Prof. Dr. Claus Melter | Hochschule Bielefeld
Audre Lorde erinnert in ihrer Gedichtzeile „we were never meant to survive“/ „wir waren nie bestimmt zu überleben“ (Lorde 1978/1993)[1] sowohl an koloniale und rassistische Genozide und Morde, an die Kontinuität des Rassismus als auch an die Überlebenskraft und den Widerstand von Menschen afrikanischer Herkunft, von Menschen, die alltäglich Rassismus erleben. Audre Lorde hat in ihren Berliner Jahren insbesondere Schwarze Frauen in Deutschland ermutigt, sich zu vernetzten, die eigenen Geschichten aufzuschreiben, sie zu erzählen, zu veröffentlichen.
Mdachi bin Scharifu kritisierte in den 1920er Jahren sowohl die rassistische Gesetzgebung und Polizeigewalt in den von deutschen unterworfenen Kolonien und forderte ebenso wie Martin Dibobe (http://www.homestory-deutschland.de/biografien/martin-dibobe/detail.html) gleiche Bürgerrechte für alle dort lebenden Personen sowie ein Ende der rassistischen Ausbeutung der Arbeitenden. Zudem setzte sich Mdachi bin Sharifu gegen rassistische Abwertungen und ungleiche Bezahlung in Deutschland an. Mit seinen Reden über „unsere koloniale Vergangenheit“ gilt er als erster öffentlicher Rassismuskritiker afrikanischer Herkunft im zwanzigsten Jahrhundert in Deutschland und als erster, der gegen Rassismus klagte und vor Gericht ging.
Bebero Lehmann weist in ihrem Text „Mehr als Klassenkampf.“ darauf hin, dass in Hamburg und Berlin seit 1918 Schwarze marxistische Gruppierungen entstanden und diese einen panafrikanischen Sozialismus vertraten (Lehmann, Beboro in Neues Deutschland vom 03.08.2019) auf die Verbindung kapitalismus- und rassismuskritischer Selbstorganisationen und Forderungen hin[2].
Im Nationalsozialismus ging es dann vor allem um das Überleben als Angehörige verfolgter Gruppen. Zu Unrecht verschwiegen wird dabei in der Regel der vielfache Rettungswiderstand, verbale und auch militärische Widerstand jüdischer Personen, wie Arno Lustiger in seinem Buch „zum Kampf auf Leben und Tod. Vom Widerstand der Juden 1933-1945“ belegt. Philomena Essed (1990) zeigt in ihren Werken zu Everyday Racism“ zum einen die Verbindung von Sexismus und Rassismus, den vergeschlechtlichten, gegenderten Rassismus und zum anderen die Alltäglichkeit von Rassismus. Alltagsrassismus wirkt täglich in Strukturen, Institutionen, öffentlichen Diskursen, Begegnungen und in unseren Selbstbildern. Auf den seit den 2000er Jahren bis heute zunehmenden antimuslimischen Rassismus weist u.a. Kübra Gümüşay in ihren überzeugenden Texten und Reden hin (https://www.youtube.com/watch?v=BNLhT5hZaV8). Die materielle und physische Ausbeutung von Menschen, die im globalen Rassismus benachteiligt sind, führt zu unterschiedlichen Ernährungs-, Bildungs- und Lebenschancen. Menschen, die gegenüber Diskriminierung, Hunger, Ausbeutung und Krieg in Länder mit besseren Möglichkeiten ziehen wollen, werden sowohl von den USA als auch von der EU in ihrem Recht auf Bewegungsfreiheit, auf freie Arbeitswahl oder schlicht dem Recht auf Leben eingeschränkt und zum Teil sterben gelassen. Migrationsfeindliche Diskurse, Gesetze und Praxen dominieren und stabilisieren die globalen Ausbeutungsverhältnisse.
Wen adressiert Rassismuskritik?
W.E.B. du Bois, der mehrere Jahre in Deutschland studiert hat, hatte bereits 1903 in seinem grundlegenden Werk „The Souls of Black Folk – die Seelen der Schwarzen)“ (1903 – auf Deutsch 2003 erschienen) seine Hoffnung und Forderung formuliert, dass die rassistischen Diskriminierungen in den Bereichen Bildung, Medien, Arbeit und Wohnen beendet werden. Er plädierte für die Selbstorganisation der afro-amerikanischen Bevölkerung und zum Teil auch für die Schaffung eigener Institutionen, da nicht auf die im Rassismus privilegierten, die Weißen, zu warten oder zu hoffen sei, da sie ihre Vorteile nicht freiwillig abgeben würden.
In diesem Sinne zielt das Self-Empowerment von Schwarzen, People of Colour, rassismuserfahrenen Personen auch heute auf die Selbstorganisation, die gemeinsame Reflexion, das Stärken der Widerstandspotentiale von Personen, die alltäglich Rassismus erleben, und auf das Durchsetzen gemeinsamer Ziele, auch durch eigene Institutionen. „Empowerment als Erziehungsaufgabe“ (Nkechi Madubuko 2018) adressiert darüber hinaus auch die privat und professionell Erziehungsverantwortlichen, da alle, auch die im Rassismus Privilegierten, dafür Verantwortung haben, das in pädagogischen Kontexten Rassismus thematisiert, dagegen interveniert und rassismuserfahrene Personen geschützt und gestärkt werden.
Im Sinne von bell hooks (1997) ist die Ideologie der weißen Überlegenheit, der white supremacy[3], zu thematisieren und sind somit auch oder vor allem die im Rassismus privilegierten Personen, die Weißen, zu adressieren, damit im Prozess von gesellschaftlicher und persönlicher Reflexion eigenen Bilder und Privilegien abgebaut und Ressourcen geteilt werden.
Langsame Verbesserungen oder Kämpfen auf verlorenem Posten?
Insgesamt scheinen rassismuskritische Positionen in einigen akademischen, pädagogischen und selbst organisierten Gruppen zunehmend verbreitet zu sein und auch im Kontext des institutionellen Rassismus zu größeren Mobilisierungen zu führen, wie die Proteste gegen rassistische Polizei und Justiz in Bezug auf den NSU (https://www.nsu-tribunal.de/) oder den Mord an Oury Jalloh (https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/) zeigen. Die Forderungen, institutionellen Rassismus und konkrete Gewalt angemessen zu untersuchen und polizeilich, juristisch zu verfolgen, werden weitestgehend blockiert und ins Leere laufen gelassen.
Die Dominanzkultur stabilisiert und stärkt rassistische Praxen wie racial profiling, verschärft die Entrechtung von geflüchteten Personen, betreibt Rassismus als Wahlkampfstrategie, wehrt sich gegen systematische Antidiskriminierungsverfahren in Schulen oder die Analyse und Veränderung rassistischer Benachteiligung in den Bereichen Arbeiten, Wohnen und Bildung.
Was tun?!
Alana Lentin unterscheidet 2004 in ihrem Buch „Racism and Anti-Racism in Europe“ auf der einen Seite zwischen der Rassismuskritik rassismuserfahrener Personen, die vor allem auf die Selbstorganisation geflüchteter, migrantisierter und rassismuserfahrener Personen sowie die rassismuskritische Zivilgesellschaft setzt. Auf der anderen Seite gibt es die Rassismuskritik, welche vielfach von im Rassismus privilegierten Personen, Weißen, dominiert wird, und die vor allem an staatliche Institutionen und Gesetzgebung appelliert. Ergänzend kann die vor allem von Paul Mecheril inspirierte migrationsgesellschaftliche Rassismuskritik benannt werden, die allgemein auf das Vorhandensein und die Wirkungen rassistischer und natio-ethno-kultureller Logiken und Handlungen aufmerksam macht, um diese bewusst zu machen und zu reduzieren.
Es werden die über viele Jahrzehnte aktiven Gruppen wie die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland, AfrotakTVcybernomads, die Initiative Oury Jalloh oder Refugees4Refugees, Selbstorganisationen von Sinti*ze und Rom*nja, von Jüd*innen und Muslimen sowie einzelne Netzwerke wie Pro Asyl und Einzelpersonen sein, die immer wieder rassismuskritische und menschenrechtliche Analysen und Forderungen aufstellen. Und es bleibt abzuwarten, wie sich die rassismuskritisch und menschenrechtsorientierte ambitioniert gebende Zivilgesellschaft und die sich liberal gebenden, jedoch weitgehend diskriminierend handelnden Parteien in der Mitte der Mehrheitsgesellschaft dazu positionieren.
Volker Schönwiese, der Aktivist und Wissenschaftler für Inklusion und gleiche Rechte, formulierte die Idee von politischer Selbstorganisation einmal so: „Wer was verändern will, braucht ein Ziel, eine Strategie, eine Gruppe und einen langen Atem!“
[1] Lorde, Audre (1978) A Litany for Survival, The Black Unicorn, New York. Übersetzt aus dem Amerikanischen Englisch von Marion Kraft, in: Schultz, Dagmar (1993): Macht und Sinnlichkeit. Berlin
[2] Siehe auch: Adi, Hakim (2016): Pan-Africanism and Communism: The Communist International, Africa and the Diaspora, 1919-1939.Trenton
[3] Representing Whiteness in the Black Imagination. Displacing Whiteness. Essays in Social and Cultural Criticism. Ed. Ruth Frankenberg. Durham, London: Duke UP, 1997. S. 165–179. bell hooks: Weißsein in der Schwarzen Vorstellungswelt. In: bell hooks: Black Looks, Berlin 1994, 207. (original: white supremacist terror)