Nazivergangenheit – Befreiungsschritte
Wolfgang Jantzen wurde noch während des Zweiten Weltkrieges geboren, beide Eltern waren ins Nazisystem verstrickt, der Vater, der als überzeugter Angehöriger der Waffen-SS 1944 fiel, und die Mutter als KZ-Ärztin. Im Sinne dieser Linie wurde er, wie er später schreibt, im Stil der NS-Pädagogik nach Haarer erzogen, die “eine Erziehung durch Bindungslosigkeit zu Bindungsunfähigkeit” (so Sigrid Chamberlain) war. Später, in Studium und Arbeit in der Nachkriegszeit bewegte er sich, wie er noch in seinem letzten Lebensjahr schrieb, in einer befreienden Atmosphäre gesellschaftskritischer Praxis, der Aufbrüche wie der 68-er Bewegung, der Proteste gegen den Vietnamkrieg und gegen Diktaturen.
Er arbeitete einige Jahre als Lehrer an einer Sonderschule, wurde später Psychologe und erhielt an der neu gegründeten Universität Bremen eine Professur für Behindertenpädagogik.
Während seines weiteren Lebens und bis ins hohe Alter hörte er nicht auf, eine befreiende Perspektive und Praxis zu entwickeln und zu verbreiten. Zugleich setzte er sich zeitlebens mit der Nazivergangenheit und deren gesellschaftlichen Spuren auseinander.
Soziale Isolation in Leben und Wissenschaft
Wolfgang Jantzen deutete manchmal an, dass soziale Isolation eine Rolle in seinem Leben spielte. Während ich ihn kannte, kämpfte er um das Gegenteil, um eine Ebene der sozialen Beziehung, wo Bezogenheit und der je andere Mensch an höchster Stelle stehen. Gerade bei sozialen und Humanwissenschaften ist der Lebensweg kaum von der wissenschaftlichen Tätigkeit zu trennen. In den Forschungen zum Wesen der Behinderung, welche Jantzen und seine Kolleg_innen im Widerstand gegen biologi(sti)sche Engführung zunehmend als “soziale Konstruktion” diskutierten, wurde die Isolation zur Grundkategorie des Begreifens. Und dies wiederum öffnete sich notwendigerweise gesellschaftlichen Fragen sowie der Bindungsforschung. Wissenschaftliche Aufgabe war daher die Erforschung der Bedeutung von Dialog und Bindung zwischen Menschen in psychischer und sozialer Hinsicht, sowie die Naturgeschichte der Bindung von Beginn der Evolution des Lebens an. Und gesellschaftlich (d.h. soziologisch, politisch, ökonomisch) ging es darum, die Strukturen der Anerkennung, Anrufung und der Ausgrenzung zu erkennen. Zur Herangehensweise bot sich die Marx’sche Analyse der Gesellschaftsstruktur an. Innerhalb einer kapitalistisch dominierten Gesellschaft, in der die Menschen tendenziell nach Effizienzgesichtspunkten, nämlich entweder nach ihrem Kapitaleigentum oder nach ihrer Verwertbarkeit als Arbeitskraft beurteilt werden (gerade hier ist immer wieder die Nazi-Vergangenheit Thema), gelten behinderte Menschen von vornherein als “Arbeitskräfte minderer Güte” (so Jantzen). Wenn man bedenkt, welche zentrale Bedeutung die soziale Beziehung in der Entwicklung des Menschen hat, was besonders von der Kulturhistorischen Schule herausgearbeitet wurde, dann kann ersichtlich werden, wie ungeheuer ein Mensch in seiner Entwicklung beschädigt wird, nachdem er/sie innerhalb solcher gesellschaftlicher Situation als “behindert” stigmatisiert worden ist. Die soziale Isolation aus Effizienzgesichtspunkten heraus reichte bis hin zur systematischen Vernichtung der Menschen in der Nazi-Zeit, und das Thema wurde relevant bis später bei der Singer-Debatte.
Wissenschaft: Behindertenpädagogik – universale Humanwissenschaft
Jantzen arbeitete in enger Orientierung an der in der Sowjetunion in den 20er Jahren entstandenen Kulturhistorischen Schule der Psychologie, für die besonders Lew Vygotskij, Alexander Lurija und Alexej Leontjew stehen. Hier seien einige Grundlagen des von Vygotskij begründeten Ansatzes genannt, den Jantzen weiter entwickelte. Für Vygotskij stellte sich das Problem, dass es nach einer Analyse sämtlicher zu seiner Zeit vorhandener psychologischer Literatur letztlich ‘zwei Psychologien’ zu geben schien, eine naturwissenschaftliche und eine geisteswissenschaftliche. Die naturwissenschaftliche arbeitete wie jede Naturwissenschaft mit dem Prinzip der Kausalität, erwies sich zugleich als reduktionistisch, vermochte nur rudimentäre und isolierte Funktionen des Menschen zu erforschen und war daher nicht in der Lage, einen qualitativen Unterschied zwischen Tier und Mensch zu erklären. Die geisteswissenschaftliche Psychologie behandelte dagegen die höchsten menschlichen Bildungen, welche von der naturwissenschaftlichen ausgelassen wurden, lehnte dabei das Prinzip der Kausalität ab und hielt sich anstatt dessen an Intentionalität und Teleologie. Die große Herausforderung für Vygotskij (und mir scheint, auch sein ‘großer Wurf’) war es, gerade die höchsten menschlichen Bildungen naturwissenschaftlich und kausal zu untersuchen. Und das wurde möglich mit der dialektischen Philosophie nach Hegel und Marx. Hier ist nicht der Platz, um die Philosophie zu besprechen. Aber ein Grundprinzip der Wissenschaft, das damit zusammenhängt, ist das der ‘Zelle’ oder der kleinsten synthetischen Einheit. Vygotskij argumentierte, dass man ein Phänomen nicht erklären könne indem man die Analyse bis hin zu den kleinsten Teilen fortsetzt. Wie etwa die Qualität des Wassers nicht damit erklärbar wird, dass man die Elemente Wasserstoff und Sauerstoff thematisiert, sondern erst durch die synthetische Einheit, das Molekül H2O, also eine Interaktion, welche neue Eigenschaften hervorbringt, so sei es auch in der Psychologie und anderen Humanwissenschaften notwendig, die kleinsten synthetischen Einheiten herauszufinden. Beispielsweise entstehen im Laufe der Entwicklung des Menschen qualitativ je neue psychische Systeme durch neue Strukturen der Interaktion und Beziehung zwischen verschiedenen neuronalen Funktionen und zwischen organischen (Hirn-)Strukturen unterschiedlichen phylogenetischen Alters. Mit solcher Herangehensweise thematisierte Vygotskij individuelle Entwicklungsphasen des Menschen in Relation zu verschiedenen sozialen Entwicklungssituationen, und damit vermochte er auch qualitative Unterschiede zwischen Tier und Mensch begreiflich zu machen – und zwar m.E. wissenschaftlich besser und philosophisch profunder als die etwas später entstehenden anthropologischen Ansätze von A. Gehlen und H. Schelsky. In dieser Linie arbeitete Jantzen weiter und behandelte genuin humane Bildungen als Themen der (Natur)Wissenschaft, wie beispielsweise Sinn und Bedeutung, soziale Bindung und Empathie, oder das Verhältnis zwischen Geist und Affekt; und er machte dies fruchtbar in der Behindertenpädagogik und im Kampf gegen die Reduktion behinderter Menschen auf massa carnis, auf bloße (sinn- und geistlose) Fleischmasse.
Wolfgang Jantzen hat eine Mammutarbeit geleistet, indem er Grundlagen aller relevanten Disziplinen studierte und integrierte, wie der Psychologie, Soziologie, Ökonomie, Philosophie, Biologie (z.B. Neurologie und Genetik), Verhaltensforschung, Kybernetik, um eine “synthetische Humanwissenschaft” zu erarbeiten. Damit hat er die gesellschaftlich eher marginalisierte Thematik der Behindertenpädagogik dermaßen tiefgründig behandelt, dass daraus ein Entwurf einer universalen Wissenschaft vom Menschen geworden ist.
Dieses Theoriegebäude geht weit über die Grenzen der Behindertenpädagogik hinaus, so forschte Jantzen nach seiner Emeritierung auch zu indigenen Völkern und unternahm mit fast 70 Jahren eine mehrwöchige Reise zur Forschung und interaktiven Bildung nach Brasilien, in die Region des oberen Río Negro im Amazonasgebiet. Weiterhin bereicherte er die Psychologie um eine Theorie der Emotionen. In Bezug auf sozialen Sinn, aber auch auf die Biologie, schlug er vor, immer die Innen- und Außenseite (philosophisch ‘für sich’ und ‘an sich’) zu untersuchen, wobei die (meist vernachlässigte) Innenseite die Fragen nach Subjekthaftigkeit, Bedeutung und Sinn betrifft. Ein Zusammendenken der Innen- und Außenseite ermöglicht es schließlich, von wechselseitigen Dialogen zu sprechen. Diese Thematisierung war nicht möglich ohne ein intensives Studieren philosophischer Fragen mit Autoren wie Spinoza, Hegel und Marx. Später kamen lateinamerikanische Autoren und Autorinnen hinzu wie die Philosophie der Befreiung, dekoloniale Studien und Feminismus des Südens.
Historische Dialektik eingebunden in Dialektik der Natur
Wie schon das Verhältnis zwischen den Humanwissenschaften Psychologie und Soziologie zur Biologie andeutet, war sich Jantzen immer bewusst, dass die historische Dialektik in eine Dialektik der Natur eingebunden ist. In diesem Sinne kritisierte er den Mainstream-Marxismus, der diese Tiefe vergessen hatte. (Noch wenige Tage vor seinem Tod schrieb er eine Email an die Veranstalter_innen eines geplanten Symposiums über Friedrich Engels und stellte es als angesichts der ökologischen Bedrohung unbegreifliche Auslassung hin, dabei die “Dialektik der Natur” von Engels nicht zu thematisieren.) Die Geschichte des Sinnes, der Innenseiten und der Widersprüche beginnt lange vor der menschlichen Geschichte; sie ist bereits in der Evolution des Lebens begründet. Jantzen hätte aber niemals überindividuelle evolutionäre Strukturen ohne Subjekte behandelt, wie es sowohl Theoretiker der Nazi-Zeit, als auch des Neoliberalismus (wie Fr. v. Hayek) taten. Es sind Subjekte, welche in Interaktionen die gesellschaftlichen Strukturen konstruieren, welche wiederum auf sie zurückwirken. Dabei ist mitgedacht, dass die Subjekthaftigkeit sowie Sinn und Bedeutung älter sind als der Mensch und früh in der Evolution beginnen, wie Wolfgang Jantzen und Georg Feuser in einem Text zur Entstehung des Sinns in der Weltgeschichte schon vor Jahren erarbeiteten.[1]
Subjekte
Die Subjekte, vor allem die Menschen, die ihrerseits in Interaktion überindividuelle Strukturen schaffen, standen immer bei ihm im Zentrum. Gegen das Primat scheinbar zeitloser Diagnosen in Psychologie und Psychiatrie entwickelte er die “rehistorierende Diagnostik”, wo sowohl der je andere Mensch von seiner Geschichte her gesehen wird, der jeweils für mich eine Offenbarung ist (Vgl. Enrique Dussel: “Offenbaren heißt, sich selbst der Verletzungsgefahr auszusetzen”), als auch ich den anderen Menschen nie wirklich verstehen kann, wenn ich mich nicht selber verwundbar mache und meinerseits offenbare (Wolfgang Jantzen: “Dieser Verletzungsgefahr setze ich mich jedoch auch selbst aus, indem ich durch Überschreiten der Grenze den Raum der Exklusion betrete. Ich begehe hierdurch nicht nur einen radikalen Kulturbruch, indem ich den oder die Ausgegrenzte(n) als Meinesgleichen anerkenne (und das und nur das ist in meinen Augen Inklusion!) und mich durch mein Verwundbar-Machen in seine/ihre Hände begebe, nein ich setze mich zugleich der massiven Verachtung durch die herrschende Kultur der teilnahmslosen Vernunft und der Kolonialiät aus.”).
Als vor ein paar Monaten der bedeutende Anthropologe David Graeber starb, bemerkte Wolfgang Jantzen: “Er hat Spuren hinterlassen.” Ähnliches würde ich auch von Jantzen behaupten. Er wird uns fehlen und hat uns zugleich ein humanes und wissenschaftliches Vermächtnis hinterlassen, das – so möchte ich fast wetten – noch ‘entdeckt’ werden wird.
[1]Die Entstehung des Sinns in der Weltgeschichte, im Internet:
http://www.basaglia.de/Artikel/Sinnkosmos.pdf