Jens Berger hat es in den Nachdenkseiten.de vom 20. Mai 2025 sehr schön auf den Punkt gebracht („Was interessiert uns unser Geschwätz von gestern“, in: https://www.nachdenkseiten.de/?p=133183). Wer sich in den letzten drei Jahren relativ kontinuierlich für Diplomatie, Friedensverhandlungen und Waffenstillstand eingesetzt hat, dürfte sich womöglich gerade täglich Augen und Ohren reiben. Denn bis vor kurzem wurde man dafür wahrscheinlich wahlweise als „Lumpenpazifist“ oder „Putin-Knecht“ oder auch als „Ceasefire-Propagandisten und andere Antisemiten“ bezeichnet. Die seit über drei Jahren so hetzenden, heldenhaften linksliberalen Laptop-Leutnants und selbstgerechten Sofa-Sergeants treten nun seit sehr kurzem „schon immer“ für Waffenstillstand und Friedensverhandlungen ein. Sie rechnen damit, dass ihre Zuhörer/innen, Leser/innen und Zuschauer/innen ein genauso begrenztes Gedächtnis besitzen wie sie.
Über 40 Jahre trennen den Leitspruch „Der Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne den Frieden nichts“ von Willy Brandt (Rede vom 3.11.1981) und das Statement „Frieden gibt es auf jedem Friedhof“ von Friedrich Merz (ZEIT.de v. 8.3.2024). Zwischen diesen beiden Aussagen liegen die Beendigung des ersten und der Beginn eines neuen kalten Krieges. Die seitdem ausgerufene sog. Zeitenwende verlangt eine Antwort derPädagogik und der gesamten Sozialen Arbeit: Entweder Kriegspropaganda, Aufrüstung und damit Kriegsgefahren machen der demokratischen Bildung und Sozialen Arbeit ein Ende, oder die Bildungs- und Sozialarbeit arbeiten mit an der friedens(sozial)pädagogischen De-Militarisierung der Gesellschaft zur Abrüstung und zum Abbau kriegspropagandistischer Feindbilder. Das wäre wahrscheinlich auch eine letzte Chance internationaler Kooperation zur halbwegs fairen Bewältigung der Gefahren durch Umweltzerstörung und Erderwärmung. Deren Lösung hätte sich anderenfalls mit der gigantischen weltweiten Rüstungsspirale sogar ohne weitere Kriege buchstäblich erledigt. Ausgehend von der internationalen Sozialarbeitsdefinition, den Friedensgeboten aller Völkerrechtsdokumente und des Grundgesetzes, also als Menschenrechtsprofession darf Soziale Arbeit niemals “kriegstüchtig” werden, ohne die Grundprinzipien ihrer Profession zu verraten.
Aber „über das Fleisch, das euch in der Küche fehlt, wird nicht in der Küche entschieden“, schreibt Bertolt Brecht in: „Die Mutter“ von 1932. Vielleicht ließe sich auch sagen: Was in der schulischen, pädagogischen und sozialarbeiterischen „Küche“ auf den Tisch kommt, wird nicht in der gleichen „Küche“ entschieden, sondern eher in Koalitionsgesprächen, im Kapitalismus, beim militärisch-industriellen Komplex, bei denjenigen, die die Aufrüstung mit Angriffswaffen betreiben und damit ganze Regionen zur Zielscheibe machen. Wer dann noch für die Zeit danach innovative Sozialarbeitskonzepte, Jugendhilfeprogramme, Bildungs- und Inklusionsmaßnahmen oder Klimapolitik diskutieren mag, könnte damit womöglich zu spät kommen.
Derweil scheint sich der neue Kalte Krieg in all seinen Facetten an die zehn Gebote der Kriegspropaganda zu halten, welche der britische Politiker Arthur Ponsonby vor fast 100 Jahren (1928) aus der Erforschung des Ersten Weltkrieges ermitteln konnte. Sie lauten:
Jetzt ließe sich trefflich darüber streiten, welches dieser zehn Gebote in den letzten Jahren (noch) nicht in direkter oder indirekter Weise von den einflussreichsten Politiker(inne)n, Wissenschaftler(inne)n und Journalist(inn)en Deutschlands vorgebracht wurde.
Angst der Jugend vor Krieg
Die Militarisierung der Gesellschaft und des Denkens schreitet jedenfalls munter voran. Was macht das eigentlich mit Kindern und Jugendlichen?
Unter dem Deckmantel des „ganz normalen“ Katastrophenschutzes machen sich viele große freie Träger zu Handlangern der Militarisierung und der sog. Kriegstüchtigkeit. Die evangelische Pfarrerin Susanne Büttner berichtet etwa in der Frankfurter Rundschau vom 28. April 2025 (S. 6) unter der Überschrift „Ist Pazifismus naiv?“ über ähnliche Tendenzen. „In der Evangelischen Kirche gibt heute beim Thema ‚Friedensethik‘ die Militärseelsorge den Ton an. Sie wirkt aktiv am ‚Operationsplan Deutschland‘ mit.“ (FR v. 28.4.2025)
Schon in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 1. Dezember 2024 unterrichtet Anna Sophie Kühne unter dem Titel „Das kostet ein eigener Bunker“ über scheinbar notwendigen und ganz normalen Bau privater Bunker sowie dessen Förderung durch die Bundesregierung. Schon ein paar Wochen vorher, am „Tag der deutschen Einheit“ berichtete der Hessische Rundfunk in Radio und Fernsehen über die Frage, ob Hessen eigentlich ausreichend „kriegstüchtig“ sei. Ohne auch nur die geringsten Bedenken darüber zu äußern, wird das gesamte Bundesland danach „überprüft“ und festgestellt, dass zum Beispiel Straßen und Brücken dringend renoviert werden müssten, damit die tonnenschweren Panzer der US-Army und der Bundeswehr Richtung Osten darüber fahren können. Außerdem müsse mit dem Transport und der medizinischen Behandlung von vielen tausenden Verletzten gerechnet werden. In Großstädten planen Mediziner/innen Krankenhäuser unter der Erde für tausende von Patient(inn)en. In anderen öffentlichen Radiosendern wird dazu geraten, mindestens für zwei Wochen Nahrungsreserven zuhause zu lagern für den sog. Ernstfall. So informiert der Norddeutsche Rundfunk darüber, dass das „Bundesamt für Bevölkerungsschutz einen Bunkerplan“ erarbeitet und setzt sich ausführlich mit der Frage auseinander, welche Lebensmittel sich am besten für einen Vorrat eignen (vgl. NDR.de v. 26.11.2024). Der Großteil der Bevölkerung, der Medien, der Wissenschaften, der Pädagog(inn)en, der Sozialen Arbeit nehmen das offensichtlich schweigend oder scheinbar zustimmend zur Kenntnis, so als würde es sich um die Gefahr einer gott-gegebenen Naturkatastrophe oder mögliches schlechtes Wetter handeln. Es muss nicht erwähnt werden, dass sich praktisch alle genannten Vorsichtsmaßnahmen – vom Vorrat bis zum Bunker – angesichts der neuen Waffengattungen als völlig nutzlos erweisen, also rein ideologisch-demagogische Funktionen und Strategien manipulativer Kriegspsychologie darstellen.
Schon der bisherige Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach und sein Tweet „Wir sind im Krieg mit Putin“ (SPIEGEL.de v. 01.10.2022) und Ex-Bundesaußenministerin Baerbocks Verkündung im Europarat „Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland“ (ZDF.de v. 26.01.2023) wurden weltweit teils mit Verwunderung beachtet, aber in deutschen Qualitätsmedien ob ihrer Implikationen weitgehend bagatellisiert.
Angesichts dessen ist es nicht allzu verwunderlich, warum so viele Kinder und Jugendliche Angst vor Krieg haben.
Kriegstüchtigkeit als „neue Normalität“?
Neulich sagte ein Jugendlicher nach einer Veranstaltung über den „Rechtsruck“ zum Verfasser dieser Zeilen, er habe ja nichts für die AfD übrig, aber die hätten zumindest einen guten Vorschlag. Sie würden mehr Zeltlager fordern und angesichts der zu befürchtenden Kriegszustände sei es doch gut, in Wald und Wildnis überleben zu können. Was für eine jugendliche Perspektive, auch im Hinblick auf Soziale Arbeit und Frieden, dachte sich der Autor.
Laut Befragung der Shell-Studie 2024 unter 12-25jährigen gaben 81% der Jugendlichen an, Angst vor Krieg in Europa zu haben. Demnach fürchten sich deutlich mehr Menschen von 12-25 vor Krieg, Armut und Umweltverschmutzung als vor Zuwanderung nach Deutschland. Vor Armut fürchten sich mit 67 Prozent deutlich mehr junge Menschen als vor Arbeitslosigkeit (35 Prozent). Dies könnte darauf hindeuten, dass für viele junge Menschen – angesichts der Prekarisierungsprozesse – ein Arbeitsplatz keine zwangsläufige Absicherung vor Armutsrisiken darstellt.Außerdem gibt mit 58 Prozent mehr als die Hälfte der Befragten an, Angst vor Rassismus beziehungsweise “Ausländerfeindlichkeit” zu haben, während nur 34 Prozent sich vor “Zuwanderung nach Deutschland” fürchten (vgl. Shell 2024, S. 13f.).
Dabei ist es bitter zu erleben, dass viele (junge) Menschen, die berechtigterweise – nicht (nur) wegen falscher Kommunikation der Regierenden – mit der Politik der Bundesregierung und deren Auswirkungen unzufrieden sind, sich ausgerechnet eine rassistische Partei als „Alternative für Deutschland“ aussuchen; eine Partei die Zeit ihres Bestehens immer gegen einen armutsfesten Mindestlohn, gegen eine Vermögensteuer, gegen eine Bürgerversicherung, für Aufrüstung, für die Wehrpflicht, für den Gaza-Krieg und mehr Geld für das Militär eintritt; eine Partei, die den sozialen Rechtsstaat noch radikaler zerstören will, als das die übrigen Parteien bereits vorangetrieben haben.
Jugend-Studien und mediale Diskurse über „die rechte Jugend“
Wer berechtigterweise besorgt ist über viele jugendliche Rechtswähler, sollte allerdings die anderen Altersgruppen und gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge nicht ausblenden. Andernfalls wurde und wird häufig „die Jugend ist rechts“ oder „die Jugend wählt rechts“ behauptet, obwohl zumindest eine große Mehrheit der Jungwähler/innen gerade nicht AfD gewählt hat (zumindest deutlich mehr als 60 Prozent). Diese Form der Pauschalisierung erfüllt offenbar eine gewisse gesellschaftspolitische Entlastungsfunktion. Die Pauschalisierer müssen weniger über Erwachsene, Eltern und eigene journalistische, politische, wissenschaftliche und (sozial-)pädagogische Verantwortung für diese Entwicklung nachdenken. Es reicht, alle Probleme auf „die Jugend“ zu projizieren. Diesbezüglich wäre etwas mehr Gründlichkeit und Differenzierung nötig. Zumal viele Medien, die solche Aussagen tätigen, oft kaum Interesse zeigen für die realen Lebenslagen, Lebenswelten, Empfindungen und Ansichten vieler junger Menschen.
Damit werden ein großer Teil der Medien, Politiker und auch manche Wissenschaftler/innen selbst zum Teil des Problems. Das gilt es genauer zu untersuchen, da die Vermutung besteht, dass aus genau diesen Verzerrungen heraus und den damit verbundenen Kommunikationsstörungen der Aufstieg der AfD mitzuerklären ist. Außerdem lässt sich beobachten, dass das rechte gesellschaftspolitische Projekt zur Militarisierung Deutschlands und zur Vorbereitung auf Krieg (zum Beispiel gegen Russland) durch Aufrüstung, Kriegspropaganda (auch bei Kindern), Waffenexporte usw. hin zur „Kriegstüchtigkeit“ von einer sehr großen Koalition betrieben wird.
Derweil erweist sich, dass von Regierungsseite jegliche Unterversorgung des Bildungswesens, der Flüchtlingsbetreuung, des Bürgergeldes oder der Kindergrundsicherung in Kauf genommen wird, aber der Rüstungsetat unantastbar ist. Auch die Waffenlieferungen an die Ukraine stehen nicht zur Disposition. Das ist rechts, das ist lebensgefährliche, rechte Politik. Kaum Wissenschaftler/innen haben in ihren (Jugend-)Studien überhaupt Parameter und Items für sozialstaatsfeindliche, die im Grundgesetz stehende Vermögensteuer ablehnende und das Friedensgebot des Grundgesetzes verletzende, also verfassungsfeindliche „rechte“ Propaganda und Politik der Militarisierung und des Sozialabbaus eingebaut. Der „Extremismus der Mitte“ in Politik, Medien und Wissenschaft gerät derweil zum entscheidenden Steigbügelhalter für den Rechtsruck und die Militarisierung in den gesamten europäischen Gesellschaften, die der Mehrheit der Jugendlichen Angst bereiten.
Unterdessen feiert man sich auf der politischen Ebene ab als Tattoo-Queen mit ultraradikalen Sprüchen. Aber wenn’s drauf ankommt, verhindert man noch nicht einmal in Bundestag und Bundesrat das größte und riskanteste (rechte) Kriegskredite-Programm Deutschlands seit der NS-Zeit. Stattdessen hilft man lieber sogar noch dabei, die (rechten) Black- und Bundeswehrrocker schneller an die Regierung zu bringen, als die es beim ersten Anlauf selbst vermögen – mit LINKS, versteht sich.
Fazit
Alle schleichenden und direkten Formen der Militarisierung schwächen emanzipatorische und stärken autoritäre Kräfte. Wer kriegstüchtige Befehl/Gehorsam-Prinzipien in der Gesellschaft verbreitet, fördert antidemokratische Strukturen, stärkt Nationalismus und bietet einen Nährboden für die extreme Rechte von der Kita und der Schule, über das (Kinder-)Heim und das (Jugend-)Amt bis zur Hochschule und allen weiteren Einrichtungen der Gesellschaft. Genauso funktioniertauch allmähliche Konformisierung, Militarisierung und Autoritarisierung sich selbst besonders progressiv vorkommender Gehirne im Sinne der „Kriegstüchtigkeit“. Das heißt, bald gehört das zur neuen Normalität und Zweifel daran sind dann eben ein Fall für den Verfassungsschutz(bericht)