiter Dr. Manfred Wöbcke zu sagen pflegte. Ich selbst kann dazu ein ambivalentes Verhältnis pflegen, denn in dem Berufungsvorschlag, der meiner Berufung an die Universität Mainz zugrunde lag, war ausdrücklich als Qualitätsmerkmal hervorgehoben worden, dass in meiner Dissertationsschrift 1.500 Anmerkungen verzeichnet seien. Fleiß lohnt sich.