Die durch das Corona-Virus verschärfte gesellschaftliche Krise wirft eine Vielzahl pädagogischer/bildungspolitischer Grundfragen auf, die von den bildungspolitischen Akteurinnen und Akteuren bis hin zu Bündnis 90/Die Grünen und zur Linkspartei kaum thematisiert werden, obgleich jene existenzieller Natur sind. Die bildungspolitischen Diskussionen sind durch eine denkwürdige, hochproblematische systematische Verengung ihrer Fragestellungen gekennzeichnet. Gleichzeitig orientiert sich Bildungspolitik weitgehend an den Vorgaben der vorherrschenden Krisenbewältigungspolitik, ohne die damit verbundenen pädagogischen Grundfragen zu stellen Vornehmlich geht es um gesundheitspädagogische Aspekte, um die Auseinandersetzung mit Hygienekonzepten im schulischen Kontext oder um Fragen der digitalen Ausstattung. Die psychische und geistige Gesundheit von Kindern und Jugendlichen spielt in den hygienepolitischen Debatten zur Bildung, wenn überhaupt, dann nur eine untergeordnete Rolle. Nur am Rande werden die Bedenken von Pädiatrie und Pädagogik gegen die coronapädagogischen Technologien von der Bildungspolitik zur Kenntnis genommen.
Die pädagogische Grunddimension der gesellschaftlichen Krise ist jedoch eine viel tiefergreifende, deren Grundprobleme mit schnellen, pragmatistischen Eingriffen nicht zu lösen sind. Sie verlangt nach übergreifenden, längerfristig gültigen Antworten, die sich nicht auf hygienepädagogische Maßnahmen und schon gar nicht auf Strategien der Digitalisierung des Lernens begrenzen lassen, welche selbst wiederum neue Probleme für die Subjektwerdung produzieren. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind im Folgenden einige dieser elementaren, die gesellschaftliche Bildungspolitik herausfordernden Fragestellungen aufgelistet, die dringend in das Zentrum bildungspolitischer Debatten gerückt werden müssten:
- Welche kurz-, mittel- und langfristigen Sozialisationswirkungen hinsichtlich der Behinderung der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen sind durch die politisch verfügten Einschränkungen zu erwarten? Wie werden diese sich kurz-, mittel- und langfristig auf die psychische und geistige Gesundheit auswirken?
- Wie werden die Welt-Selbstverhältnisse von Kindern und Jugendlichen unter den Bedingungen des Lockdown und der sozialen Distanzierung verändert?
- In welcher Weise bestimmen/beeinträchtigen die verschiedenen Dimensionen der kulturindustriell geschürten und verbreiteten Angst (Angst vor Ansteckung und Tod; Angst vor der neuen Physiognomie des Sozialen, wie sie durch Maskierung, durch die Einführung sozialer Abstandsformationen in der Öffentlichkeit, das so genannte social distancing, sowie durch eine beschleunigte Digitalisierungsstrategie hervorgerufen wird]; Angst vor negativen Sanktionierungen) die kindlichen und jugendlichen Zukunftsvisionen und Lebensstimmungen?
- Zu welchen Bewältigungsstrategien greifen Kinder und Jugendliche angesichts der massiven Einschränkungen und der sich ausweitenden sozialen Kontrolle ihres Lebens- und Handlungsspielraums?
- Wie wirken sich das Prinzip der sozialen Distanzierung im Allgemeinen und die veränderte Physiognomie des Sozialen im Besonderen auf die interpersonellen Beziehungsverhältnisse und insbesondere auf die Wahrnehmung und die Gefühlszustände von Kindern aus?
- Welche möglichen (mittel- und langfristigen) Folgen kann die Einschränkung der haptisch-taktilen und der interpersonellen Kommunikation im Prozess der Sozialisation von Kindern auslösen?
- Inwieweit erfahren Kinder noch Solidarität unter gesellschaftlichen Bedingungen, die von den Direktiven sozialer Distanzierung, digitalisierter Kommunikation und Kontakteinschränkungen bestimmt werden? Welcher Schaden wird durch verweigerte Solidaritätserfahrungen angerichtet?
- Wie können die für eine demokratische Gesellschaft ebenso wie für eine emanzipative Subjektwerdung unerlässlichen, während der Krise erkennbar unter Druck geratenen Subjekteigenschaften (wie z. B. Reaktanz, geistiges Widerstandsvermögen, Kritikfähigkeit) restrukturiert und stabilisiert werden?
- Auf welche Weise können wir angesichts der autoritär verfügten, in Topdown-Strategien durchgesetzten politischen Maßnahmen und einer einseitigen Berichterstattung einen demokratischen Diskurs mit Kindern und Jugendlichen organisieren, der die Gesellschaft insgesamt in ihrem kritischen Urteilsvermögen konsequent stärkt?
Die gegenwärtige Bildungspolitik ist notwendigerweise verengt und kurzschlüssiger Natur, denn sie klammert zentrale pädagogische Grundfragen und Problemstellungen aus. Weitgehend reaktiv lässt sie sich von der ‚Logik‘ des politischen Corona-Krisenmanagements treiben. Um von einer bloß reaktiven Bildungspolitik wegzukommen, die lediglich die gesellschaftspolitischen Strategien der Bekämpfung der gesundheitlichen Gefährdung technokratisch in bildungspolitische Maßnahmen umsetzt, bedarf es nicht ‚nur‘ der pädagogisch-theoretischen Fundierung bildungspolitischen Handelns, sondern auch der pädagogisch-politischen Thematisierung der bislang höchst ungenügend reflektierten negativen Folgen für die Subjektwerdung und die pädagogischen Beziehungsverhältnisse, die vom Lockdown und allen ihn begleitenden und ihm folgenden extraordinären Maßnahmen erzeugt wurden und werden.