“Gedanken und Empfehlungen zur Ausweitung der bildungsbezogenen Rechte in der Erklärung der Menschenrechte der UNO”
Joaquim Santos
Nationalsekretär des FNE (Nationaler Verband für Bildung/Erziehung)
Auf Einladung von Zeynel Korkmaz
Chefredakteur der türkischsprachigen Zeitung “PoliTeknik”
Am 10. Dezember 2018 feiert die Welt den 70. Geburtstag der Universellen Erklärung der Menschenrechte, die angenommen und ausgerufen wurde durch die Resolution 217 A (III) der Generalversammlung der Vereinten Nationen.
Das “Recht auf Bildung” wurde hier zu ersten Male auf universaler Ebene anerkannt, im Artikel 26, wo zuerst die Verantwortung der Familien genannt wird, aber die Hauptverantwortung für die Erfüllung den Staaten zugewiesen ist, deren Verpflichtung sich zusammenfasst in der Bereitstellung der Verfügbarkeit, der Zugänglichkeit, der Qualität und der Gleichheit.
Drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs brachte die Resolution von 1948 schließlich die Hoffnung auf die Wiedergeburt einer Zivilisation, die darum kämpfte, aus den Trümmern und der menschlichen Unwürdigkeit aufzusteigen.
Während der darauffolgenden fast 70 Jahre machte die Welt viele Kehrtwenden und Richtungswechsel, besiegte viele Hürden und Mauern, aber sah sich gezwungen, andere anzugehen, die immer wieder zu gleicher Zeit so vielfältiger Art und schmerzhaft für die Menschheit waren. Freilich ist die Bildung heute wie damals weiterhin im Zentrum der Aufmerksamkeit aller und bleibt im Bewusstsein als Instrument und Mittel ökonomischer, politischer, sozialer und individueller Entwicklung, von der lokalen bis zur globalen Ebene.
Die Herausforderungen, denen sich eine öffentliche Bildung, die von Qualität gekennzeichnet und kostenlos für alle ist, stellen muss, sind vielfältig: es sind die ethnischen, rassebegründeten, sexuellen, genderbezogenen Konflikte; es ist die globale Problematik der Migration, welche Millionen von Flüchtlingen dazu zwingt, sich an Orte weit weg von ihrer Heimat zu begeben, wo sie überhaupt nichts besitzen; es ist die Zunahme der verschiedenen Formen des Extremismus und des Populismus, welche dem Menschen seine Würde nehmen.
Auf der anderen Seite kommen die Attacken auf eine gleichberechtigte, gerechte und von Qualität gekennzeichnete öffentliche Bildung von den großen multinationalen Konzernen, die unter verschiedenen Namen operieren, und über verschiedene Formen der Vermarktung und Merkantilisierung, welche nur den schnellen Gewinn im Auge haben, Aymmetrien, Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten fördern und Attentate auf würdige Arbeits- und Lebensbedingungen verüben, sowohl auf Schüler und Familien, als auch auf Lehrer, Schulen und Bildungsgemeinschaften.
Für den Nationalen Bildungsverband (FNE) bedeutet die Betrachtung der Bildung als bloße Ware oder Produkt eines Kramladens oder Supermarktes schlicht und einfach den Tod aller Rechte.
Wenn wir heute an die Rechte auf Bildung denken, kommen uns sogleich Szenarien und Geschichten aus Syrien, aus Tschetschenien, von den Mädchen aus Chibok, aus Nigeria in Erinnerung, oder auch die großen Einmischungen der sogenannten Bildungsindustrie in verschiedenen Ländern Afrikas, die erbarmungslos unter den lehrenden und nicht lehrenden Segmenten dieser Gegenden Ungleichheiten und Angriffe säen und verbreiten.
Indessen nimmt der FNE in Portugal den Kampf für eine öffentliche Schule für alle, die von Qualität, Gleichheit und Gerechtigkeit gekennzeichnet ist, als seine oberste Priorität. Es wäre sogar zu sagen, dass dies die Mutter aller Prioritäten im Bereich der Bildung in der ganzen Welt ist. Und ich bin sehr zufrieden, wenn unter meinen Kollegen Gewerkschaftler und Bildungsaktivisten aus allen vier Ecken des Planeten einen großen Teil ihrer Arbeit diesem Kampf widmen – sei es in Kenia, in Brasilien, in Tansania, in Kolumbien oder in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Es ist immer unsere Pflicht, uns der Botschaft von Malala Yousafzai zu erinnern, als sie nachdrücklich behauptet, dass ein Kind, ein Lehrer, ein Stift und ein Buch die Welt verändern können. Wir wissen, dass Millionen von Menschen am Mangel eines Zugangs zu einer Arbeitsstelle, zu Bildung, Gesundheitswesen, sozialer Sicherheit, Ernährung, Wohnung, Wasser und anderen Grundbedürfnissen leiden. Viele weitere Millionen sind nie auf das Recht der Nichtdiskriminierung gestoßen, weil sie zu marginalisierten Gruppen oder zu Minderheiten gehören.
In meinem Land gibt es noch 500000 Analphabeten, Tausende von Kindern, Erwachsenen und Familien leben unter der Armutsgrenze, und die Regierung steht vor großen Herausforderungen, was die Rechte von Menschen mit Behinderungen, mit Geisteskrankheiten und mit Opfern häuslicher Gewalt anbelangt.
Nun impliziert eine von Qualität gekennzeichnete Bildung das Recht auf einen würdigen Zugang zur Gesundheitsversorgung und zur Ernährung, auf einen totalen Respekt der menschlichen Person in allen ihren Erfordernissen und Bedürfnissen. Sie impliziert ferner, dass Lehrer und nicht Lehrende von allen respektiert und wertgeschätzt werden und würdige Bedingungen der Arbeit und des Berufsweges haben.
Den Gegenstand des Rechts auf Bildung zu bestimmen, bedeutet grundlegend auf drei Fragen zu antworten: lernen wofür?, was lernen? und wie lernen?
Die Antwort auf die erste Frage hat zu tun mit einer freien, vollen und harmonischen Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit und des Sinnes für ihre Würde, mit dem Bekenntnis zur Ethik der Menschenrechte und zu anderen mit deren Respektierung vereinbaren moralischen und kulturellen Werten und zur Vorbereitung auf ein autonomes und verantwortliches Leben und eine freie Gesellschaft und freie Welt.
Die Antwort auf die zweite Frage erfordert ein grundlegendes Lernen dessen, was das Recht auf Bildung garantieren muss.
Bei der Frage, wie lernen?, führt uns das Recht auf Bildung zu den zwei grundlegenden Bildungsinstitutionen der gegenwärtigen Gesellschaften, welche die Familien und die Schulen sind, und außerdem zur Verantwortlichkeit der internationalen Gemeinschaft.
Wie schon viele Stimmen von 1948 bis in unsere Tage betonten, ist das Recht auf Bildung ein neues Recht auf eine neue Bildung, ein Recht nicht nur der Familie und des Staates, sondern ein Recht jedes Menschen, unabhängig von Alter, Herkunft, Bekenntnis, Glauben und weiteren Umständen.
Mit anderen Worten ist das Recht auf Bildung ein neues Paradigma, so wie der Generaldirektor der UNESCO in seinem Eingangsdiskurs der 47sten Sitzung der Internationalen Bildungskonferenz, die sich 2004 in Genf traf, sagte: Ich fühle, dass ein subtiler Paradigmenwechsel im Gange ist.
Jedoch ist die Welt in den letzten Jahren Bühne großer Veränderungen gewesen, die uns verpflichten, neue Konzeptionen für die Bildungssysteme zu suchen, und unser Leben auf die Herausforderungen der vierten industriellen Revolution auszurichten.
Wir sprechen natürlich von der Globalisierung, der Digitalisierung, der Robotertechnik, dem Ritt neoliberaler Ideologien, die den Menschen den Tugenden des Profits unterwerfen, der Notwendigkeit, für die Ziele nachhaltiger Entwicklung zu optieren bzw. von unserer Verpflichtung, die Bildung als Menschenrecht und globales öffentliches Gut neu zu denken.
Wie der portugiesische Autor A. Reis Monteiro in seinem neuen Werk Eine Theorie der Bildung (Uma Teoria da Educação[i]) unterstreicht: Das Recht auf Bildung ist ein neues Paradigma, dessen revolutionäre Reichweite in dieser kopernikanischen Metapher zusammengefasst werden kann: die Bildung ist nicht mehr zentriert in der Erde der Erwachsenen noch in der Sonne der Kindheit, sondern vielmehr projiziert ins Universum der Menschenrechte, wo es nicht Ältere noch Jüngere, nicht Väter noch Mütter noch Söhne noch Töchter, nicht Lehrer oder Lehrerinnen noch Schüler noch Schülerinnen gibt, sondern Menschen, die gleich in der Würde und den Rechten sind.
Wenn dem so ist, schließt der Autor, ist die pädagogische Vernunft nicht mehr die biologische Vernunft der Familie, noch die politische Vernunft des Staates, sondern die ethische Vernunft des Subjekts, welche sowohl die familiäre Willkür, als auch die staatliche Allmacht begrenzt.
In der Vision des FNE kann dieses Dreieck niemals gleichseitig sein. Die ethische Vernunft des Subjekts muss überwiegen gegenüber den Ungleichheiten, Unfähigkeiten und Unmöglichkeiten, die von Familie und Staat erzeugt werden. Dies muss notwendigerweise der Ausgangspunkt jeglichen Denkens und jeder Empfehlung über die Erweiterung der Bildungsrechte zur Erklärung der Menschenrechte der UNO sein.
[i] MONTEIRO, A.R. (2017). Uma Teoria da Educação, Coleção Horizontes Pedagógicos / 181, Edições Piaget, 2017, p. 269