Bildunterschrift:
Auswanderer an Bord eines Schiffes um 1891. Wie sich die Überfahrt für die Auswanderer gestaltete, können Besucher im Deutschen Auswandererhaus in den originalgetreuen Nachbauten verschiedener Schiffsunterkünfte entdecken.
Internationale Verhandlungen zur Frage »Wie schützt man die Flüchtlinge?« dienten in Wahrheit vor allem der Frage: »Wie schützen wir uns vor ihnen?« Das schrieb der österreichische Schriftsteller Alfred Polgar unter dem Eindruck der gescheiterten Konferenz von Evian 1938. Daraus wurde bislang zu wenig gelernt.
Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland von 1949 umfasste bewusst nur vier Worte: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«. Das war die generöse Antwort auf die Erfahrung der Aufnahme, aber auch Nichtaufnahme (z.B. in der Schweiz) der von den Nationalsozialisten Verfolgten. Das Grundrecht war bewusst so umfassend und ohne jede Einschränkung formuliert worden, trotz aller Bedenken in der intensiven Diskussion im Parlamentarischen Rat im Winter 1948/49.
Carlo Schmid (SPD) erklärte: »Das Asylrecht ist immer eine Frage der Generosität und wenn man generös sein will, muss man riskieren, sich gegebenenfalls in der Person geirrt zu haben.« Hermann von Mangoldt (CDU) betonte ausdrücklich, »wenn wir irgend eine Einschränkung aufnehmen würden, wenn wir irgendetwas aufnehmen würden, um die Voraussetzungen für die Gewährung des Asylrechts festzulegen, dann müsste an der Grenze eine Prüfung durch die Grenzorgane vorgenommen werden. Dadurch würde die ganze Vorschrift völlig wertlos.«[1]
Schutzbedürftigkeit hatte es im nationalsozialistischen Deutschland und im von Deutschland besetzten Europa während des Zweiten Weltkriegs für aus politischen, religiösen, rassistischen und anderen Gründen Unterdrückte, Entrechtete und Verfolgte gegeben, unter ihnen besonders Juden. Nicht wenige Länder der Welt hatten dem bald tödlichen antisemitischen Terror in Deutschland lange tatenlos zugesehen oder aus den verschiedensten Gründen auch demonstrativ weggesehen.
Auf der Konferenz von Evian 1938 verhandelten zwar Vertreter von 32 Staaten und von vielen, auch jüdischen Hilfsorganisationen über die Erleichterung der Einreise für die vom NS-Staat terrorisierten und zunehmend in tödlicher Gefahr lebenden Juden aus Deutschland. Unterhalb wohlklingender humanitärer Erklärungen gab es auf der Ebene der konkreten Hilfs- und Aufnahmebereitschaft vorwiegend ablehnende Voten oder hinhaltende Ausflüchte, nicht selten auch rassistische Stellungnahmen und sogar die Rede vom »Missbrauch des Asylrechts« durch einreisewillige NS-Verfolgte.[2]
Der amerikanische Generalkonsul R. Geist kabelte Anfang Dezember 1938 aus Berlin beschwörend nach Washington: »Die Juden in Deutschland sind zum Tode verdammt und ihr Urteil wird allmählich vollstreckt, aber vermutlich so schnell, dass die Welt sie nicht mehr retten kann.«[3] Der österreichische Schriftsteller Alfred Polgar schrieb unter dem Eindruck der Konferenz von Evian 1938: Internationale Verhandlungen, die zur Erörterung der Frage »Wie schützt man die Flüchtlinge?« einberufen worden seien, beschäftigten sich in Wahrheit vor allem mit der Frage: »Wie schützen wir uns vor ihnen?«[4]
Im Blick auf die langen Linien der Entwicklung von der Aufnahme des offensten Asylrechts der Welt in das Grundgesetz 1949 bis in die Gegenwart zeichnete sich in Deutschland und in der Europäischen Union eine durchaus ähnliche Ambivalenz ab.[5] Daran erinnerte 2008 eine vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin und der Bundesarbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge Pro Asyl veranstaltete Berliner Konferenz unter dem Titel ›Festung Europa. 70 Jahre nach Evian. Menschenrechte und Schutz von Flüchtlingen‹. Der Vorstandssprecher von Pro Asyl, Heiko Kauffmann, Vorkämpfer einer UN-Weltflüchtlingskonferenz, warnte in Berlin 2008: Mit ihrem Konzept von Abschottung und Abweisung erinnere die Politik der EU sieben Jahrzehnte nach Evian »fatal an die heuchlerische humanitäre Beschwörungs- und Mitleidsrhetorik und an ihren in der Sache jedoch unerbittlich harten Abwehrkurs gegenüber Flüchtlingen vor 70 Jahren.«[6]
Daran hat sich bis heute wenig geändert, wie auch der in Flüchtlings- und Integrationsfragen engagierte niedersächsische Innenminister und frühere Osnabrücker Oberbürgermeister Boris Pistorius im Juni 2015 in einem Interview mit Heribert Prantl betonte: Die Lage von Juden in Deutschland 1938 und diejenige von Flüchtlingen vor den europäischen Grenzen heute seien zwar nicht vergleichbar.
„Aber der politische Abwehr- und Abwimmelmechanismus der Staaten heute ist der gleiche. Da wird wieder geredet wie damals vom sozialen Frieden, der durch die Aufnahme der Flüchtlinge bedroht sei; da wird wieder geredet von der innenpolitischen Balance, die durch die Flüchtlinge gefährdet werde; da wird vom Missbrauch des Asylrechts geredet. Genau so war es damals. Nach und an diesem Gerede sind damals viele Menschen gestorben. Die Konferenz von Evian hätte vielen Menschen das Leben retten können. Das ist siebzig Jahre her. Daraus gilt es zu lernen. Der Versuch, den europäischen Kontinent abzuschotten bedeutet: Wir haben nichts gelernt.“
Pistorius nahm damit die Forderung nach einem „Weltflüchtlingsgipfel“ auf verlangte zugleich „einen Marshallplan hoch zehn für die Länder, aus denen die Flüchtlinge kommen.“[7] Recht hat er.
[1] Hierzu mit Belegen: Klaus J. Bade, Ausländer, Aussiedler, Asyl. Eine Bestandsaufnahme, München 1994, S. 93–95.
[2] Heiko Kauffmann, Von Evian nach Brüssel. Das Scheitern der Konferenz 1938 und die Krise der europäischen Asylpolitik 2008, in: Wolfgang Benz/Claudia Curio/Heiko Kauffmann (Hg.), Von Evian nach Brüssel. Menschenrechte und Flüchtlingsschutz 70 Jahre nach der Konferenz von Evian, Karlsruhe 2008, S. 46.
[3] Ebd., S. 34.
[4] Ebd., S. 39.
[5] Zur Geschichte von Asylrecht und Asylpolitik in Deutschland im Überblick: Jochen Oltmer, Politisch verfolgt? Asylrecht und Flüchtlingsaufnahme in der Bundesrepublik, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Immer bunter, S. 106–123.
[6] Robert Probst, Die Ahnungslosen von Evian, in: SZ, 4.7.2008; vgl. jetzt: Heiko Kauffmann, Wer Menschen rettet, rettet sich selbst, in: FR, 18.5.2015.
[7] Weltgipfel statt Abwimmelkonferenzen. Boris Pistorius im Gespräch mit Heribert Prantl, in: SZ, 22.6.2015;