Allen internationalen Protesten zum Trotz wurde der Staudamm errichtet, der den Tigris im Tal von Hasankeyf aufstaut, so dass die Jahrhunderte alten Siedlungen dem Wasser weichen müssen. 10.000 Bewohner haben ihre Heimat verloren.[1] Das ist eine handgreifliche Enteignung, die Empörung weckt. Aber Enteignungen prägen die Vorbereitungsperiode und die Geschichte des Kapitalismus. Nur sind sie heute meist sublimer und verdeckter.
In der Nachkriegszeit in Westdeutschland, als ich jung war, schien die Welt in Ordnung. Das System schien alle zufrieden zu stellen. Von Ausbeutung zu reden, war nicht mehr „zeitgemäß“. Denn das Durchschnittseinkommen sicherte einer Familie einen wenn auch bescheidenen Lebensstandard. Auch für Alter und Krankheit war einigermaßen vorgesorgt; denn in jenem Kapitalismus gab es Reste von Solidargemeinschaft. Nicht nur war die Ausbeutung der Arbeitskräfte gegenüber früheren Zeiten moderat. Der von den Arbeitenden produzierte Mehrwert wurde von den Unternehmen für Re-investitionen verwendet, was das sog. „Wirtschaftswunder“ erklärt. Außerdem floss ein Teil davon, vom Staat als Steuer abgeschöpft, in öffentliche Einrichtungen von allgemeinem gesellschaftlichen Nutzen, in materielle und soziale Infrastruktur: Verkehr, Versorgung mit Wasser und Energie, Bildungseinrichtungen, soziale Dienste. Die Armut der öffentlichen Hand war damals noch fremd. Man erfreute sich räumlicher und sozialer Mobilität. Dem entsprachen Aufstiegserwartungen, Fortschrittsglaube, das Gefühl von Freiheit und Sicherheit.
Diese Variante von Kapitalismus war historisch bedingt durch die Erfordernisse des Wiederaufbaus, der mehr als bloße Ersatzinvestitionen und viele Arbeitskräfte verlangte, und durch die Konfrontation mit dem sozialistischen System im Osten, die zum Vergleich der sozialen Standards provozierte. Genauso historisch spezifisch war das Akkumulationsregime im frühen Fordismus und im New Deal der USA in den 1930er Jahren, wo man erkannte, dass, um die Realisierung des Mehrwerts sicher zu stellen, dem Markt genug Kaufkraft zugeführt werden musste. Dazu kamen staatliche Investitionen in die Infrastruktur. Beides verschaffte dem System eine hohe Legitimation. In den USA wie in Westeuropa wurde der Kapitalismus als Normalität erlebt und gelebt. Aber schon Marx hatte festgestellt: „Im Fortgang der kapitalistischen Produktion entwickelt sich eine Arbeiterklasse, die aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt“ (MEW 23, 765).
Einen anderen Kapitalismus erfahren die Menschen in den Ländern des globalen Südens, zumindest in Afrika und, wenn auch moderater, in Lateinamerika. Auch seit der Unabhängigkeit ihrer Staaten wird der natürliche Reichtum an Rohstoffen und landwirtschaftlichen Produkten wie früher im Kolonialsystem größtenteils exportiert. Aber nicht nur das – auch was an Mehrwert erwirtschaftet wird, wird bisher nur in geringem Maß reinvestiert, so dass kein nennenswertes Produktivvermögen entsteht. Dazu kommt der Gewinntransfer ins Ausland, besonders seitens der vielen ausländischen Unternehmen, die zudem oft Steuervergünstigungen genießen. Das Ergebnis ist, dass wenig in den Aufbau von Infrastruktur und in staatliche Dienste fließt. Der Staat ist arm und immer von neuem verschuldet. Die Menschen werden nicht nur ausgebeutet, d.h. dass sie durch ihre Arbeit Mehrwert schaffen, sondern sie werden, anders als zum Beispiel im „rheinischen Kapitalismus“ noch außerhalb des Produktionsprozesses jedes Anteils am Mehrwert beraubt. Die Infrastruktur bleibt dürftig, und der Staat lässt einen im Stich. Das Ausbeutungsverhältnis wird um Enteignung ergänzt.
Enteignung muss unterschieden werden von Ausbeutung (exploitation), der Aneignung des von den Arbeitenden im Produktionsprozess geschaffenen Mehrwerts (vgl. Harvey 2015, 75). Sie ist im Gegensatz zur Ausbeutung nicht unmittelbarer Teil des Kapitalverhältnisses, sie ergänzt den erweiterten Reproduktionsprozess des Kapitals. Whitfield (2020) übernimmt von Harvey den Begriff „dispossession“, Foster/ Clark (2020) bezeichnen Prozesse dieser Art als „expropriation“ oder „robbery“.
Was sich an den Ländern der Peripherie verdeutlichen lässt, wird zunehmend auch Realität in den Ländern des Zentrums, bedingt durch Überproduktionskrise und Globalisierung. Seit Jahrzehnten fällt die Investitionsquote (Zinn 2015, 38). Zinn spricht von einer „Akkumulationsflaute“ (41). Während produktive Investitionen zurückgegangen sind und weiter zurückgehen – die Corona-Krise wird den Trend verstärken – nehmen Übernahmen durch institutionelle Anleger zu, die nur an der kurzfristigen Ausschlachtung eines Unternehmens interessiert sind. Bei sinkender Profitrate in der Produktion von Gütern dienen „Anlagemärkte als Wachstumselixier“ (43). Es kommt zur Finanzialisierung der Wirtschaft. Und da die Anlagemöglichkeiten beschränkt sind, hat das anlagesuchende Kapital ein Auge auf die öffentlichen Einrichtungen geworfen. Diese wecken wegen der sicheren Nachfrage die Begehrlichkeit der Anleger. Vielversprechend ist zudem häufig die Monopolstellung von öffentlichen Unternehmen, Verkehrsgesellschaften oder Energieunternehmen beispielsweise. So erklärt sich der Trend zur Privatisierung bisher staatlicher Einrichtungen. Schon mit dem Übergang in die privatrechtliche Form ist die Unterwerfung unter das betriebswirtschaftliche Kalkül verbunden. Die Leistungen werden auf einem Markt oder Quasi-Markt angeboten und kaufkraftabhängig.
Finanzialisierung und Privatisierung führen dazu, dass der gesellschaftlich erwirtschaftete Mehrwert nicht einmal mehr in Bruchteilen den gesamtgesellschaftlichen Nutzen erhöht. Nicht nur ist die Einkommens- und Vermögensungleicheit so groß geworden ist wie seit einhundert Jahren nicht mehr (Piketty 2020). Dazu kommt – das ist der Fokus unserer Kritik – die Armut der öffentlichen Hand, vor allem auf der Ebene der Kommunen, wo der überwiegende Teil der staatlichen Leistungsverwaltung angesiedelt ist, was zu weiteren Privatisierungen verleitet.
Aber nicht nur das. Das Kapital hat es damit fertig gebracht, Profit aus der Befriedigung elementarer Lebensbedürfnisse wie Wohnen und räumlicher Mobilität zu schlagen. Man könnte sagen: was der einzelne geschäftstüchtige Kapitalist in dem schon von Marx angeprangerten Trucksystem praktiziert hat und heute noch mancherorts praktiziert (MEW 23, 493, 696), das macht das Kapital inzwischen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Im Trucksystem waren und sind die Arbeiter*innen auf die vom Unternehmer vermieteten Unterkünfte und die von ihm verkauften Lebensmittel angewiesen und damit voll abhängig.[2] Der Unternehmer zieht den Arbeiter*innen selbst noch den Lohnanteil an dem von ihnen erarbeiteten Wert aus der Tasche.
Nicht nur im historischen Rückblick müssen wir zwei Modi der Enteignung unterscheiden: a. die Beraubung vorkapitalistischer Gemeinwesen, bestehend in der Enteignung von Boden, Wasser, Wäldern, kurz der natürlichen Reichtümer, und auch die Enteignung tradierten Wissens umfassend , und b. die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen und Dienste in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften. Im ersten Fall geht es um den Zugriff auf die Ingredienzien des kapitalistischen Verwertungsprozesses, die „ursprüngliche Akkumulation“ also, im zweiten Fall um die Annullierung dessen, was Ergebnis gesellschaftlicher Verteilungskämpfe um das Mehrprodukt ist.
Für David Harvey ist „die Strategie der Enteignung noch immer ein zentrales Element der kapitalistischen Welt“ (2015, 80; vgl. 2007, 90). Er schließt damit an Rosa Luxemburg an, die überzeugt war, dass die kapitalistische Akkumulation fortwährend auf Enteignungen angewiesen ist, sei es durch ökonomischen oder außerökonomischen Zwang. Harvey wählt zur Unterscheidung von dem historischen Begriff der „ursprünglichen Akkumulation“ den Begriff „Akkumulation durch Enteignung“ (accumulation by dispossession). Diese kann mit militärischer Gewalt vollzogen werden wie in manchen Ländern des globalen Südens. Heute werden aber Strategien des Finanzmarkts oder institutionelle Vorgaben der supranationalen Institutionen genutzt oder auch ganz einfach die Marktmacht. In den Strukturanpassungsprogrammen des Internationalen Währungsfonds sieht Harvey einen Schritt, „um Akkumulation durch Enteignung in verschiedenen Bereichen und Gesellschaften durchzusetzen“ (2007, 92).
Enteignungen sind der kapitalistischen Produktionsweise eingeschrieben. Erstens drängt ihre Rationalität auf Produktion im großen Maßstab, auf Konzentration und Zentralisation, was den kleinen Produzenten, Handwerkern und Bauern, die wirtschaftliche Existenz kostet, sofern sie nicht als Zulieferbetriebe überleben. Zweitens führen Rohstoffhunger und Energiebedarf mit dem Bau von Bergwerken, Staudämmen etc. unvermeidlich zur Zerstörung der Lebensräume von Gemeinschaften, meist zu deren Vertreibung. Dasselbe geschieht mit der Externalisierung ökologischer Kosten. Und mit staatlichen Rettungsmaßnahmen für Unternehmen, die als „systemrelevant“ gelten, findet eine Enteignung der Allgemeinheit statt. Die Bankenrettungsschirme sind für Karl Georg Zinn „faktisch eine Privatisierung öffentlicher Finanzen“ (2015, 64).[3] Neben solch indirekter Privatisierung ist die Privatisierung von Infrastruktur und staatlichen Diensten zum neuen Modell der Kapitalverwertung geworden. Wenn die Siedlungen im Tal wie Hasankeyf einem Stausee weichen müssen, ist die Enteignung greifbarer und brutaler, aber nicht so allgemein.
Literatur:
Foster, John B./ Clark, Brett (2020): The Robbery of Nature: Capitalism and the Ecological Rift. New York.
Harvey, David (2015): Siebzehn Widersprüche und das Ende des Kapitalismus. Berlin.
Piketty, Thomas (2020): Ökonomie der Ungleichheit. Eine Einführung. 3. Aufl. München.
Whitfield, Dexter (2020): Public Alternative to the Privatisation of Life. Nottingham.
Zinn, Karl Georg (2015): Vom Kapitalismus ohne Wachstum zur Marktwirtschaft ohne Kapitalismus. Hamburg.
[1] Die meisten der einst 10.000 Bewohner wurden vertrieben. 2.000 wurden von der Administration umgesiedelt.
[2] Ein aktuelles Beispiel liefern die in der Corona-Krise geoffenbarten und skandalisierten Zustände in der Fleischindustrie.
[3] In der Finanzkrise von 2008/09 wurden EU-weit mehr als 1,6 Billionen Euro zur Rettung „systemrelevanter“ Banken ausgegeben.