Dass sich die Politik in Deutschland während der Pandemie bislang recht umsichtig verhalten hat, wird im Inland wie im Ausland überall gerne bestätigt. Auch die verschiedenen staatlichen Hilfsprogramme helfen wesentlich dabei mit, wirtschaftliche Strukturen, bedrohte Arbeitsplätze und damit soziale Existenzen breit abzusichern.
Allerdings gilt dies so offenbar nicht für den Bereich der Kultur. Der ist mit immerhin rund 1,2 Millionen Beschäftigten und fast 170 Milliarden Euro Umsatz im Jahr zwar ein heimlicher Riese – der nun jedoch deutlich wankt. Denn viele Kulturschaffende wie Kulturinstitutionen beklagen aktuell ihre fehlende existenzielle Absicherung. In dramatischen Szenarien wird davon ausgegangen, dass im nächsten Frühjahr wohl mehr als ein Drittel der Kultureinrichtungen in unserem Lande nicht mehr existiert.
Dies hat wesentlich mit zwei Besonderheiten des kulturellen Feldes zu tun, die in der Krise nun offenbar zum Handicap werden. Denn zum einen muss in diesen Tagen immer wieder darauf verwiesen werden, dass die Kultur eben nicht nur schmückendes Beiwerk oder elitäre Freizeitgestaltung ist. Dass Kultur vielmehr ein zentrales und buchstäbliches Lebens-Mittel unserer Gesellschaft verkörpert. Weil sie vor allem gemeinsame Erfahrungs- und Erlebnisformen herstellt. Weil sie intellektuell wie emotional Sinne schärft und Sinn stiftet. Und weil sie auch in hohem Maße humanitäre Bildung und Werte vermittelt – letztlich: gesellschaftliche Identität.
Kultur verkörpert damit in vieler Hinsicht jenen Kitt und Kick im Alltag, der unsere separierten Alltagsnischen und sozialen Blasen zusammenbringt und zusammenhält. Vom Fußball bis zum Chorsingen, vom Schützenverein bis zur Opernbühne, von der Kirche bis zum Club, von der Bürgerinitiative bis zur Internetgalerie schafft sie eigene Gruppen- und Praxisformen – quer durch die Milieus und Generationen.
Dabei ist Kultur in vieler Hinsicht sehr viel fragiler und prekärer aufgestellt als andere Wirtschafts- und Gesellschaftsbereiche. Denn vieles läuft bei ihr in Projektform und nur auf Zeit. Und vieles wird getragen von ehrenamtlichen, selbständigen oder „nebenberuflichen“ Kulturschaffenden.
Diese feine und vielfältige kulturelle Infrastruktur unserer Gesellschaft wird gerne übersehen und oft unterschätzt. Obwohl sie so zentral und wichtig ist gerade für die Gesellschaft und Kultur “vor Ort”, in den städtischen und dörflichen Nachbarschaften.
Wenn diese kulturelle Infrastruktur nun wegbricht, bricht mit ihr auch ein wesentlicher Teil unseres öffentlichen Lebens weg. Es wäre ein dramatischer kultureller Einbruch, der nach der Krise nicht einfach wieder repariert werden kann. Denn dann fehlen die aktiven Träger wie die tragenden Ideen und Räume. Kulturelle Infrastrukturen sind nachhaltig und müssen daher auch nachhaltig abgesichert werden!
Der zweite Punkt betrifft ein Paradoxon der Kultur, das erst unter Corona-Bedingungen zu Tage tritt. Denn Kultur organisiert sich in vielfältigen sozialen Formationen. Sie bringt Menschen, Interessen und Gefühle zusammen. Das ist ihr Programm: Sie „gruppiert“ und “verdichtet” unsere Gesellschaft! Und sie verführt uns damit zu physischer wie emotionaler Nähe: Sie schafft Gemeinschaft!
Mit dieser Eigenschaft jedoch wird Kultur eben leider auch zu Coronas Liebling. Denn soziale Nähe und emotionale Zuwendung schaffen zugleich jene Verbreitungswege, die das Virus braucht. Alltagskultur und Virenkultur haben also sehr ähnliche Voraussetzungen, wenn auch gegenteilige Folgen: Das eine formt Gesellschaft, das andere tötet sie! Eine unter Corona-Bedingungen zutiefst tragische Liaison!
Nun darf unsere Lösung dieses Paradoxons jedoch nicht zu Lasten der Kultur gehen. Wir können sie deshalb nicht erst einmal sein und sterben zu lassen. Um später, nach der physischen Gesundung der Gesellschaft auch wieder über deren kulturellen Wiederaufbau nachzudenken. Denn dann wäre die Kultur als Kollateralschaden des Virus möglicherweise schon Vergangenheit.
Vielmehr müssen politische Hilfsprogramme für die Kultur wie eigene Praxisformen der Kultur in sorgfältiger Weise neu ausbalanciert werden. Damit die kulturelle Infrastruktur erhalten bleibt. Damit wir auch neue kulturelle Formen des gesellschaftlichen Lebens mit dem Virus entwickeln und einüben. – Denn Corona wird in unseren Alltag wohl nicht nur in den nächsten Monaten, sondern auch in den nächsten Jahren noch seine Schatten werfen. Also müssen wir unsere Kultur endlich nachhaltiger absichern als das Virus seine Infektionswege!