Der Nationalstaat bildet die quasi natürlich-gegebene Referenzfolie der Sozialen Arbeit. Dieser methodologische Nationalismus (Beck 2011) ist vor dem Hintergrund von Phänomenen, die nationalstaatliche Grenzen überschreiten, zunehmend in der Sozialen Arbeit hinterfragt worden (Schwarzer 2016). Dazu zählen wirtschaftliche, kulturelle, politische und soziale Beziehungen, die die Grenzen der Nationalstaaten überschreiten wie Migration, transnationale Unternehmen (Pries 2008), transnationale soziale Bewegungen (Schröder 2015) oder auch länderübergreifende Krisen, wie aktuell die Corona-Pandemie.
Teilweise führen Krisen zu einer weltumspannenden solidarischen Öffentlichkeit und lassen ein System von transnationaler Hilfe entstehen (Treptow 2007). Für eine gewisse Zeit flimmert der Schein einer transnationalen Schicksalsgemeinschaft auf. In Zeiten einer sich ausbereitenden Corona-Pandemie gestaltet sich dies anders. Das Verständnis einer transnationalen Schicksalsgemeinschaft scheint zurückgeworfen auf nationalstaatliche Entscheidungsräume, die sich gegen andere abschotten, um der Krise gerecht zu werden. Diese Beobachtung wird auch vom International Federation of Social Workers (IFSW) in der im Mai 2020 durchgeführten internationale Studie aufgenommen, die die ethischen Herausforderungen von Fachkräften der Sozialen Arbeit weltweit während der Covid-19-Pandemie zusammenfasst und bündelt (Banks u.a. 2020). Die Ergebnisse sind außerdem in ethische Leitlinien überführt worden (IFSW 2020), die eine ältere Publikation von 2018 (IFSW, 2018), um die in der Studie aufgezeigten Herausforderungen ergänzt. Die Leitlinien sollen die nationalen Ethikkodizes für Soziale Arbeit erweitern. Die internationale Studie (Banks u.a. 2020), wertete 607 Antworten von Sozialarbeitenden aus 54 Ländern über eine Online-Umfrage aus, ergänzt wurde die Studie mit Interviews und lokalen Umfragen.
Weltweit wird im Rahmen der Studie deutlich, dass nationalstaatliche Regelungen zur Verhinderung der Ausbereitung des Corona-Virus vor allem für die Personengruppen negative Folgen haben können, die sich in prekären Lebenslagen befinden. Fachkräfte der Sozialen Arbeit werden über diese Regelungen (noch mehr als sonst) herausgefordert, da sie zwischen Schutz und Rechten ihrer Adressat*innen und den Regeln zur Eindämmung der Pandemie ethisch abwägen müssen. Ethische Dilemmasituationen ergeben sich etwa dann, wenn ein Hausbesuch im Rahmen des Kinderschutzes dringlich erscheint, wenn sich Menschen (nur) im privaten vertrauten Gespräch und nicht in einer digitalen Sphäre öffnen können, um etwa über Gewalterfahrungen zu sprechen, wenn der Kontakt zu Wohnungslosen und Drogenabhängigen auf der Straße aufrechterhalten werden muss oder wenn es darum geht, behinderten und älteren Menschen in stationären Einrichtungen soziale Kontakte zu ihren nächsten Angehörigen zu ermöglichen etc…
Der IFSW (2020) weist in seinen Leitlinien darauf hin, dass Fachkräfte Sozialer Arbeit die Aufgabe haben, sich für die Rechte ihrer Adressat*innen einzusetzen. Soziale Gerechtigkeit gilt dabei als Leitprinzip. In den Leitlinien wird daher die Frage aufgeworfen, wie Fachkräfte Sozialer Arbeit ihrem Auftrag gerecht werden können, wenn die altbewährten Handlungsmethoden durch pandemiebedingte Vorgaben nicht mehr umsetzbar sind. Erschwerend hinzu kommt, dass es noch keine vergleichbaren Erfahrungswerte mit der Umsetzung von Handlungsmethoden gibt, die sich an pandemische Bedingungen anpassen, auf die sich Sozialarbeitende in der Krise stützen könnten.
Dieser Hintergrund bildete den Ausgangspunkt eines Studienprojekts mit 20 Bachelorstudierenden an der Fakultät für Sozialwissenschaften der htw saar, die in ihren letzten beiden Studiensemestern ganz in der Tradition des forschenden Lehrens und Lernens unterstützt werden, ein Forschungsprojekt durchzuführen und ihre Ergebnisse in den Theorie-Praxis-Transfer zu übertragen.
Die Teilnehmenden im Studienprojekt stellten sich dabei auch der Herausforderung, die Möglichkeiten und Grenzen qualitativer Forschung in Zeiten von Corona auszuloten (Reichertz 2020) und sich auf eine Lehre einzulassen, die über zwei Semester ausschließlich digital durchgeführt werden konnte.
Vor dem Hintergrund einer ersten gemeinsamen Rekonstruktion des medialen Diskurses der Corona-Pandemie in ihrem zeitlichen Verlauf auf internationaler, europäischer, deutscher und saarländischer Ebene wurden die Studierenden gebeten, Ideen für eigene Forschungsprojekte zum Thema Soziale Arbeit in Zeiten der Pandemie zu entwickeln.
In erster Linie wurde mit leitfadengestützten Expert*inneninterviews gearbeitet sowie diskursanalytische Vorhaben verfolgt. Die empirischen Erhebungen wurden zwischen Sommer und Herbst des Jahres 2020 durchgeführt.
Die Beispiele der Studierenden bieten einen Einblick in Erfahrungen von Adressat*innen, Fachkräften und Organisationen der Sozialen Arbeit während des ersten Lockdowns. Ihre Ergebnisse liefern empirisches Material um die Ergebnisse der internationalen IFSW Studie im Lichte qualitativer Sozialforschung zu unterstreichen.
Die IFSW Studie (Banks u.a. 2020) stellt sechs Schlüsselthemen heraus, die sich aus den Antworten der vom IFSW befragten Sozialarbeitenden identifizieren ließen. Im Folgenden werden ausgewählte Beispiele des Studienprojekts mit den referierten Schlüsselthemen der IFSW Studie (Banks u.a. 2020) in Bezug gebracht. Dabei wird anhand der Beispiele deutlich, dass die ethischen Herausforderungen, die in den Schlüsselthemen präzise formuliert werden, in der Praxis Sozialer Arbeit kaum Umsetzung finden.
- Schlüsselthema:
Fachkräfte Sozialer Arbeit müssen den Aufbau und die Pflege einer vertrauensvollen, ehrlichen und empathischen Beziehung per Telefon oder Internet weiterhin gewährleisten. Dabei müssen Privatsphäre und Vertraulichkeit unbedingt gewahrt werden. Finden Beratungen vor Ort statt, muss ausreichend Schutzkleidung vorhanden sein.
Die erste Schutzmaßnahme, die getroffen wurde, war die Maskenpflicht. Dem Allgemeinen Sozialdienst (ASD) wurden Masken und Plexiglasscheiben geliefert. Im ASD berichtete eine Fachkraft: „Und bei Dingen, die wir eben als nicht so dringlich einschätzen, muss man dann auch mal um Verständnis bitten und zu verschieben und sagen: ok, vielleicht können wir es ja telefonisch regeln.“ Die Fachkraft gibt an, nunmehr die Dringlichkeit der Anliegen der Adressat*innen einschätzen zu müssen. Je dringender ein Anliegen ist, desto unverzichtbarer wird der persönliche Kontakt vor Ort bewertet. Die Dringlichkeit selbst bleibt zugleich Verhandlungssache mit den Adressat*innen, die um Verständnis gebeten werden, eine Ausnahme zu machen. Der Regelfall, persönliche Beratung, wird sowohl seitens der Fachkräfte als auch seitens der Adressat*innen als sehr bedeutsam eingestuft.
- Schlüsselthema:
Die Adressat*innen, deren Situation sich durch die Corona-Lage verschlechtert hat, müssen vorrangig Hilfe erhalten. Priorisierungen sind besonders dann notwendig, wenn die Hilfeleistungen aufgrund von Überlastungen nicht allen gleichermaßen angeboten werden können.
Wie aus einem Interview mit einer Fachkraft einer Pro Familia Beratungsstelle für häusliche Gewalt hervorgeht, besteht das Problem jedoch vor allem darin, dass sich Frauen erst dann telefonisch in der Beratungsstelle melden, wenn ihr Leidensdruck nicht mehr auszuhalten ist. Auch wenn Statistiken im Bereich häuslicher Gewalt eine hohe Dunkelziffer aufweisen, geht die Fachkraft davon aus, dass sich die Zahl an häuslichen Gewalttaten wegen des Lockdowns erhöht hat, obwohl der Beratungsbedarf nicht gestiegen ist.
- Schlüsselthema:
Rechte, Bedürfnisse und Risiken der Adressat*innen müssen gegen persönliche Risiken der Fachkräfte Sozialer Arbeit abgewogen werden, wenn es darum geht Hilfeleistungen unter pandemischen Bedingungen bereitzustellen.
Eine Altenheimbewohnerin berichtet, dass das Heimpersonal den ständig wechselnden Anordnungen des Gesundheitsamtes überfordert gegenüberstand. Die Bewohner*innen mussten mit den Beschlüssen der Landesregierung zur Bekämpfung der Pandemie leben und mit der Umsetzung der Einschränkungen im Altenheim zurechtkommen, was soziale Isolation, Besuchsverbote und die Fesselung an ihre Zimmer und an das Haus mit sich brachte. Die Bewohner*innen im Altenheim wurden bei Nichteinhaltung der Maßnahmen sofort in ihre Zimmer zurückgeführt. Festhalten lässt sich eine starke Einschränkung bzw. Eingriff in den Alltag der Heimbewohner*innen. Das Personal der Einrichtung war gezwungen, diese Einschränkungen vermittelnd umzusetzen und gleichzeitig die fehlenden sozialen Kontakte zu ersetzen.
- Schlüsselthema:
Fachkräfte Sozialer Arbeit stehen immer wieder vor der Entscheidung, ob nationale und organisatorische Richtlinien, Verfahren oder Anleitungen (bestehende oder neue) befolgt werden sollen oder ob in Fällen, in denen die Richtlinien unangemessen, verworren oder unzureichend erscheinen, das professionelle Ermessen genutzt werden kann.
Eine Fachkraft einer Kindertagesstätte berichtet, dass die Vorgabe der Abstandseinhaltung und der Kontaktreduzierung, die sonst übliche Nähe mit den Kitakindern stark beeinträchtigte und einen wesentlichen Teil der pädagogischen Arbeit mit de Kindern auf die Umsetzung des gesundheitlichen Schutzes lenkte. Im Interview entfaltete sich ein interessanter Bezug zum pädagogischen Konzept. Normalerweise arbeitet die Einrichtung nach dem Konzept der offenen Gruppenarbeit. Wegen der Pandemie mussten die Kinder in den Stammgruppen bleiben, was anfängliche Unzufriedenheit beim pädagogischen Personal hervorrief. Mit der Zeit stellte sich heraus, dass die geschlossenen Gruppen durchaus auch positive Effekte hinsichtlich eines sicheren Rahmens für die Kinder boten. Das Team der Einrichtung entschied daraufhin, nicht mehr in die offenen Gruppen zurückzukehren und aktuell wird ein neues pädagogisches Konzept geschrieben.
- Schlüsselthema:
Achtsamkeit als wichtiges professionelles Prinzip für Fachkräfte Sozialer Arbeit im Hinblick auf das Anerkennen und den Umgang mit Emotionen, das Anerkennen von Müdigkeit und dem Bedürfnis nach Selbstfürsorge, wenn unter unsicheren und stressigen Bedingungen gearbeitet wird.
Ein Sozialarbeiter eines sozialen Dienstes äußert sich darüber, dass er im vergangenen Jahr, seit Auftreten der Pandemie teilweise mit erschwerten Bedingungen lebt, die sowohl sein privates Leben wie auch seinen beruflichen Alltag betreffen. „Also von daher war das auch nochmal etwas, wo mir in der Leitung eines sozialen Dienstes und der Vaterrolle, im Background nochmal Krankenpfleger, war klar, das wird auf jeden Fall – ähm – was die Anforderungen angeht, eine schwierige Zeit.“
- Schlüsselthema:
Erfahrungen aus der Zeit der Pandemie nutzen, um Soziale Arbeit in Zukunft neu zu denken.
Ein Beispiel aus der Offenen Kinder- und Jugendhilfe gibt darüber Auskunft, dass der Ausbau des digitalen Angebots, Chancen aber auch Herausforderungen mit sich bringt. Diese Herausforderungen werden von der Interviewperson als „neue Wege” der offenen Kinder- und Jugendarbeit benannt und mit großer Bedeutung versehen. Diese „neuen Wege“ müssten beschritten werden, damit die offene Kinder- und Jugendarbeit zu Zeiten der Pandemie ihre Angebotsstrukturen aufrechterhalten und handlungsfähig bleiben kann.
Die kurze Verknüpfung der Schlüsselthemen mit den im Studienprojekt erhobenen Beispielen lässt Rückschlüsse auf Soziale Arbeit in Zeiten der Pandemie zu. Das Mandat der Hilfe und Kontrolle muss in wesentlicher Form in digitalem Rahmen stattfinden. Die Auswirkungen auf Soziale Arbeit, die sich für die Sozialarbeitenden und die Adressaten wegen der Verlegung der Präsenz auf das Digitale ergeben, sind noch nicht hinreichend erforscht und Sozialarbeitende tappen hinsichtlich der Wirksamkeit ihrer Hilfen im Dunkeln. Die interviewten Fachkräfte Sozialer Arbeit formulieren vielfältig das Thema Rückzug sowie der Wegfall von offenen Strukturen, was nicht unbedingt als problematisch erlebt werden muss. Erkennbar wird aber durch die Beispiele, dass Soziale Arbeit in Zeiten der Pandemie in erster Linie kontrollierend auftritt, das Hilfemandat einschränken oder methodisch verändern muss und das politische Mandat während der Pandemie kaum Bedeutung einnimmt. Die eingangs erwähnten nationalstaatlichen Entscheidungsräume, die sich gegen andere abschotten, um der Krise gerecht zu werden, zeigt sich in unseren Fallbeispielen im Wirken der Sozialen Arbeit wie in einem Scheinwerfer. Soziale Arbeit ist gezwungen sich abzuschotten, als Mandatsträgerin der Politik Anordnungen umzusetzen und in diesem strengen Rahmen Hilfe zu leisten. Deutlich wird außerdem, dass die Adressaten in ihren Kosmos zurückgeworfen werden und jegliche Autonomiebestrebungen sei es durch Unterstützung der Fachkräfte als auch durch sie selbst, in Zeiten der Pandemie keine Rolle spielen. Eine Wertschätzung Sozialer Arbeit hinsichtlich der Ausübung eines systemrelevanten Berufes taucht im Material nicht auf. Diese fehlende Wertschätzung kann implizit zu einem weiteren Rückzug professioneller Sozialer Arbeit führen.
Banks, S., Cai, T., de Jonge, E., Shears, J., Shum, M., Soboččan, A.M., Strom, K., Truell, R., Úriz, M.J. and Weinberg, M. (2020) Ethical Challenges for Social Workers during Covid-19: A Global Perspective, Rheinfelden, Switzerland, International Federation of Social Workers, https://www.ifsw.org/wp-content/uploads/2020/07/2020-06-30-Ethical-Challenges-Covid19-FINAL.pdf
Beck, U. (2011): Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
International Federation of Social Workers (2018). Global Social Work Statement of Ethical Principles, Rheinfelden, Switzerland, International Federation of Social Workers, Verfügbar unter: https://www.ifsw.org/statement-of-ethical-principles/1.
International Federation of Social Workers (2020). Practising during pandemic conditions: Ethical guidance for social workers. https://www.ifsw.org/practising-during-pandemic-conditions-ethical-guidance-for-social-workers/1.
Pries, Ludger (2008): Die Transnationalisierung der sozialen Welt. Sozialräume jenseits von Nationalgesellschaften. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Reichertz, J. (2020). BMTalk Qualitative Forschung in Zeiten von Corona. Berliner Methodentreffen. Video verfügbar via: www.youtube.com/watch
Schröder, Christian (2015): Das Weltsozialforum. Eine Institution der Globalisierungskritik zwischen Organisation und Bewegung. Bielefeld: Transcript.
Schwarzer, Beatrix; Kämmerer-Rütten, Ursula; Schleyer-Lindemann, Alexandra; Wang, Yafang (2016): Transnational Social Work and Social Welfare. Challenges for the Social Work Profession. Milton: Taylor and Francis.
Treptow, R. (Hrsg.) (2007): Katastrophenhilfe und Humanitäre Hilfe. München und Basel: Ernst Reinhardt Verlag.