1967 berichtet der langjährige Bethel-Mitarbeiter Wilhelm Brandt in seiner Biografie zu Friedrich von Bodelschwingh d.J., dass jüdische Patient*innen im Rahmen der Krankenmordaktion T4 aus Bethel deportiert und getötet wurden (vgl. Brandt 1967, S. 186f.).
1983 veröffentlicht Ernst Klee das Buch „Euthanasie“ im NS-Staat“, wo ausführlich auf Bethel und Deportationen aus Bethel im Nationalsozialismus eingegangen wird (vgl. Klee 1983).
1997 veröffentlich Anneliese Hochmuth umfangreiche Akten zu Bethel in der NS-Zeit in ihrem Buch „Spurensuche. Eugenik, Sterilisation, Patientenmorde und die v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel 1929-1945“ (Hochmuth 1997).
2014 veröffentlichte Barbara Degen das Buch „Bethel in der NS-Zeit. Die verschwiegene Geschichte.“ (Degen 2014). In diesem Buch wird erstmals anhand einer Statistik des Hauptarchivs Bethels aus dem Jahre 2012 veröffentlicht, dass über zweitausend Kinder, davon 80 Prozent Säuglinge, im Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ in Bethel in der Zeit des Nationalsozialismus gestorben sind (vgl. Degen 2014, S. 28f.). Die Sterberate der eingelieferten Kinder stieg von jährlich 7 Prozent auf über 20 Prozent in den Jahren 1940, 1944 und 1945 (vgl. ebd.).
2014 kommt es auf Tagungen an der Universität Bielefeld und in Bethel eher zu wechselseitigen Vorwürfen als zu konstruktiv-fachlichen Auseinandersetzungen zur Klärung der Frage der vielen verstorbenen Kinder (vgl. NW 2014: https://www.nw.de/lokal/bielefeld/mitte/11298854_Bethel-und-Buchautorin-im-Clinch.html ).
2016 wird die von Bethel beauftragte Studie von Karsten Wilke: „Das Betheler Krankenhaus „Sonnenschein“ 1929-1950. Annäherung an die Geschichte eines Krankenhauses im Kontext von Nationalsozialismus und Krieg“ (Wilke 2016) veröffentlicht.
2019 wird auf der Tagung „Die offene Frage der vielen verstorbenen Kinder im Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ in Bethel im Nationalsozialismus“ an der Fachhochschule Bielefeld von Barbara Degen und Karsten Wilke der große Forschungsbedarf benannt hinsichtlich der Frage, warum so viele Kinder in dieser Zeit im Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ gestorben sind (NW 2019a)
Im Sommer 2019 leitet die Staatsanwaltschaft Dortmund anhand von eigenen Recherchen und Presseberichten (vgl. u.a. NW 2019a) eine staatsanwaltliche Voruntersuchung ein, um die Frage möglicher Morde zu klären. Beauftragt wird das Landeskriminalamt Düsseldorf mit der für im Verbrechen im Nationalsozialismus zuständigen Einheit (https://www.lz.de/lz_serien/auschwitz_prozess/20797554_Der-Mann-der-die-NS-Verbrecher-jagt.html ). Das Vorermittlungsfahren, so die Staatsanwaltschaft Dortmund im Dezember 2019 in einer schriftlichen Mitteilung, wird 2020 fortgeführt. Zum einen sollen Beweise für mögliche Tötungen gesucht und zum anderen noch lebende potentielle Täter*innen gefunden werden, um dann ggf. ein Hauptermittlungsverfahren zu eröffnen.
2018 und 2019 führen das Forschungsteam der Fachhochschule Bielefeld zu Bethel im Nationalsozialismus Interviews mit Personen durch, die in Bethel im Nationalsozialismus tätig waren, eine davon im Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“. Eine Neuigkeit waren Versuche des Chefarztes von Bernuth gemeinsam mit dem Herforder Kinderarzt Heinz Lemke, um aus Kuhmilch einen Muttermilchersatz für Säuglinge zu erfinden. Die Ergebnisse waren eine Grundlage der Gründung der Herforder Firma Humana (https://www.humana.de/ueber-uns/meilensteine/ ).
Im Winter 2019 taucht nach der gezielten Suche nach Sterblichkeit in Säuglingsheimen und Kinderkrankenhäusern eine bereits 1986 veröffentlichte Studie zum Kaiserin-Auguste-Victoria- Haus in Berlin auf (vgl. Ballowitz 1986). Dies ist eine in Teilen noch ausführlichere Studie als diejenige von K. Wilke.
Im Januar 2019, Oktober 2019 und Dezember 2019 behaupten der Leiter der Betheler Pressestelle (NW 2019b), die Leiterin des Hauptarchivs (Stockhecke 2019) und der Vorstandsvorsitzende der von Bodelschwinghschen Anstalten (Pohl 2019) durch die Forschungen von Karsten Wilke 2016 seien alle Fragen geklärt.
Wieso weiter geforscht werden muss
Nachdem Barbara Degen die Akten vieler im Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ gestorbener Kinder gefunden hatte und dies in den Ein- und Ausgangsbüchern des Kinderkrankenhauses bestätigt wurde, versäumten es die Bethel-affinen Historiker*innen noch lebende Zeitzeug*innen, die im Nationalsozialismus im Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ tätigen Personen zu befragen und die Ergebnisse in ihre Studien einzubeziehen (vgl. Benad u.a. 2016, Schmuhl 2017). Stattdessen wird systematisch behauptet (s.o.), die Studie von Karsten Wilke, der ebenfalls keine Zeitzeug*innen-Interviews durchführte, hätte die Frage, ob im Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ getötet wurde, geklärt. Dies ist beim Lesen der Studie von Wilke als unzutreffend einzustufen:
Karsten Wilke schreibt in seiner Studie: „Der Blick in die einschlägige Forschungsliteratur führt zu einem bemerkenswerten Befund. Bisher liegt insgesamt weder für ein Erwachsenen- noch für ein Kinderkrankenhaus überhaupt eine Studie zur medizinischen Entwicklung vor.“ (Wilke 2016, S. 46) Er fährt fort: „Mit diesem Beitrag über die Kinderheilkunde in Bethel von der Eröffnung des Kinderkrankenhauses „Sonnenschein“ im Jahre 1929 bis in die
späten 1940er Jahre soll mithin erstmals ein Versuch unternommen werden, in exemplarischer Weise Erkenntnisse über die Rolle eines Krankenhauses als medizinischer Versorger zu erarbeiten sowie Fragen für zukünftige Forschungen zu entwickeln. (…) Um zu tragfähigen Aussagen über Medikation, die Pflege und nicht zuletzt auch über das Sterben in einem Krankenhaus gelangen zu können, bedürfte es eines gut ausgestatteten Quellenkorpus, insbesondere mit Patientenakten und Selbstzeugnissen. Leider existieren derartige aussagekräftige Dokumente für die Betheler Kinderkrankenhaus nicht. Die grundsätzlich unbefriedigende Quellen- und Forschungslage macht es zudem unmöglich, aus Erkenntnissen zu Entwicklung in anderen Krankenhäusern Rückschlüsse auf den Untersuchungsgegenstand zu ziehen“. (Wilke 2016, S. 47-48) Und der Text endet mit folgendem Fazit: „Die vorliegende Arbeit zum Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ hat erheblichen Forschungsbedarf im Bereich der Medizin- und Krankenhausgeschichte zutage gefördert. (…) Niemand kann derzeit sagen, ob `Sonnenscheins´ Sterblichkeitsraten hoch, durchschnittlich oder möglicherweise sogar gering gewesen sind. (…) Nach wie vor existiert keine entsprechende Forschungsarbeit, so dass es nicht einmal möglich ist, Spezifika von Kinder- und Erwachsenen-Krankenhäusern zu identifizieren. Alles spricht hier dafür, dass Forschungsfeld „Krankenhäuser“ weiter zu bestellen.“ (Wilke 2016, S. 116)
Zusammengefasst sagt Wilke zum einen, dass das von ihm herangezogene Material keine Aussage erlaubt zur Frage, ob in Bethel im Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ getötet wurde, es muss weiter geforscht werden. Zum anderen kannte er offenkundig die Studie zum großen Säuglings- und Kinderkrankenhaus in Berlin nicht (vgl. Ballowitz 1986). Mit Ausnahme von 1934 und 1945 sind im Vergleich der Studien von Degen, Wilke und Ballowitz die Sterberaten in den meisten Jahren im und nach dem Krieg in Bethel höher als in Berlin. Der Vergleich der beiden Häuser erscheint unter Hinzuziehung von regionalgeschichtlichen Quellen als fruchtbar.
Hier nun ein vergleichender Überblick über die beiden Säuglings- und Kinderkrankenhäuser:
Hauptarchiv Bethel 2012 in Degen 2014 | Wilke 2016 | Ballowitz 1986 | |
1934 | 7,37 % (46 von 592 Kindern gestorben) | (keine Angabe) | 10% (158 von 1569 Kindern gestorben) |
1939 | 14,26 % (190 von 1332 Kindern gestorben) | 13,25% (191 von 1441 Kindern gestorben) | 14 Prozent (255 von 1866 Kindern gestorben) |
1940 | 20,55 % (278 von 1353 Kindern gestorben) | 19,49% (290 von 1488 Kindern gestorben) | 16 % (200 von 1217 Kindern gestorben) |
1941 | 13,28 % (180 von 1355 Kindern gestorben) | 12,28% (183 von 1490 Kindern gestorben) | 11 % (168 von 1482 Kindern gestorben) |
1942 | 14,18 % (190 von 1340 Kindern gestorben) | 12,92% (194 von 1501 Kindern gestorben) ) | 13 % (211 von 1583 Kindern gestorben) |
1943 | 17,06 % (233 von 1366 Kindern gestorben) | 15,95% (241 von 1511 Kindern gestorben) | 11 % (141 von 1308 Kindern gestorben) |
1944 | 21,38 % (259 von 1215 Kindern gestorben) | 20,26% (269 von 1328 Kindern gestorben) | 12 % (94 von 773 Kindern gestorben) |
1945 | 23,03 % (276 von 1199 Kindern gestorben) | 20,42 % (275 von 1347 Kindern gestorben) | 30 % (431 von 1417 Kindern gestorben) |
1946 | Keine Angabe | 19,09 % (367 von 1922 Kindern gestorben) | 11 % (142 von 1273 Kindern gestorben) |
1947 | Keine Angabe | 15,11% (308 von 2038 Kindern gestorben) | 12 % (137 von 1176 Kindern gestorben) |
Zu recherchieren ist neben den hohen Sterberaten in beiden Häusern, wieso das Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ derart viele Säuglinge aufgenommen hat, da auch andere Krankenhäuser u.a. in Bielefeld und im Regierungsbezirk Minden Säuglinge aufnahmen und dort Geburten begleiteten. Zudem ist zu berücksichtigen, dass auch im Berliner Krankenhaus, Ärzte tätig waren, die aktiv „eugenisches“ Gedankengut befürworteten und an problematischen Medizinversuchen beteiligt waren, so der Arzt Georg Bessau (vgl. Ballowitz 1986, Schweizer-Martinschek 2008).
Barbara Degen hatte in ihrem Buch von 2014 und auf ihrem Tagungsvortrag 2019 sowohl krankenfeindliche Äußerungen des damaligen Chefarztes des Kinderkrankenhauses Fritz von Bernuth zitiert: „Was vorher den kranken Kindern zugutekam, soll nun den gesunden Kindern zugutekommen!“ (von Bernuth 1934) als auch den Kontakt zwischen F. von Bodelschwingh d.J. mit Karl Brandt, einem der Leiter der Krankenmord-Aktion T4 in Berlin, beschrieben. Nach neueren Recherchen von Barbara Degen und dem Forschungsteam der Fachhochschule Bielefeld zu Bethel im Nationalsozialismus zeigt sich ein Zusammenhang zwischen Sterberaten, dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (1934) mit Erlassen für Hebammen (1939; vgl. Lisner 2006), alle geborenen Kinder zu erfassen und zu begutachten (vgl. Vossen 2001) und Erlassen zu Abtreibungen (vgl. Stadtler/ Reichärztekammer 1936).
Die Beweis- und Argumentationskette, die für die systematische Tötung von Säuglingen im Kinderkrankenhaus „Sonnenschein“ spricht, ist nach Einschätzung vieler Expert*innen überzeugend (vgl. Audio-Dokumentation Expert*innen-Tagung im Sommer 2019 an der FH Bielefeld). Insgesamt ist die Frage von Säuglingsmorden von der Krankenmord-Forschung („Euthanasie“-Forschung) in nahezu allen Städten und Krankenhäusern ein unzureichend bearbeitetes Thema. So ist es nicht nur, aber auch, in Bethel Zeit, die Frage von möglichen systematischen Säuglingstötungen systematisch zu untersuchen – seitens von Historiker*innen und der Polizei.
Literatur
Ballowitz, Leonore (1986): Schriftenreihe zur Geschichte der Kinderheilkunde aus dem Archiv des Kaiserin Auguste Victoria Hauses (KAVH) – Berlin. Heft 1. Aufnahmefrequenz, Diagnosen und Letalität im KAVH 1909 – 1947). Berlin: Humana Milchwerke Westfalen GmbH.
Benad, Matthias/ Cantow, Jan/ Schmuhl, Hans-Walther, /Stockhecke, Kersin (2016): „Unter Einsatz all unserer Kräfte Anwälte unserer Kranken sein.“ Bethel und die nationalsozialistischen Krankenmorde – ein Überblick über den Stand der Forschung. In: Benad, Matthias/ Schmuhl, Hans-Walter/ Stockhecke, Kerstin (Hrsg.): Bethels Mission (4). Beiträge von der Zeit des Nationalsozialismus bis zur Psychiatriereform. Bielefeld: Luther-Verlag, S. 17-28
Brandt, Wilhelm (1967): Friedrich v. Bodelschwingh. 1877–1946. Nachfolger und Gestalter. Verlagshandlung der Anstalt Bethel, Bielefeld
Degen, Barbara (2014): Bethel in der NS-Zeit. Die verschwiegene Geschichte. Bad Homburg: Verlag für akademische Schriften.
Fachhochschule Bielefeld (2019): https://www.fh-bielefeld.de/presse/pressemitteilungen/diskurs-der-oeffentlichkeit-zugaenglich-machen
Hochmuth, Spurensuche. Eugenik, Sterilisation, Patientenmorde und die v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel 1929-1945, hrsg. v. Matthias Benad, Bielefeld 1997,
Klee, Ernst (1983): „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Frankfurt am Main: Fischer
Lisner, Wiebke (2006): „Hüterinnen der Nation“. Hebammen im Nationalsozialismus. Frankfurt/Main – New York: Campus Verlag.
NW Neue Westfälische (2019a): https://www.nw.de/lokal/bielefeld/mitte/22473731_Interview-zu-Euthanasie-Forschung-Wenn-es-ernst-wird-schaut-Bethel-weg.html
NW Neue Westfälische (2019b): https://www.nw.de/lokal/bielefeld/mitte/22473723_Euthanasie-Verdacht-Bethel-unter-Druck.html
Pohl, Hans-Ulrich (2019): Redemanuskript Adventskonferenz Dezember 2019. Bethel
Schweizer-Martinschek, Petra (2008): NS-Medizinversuche: „Nicht gerade körperlich besonders wertvolle Kinder“. In: Dtsch Arztebl. 105(26), 2008, S. A-1445
Stadler, Hans/ Reichsärztekammer (1936): Richtlinien für Schwangerschaftsunterbrechung und Unfruchtbarmachung aus gesundheitlichen Gründen. München: J-F. Lehmanns Verlag
Stockhecke, Kerstin (2019): Die Kinderklinik Sonnenschein und ihr Chefarzt. Differenzierte Auseinandersetzung mit der NS-Zeit (Folge 2) In: Der Ring, Bielefeld: Bethel, S. 22-23
Schmuhl, Hans-Walter (2017): Heroisierung, Skandalisierung, Historisierung. Die NS-Euthanasie“ in der Erinnerungskultur diakonischer Einrichtungen, in: Hermle, Siegfried/ Pöpping, Dagmar (Hrsg.): Zwischen Verklärung und Verurteilung. Phasen der Rezeption des evangelischen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus nach 1945 (= Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte) Göttingen, S. 271-282
Von Bernuth, Fritz (1934): Schwesterntag am 1. Juli 1934, in: Schwesternbrief v. 5. Juli 1934, in: Hauptarchiv Bethel, HAB, Slg. Schwesternbriefe u. -tage
Vossen, Johannes (2001): Gesundheitsämter im Nationalsozialismus. Rassenhygiene und offene Gesundheitsfürsorge in Westfalen 1900–1950. Essen: Klartext Verlag.
Wilke, Karsten (2016): Das Betheler Krankenhaus „Sonnenschein“ 1929-1950 In: Benad, Matthias/ Schmuhl, Hans-Walter/ Stockhecke, Kerstin (Hrsg.): Bethels Mission (4). Beiträge von der Zeit des Nationalsozialismus bis zur Psychiatriereform. Bielefeld: Luther-Verlag, S. 45-117 Im Internet zu finden unter: https://bit.ly/2kkk3PV4 oder https://www.bethel.de/fileadmin/Bethel/downloads/historie/Kinderkrankenhaus_und_Bibliografie_Auszug_aus_Bethels_Mission_4_Luther-Verlag.pdf