Prof. Dr. Claudia Lohrenscheit
Universität Coburg
Das Menschenrecht auf Bildung, Artikel 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948
- Jeder hat das Recht auf Bildung. Diese soll kostenlos sein, zumindest der Grundschulunterricht, für den Schulpflicht bestehen soll. Fach- und Berufsschulen sollen frei zugänglich sein, und die höheren Bildungseinrichtungen haben allen gleichermaßen nach ihren Leistungen offen zu stehen.
- Die Bildung soll auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit ausgerichtet sein und die Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten stärken. Sie soll Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Völkern, ‘rassischen‘ und religiösen Gruppen fördern und die Arbeit der Vereinten Nationen zur Wahrung des Friedens unterstützen.
- Eltern haben ein Vorrecht, die Art der Bildung zu wählen, die ihren Kindern zuteil werden soll.
Das Recht auf Bildung bedeutet weit mehr als Lesen, Schreiben und Rechnen lernen. Es ist sowohl ein eigenständiges Menschenrecht als auch ein zentrales Instrument, um die Verwirklichung anderer Menschenrechte zu fördern. Als Empowerment Right hat es eine wichtige Bedeutung für die Befähigung von Menschen, sich die Menschenrechte anzueignen, sich für die eigenen Rechte einzusetzen, und sich im solidarischen Einsatz auch für die Menschenrechte anderer zu engagieren. Bildung als Empowerment-Recht bedeutet, dass Menschen ihre Stärken kennen lernen, sich stark machen, sich der eigenen Macht und Handlungsfähigkeit bewusst werden, um ihr soziales Leben selbstbestimmt und gemeinsam mit anderen zu gestalten, und sich gegen die Barrieren zur Wehr zu setzen, die sie am vollen Genuss der Menschenrechte hindern. Weiterhin ist das Recht auf Bildung mit zahlreichen weiteren Menschrechten verschränkt, und umfasst die gesamte Lebensspanne des Menschen (Life Long Learning), wenn auch eine besondere Aufmerksamkeit Kindern und Jugendlichen gilt, denn die Grundlagen zum lebenslangen Lernen entfalten sich umso besser, je früher sie gelegt werden. Die Überlegung, die vorliegende Ausgabe der ‚Politeknik‘ einer Diskussion von Ideen und Vorschlägen für mögliche Erweiterungen des Menschenrechts auf Bildung zu widmen, kann daher nur einige ausgewählte Aspekte umfassen. Dieser Beitrag konzentriert sich nach einer grundlegenden Einführung zur menschenrechtlichen Verankerung des Rechts auf Bildung exemplarisch auf die Themen Bildung und Muttersprache, Integration und Inklusion sowie die Frage nach der Integration sexueller Selbstbestimmungsrechte in die Bildung.
Das Recht auf Bildung in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) wurde 1948 von den drei Jahre zuvor gegründeten Vereinten Nationen verabschiedet. Unter dem Eindruck zweier Weltkriege und der Existenz kolonialer Herrschaftssysteme steht sie für die Überzeugung, dass alle Menschen grundlegende Rechte und Freiheiten besitzen, und die Verantwortung für ihre Verwirklichung Aufgabe eines jeden einzelnen Staats sowie auch der Völkergemeinschaft ist, die im Rahmen eines internationalen Menschenrechtsschutzsystems zusammenarbeiten soll. Mit der AEMR wurde erstmals das universelle Recht auf Bildung verabschiedet, dass auch heute noch Ausgangspunkt und Kontur für seine weltweite Durchsetzung ist. Wie für alle Menschenrechte gelten auch für das Recht auf Bildung die Prinzipien der Universalität, Unteilbarkeit und Interdependenz. Bildungsrechte sind universell, weil sie für alle Menschen gleichermaßen gelten. Grundlage ist allein der Mensch, ausgestattet mit unveräußerlicher Menschenwürde. Das macht die Realisierung des Rechts auf Bildung prinzipiell unabhängig von jedem Status oder Zuschreibungen – sei es die Staatsangehörigkeit, der soziale oder ökonomische Status, das Geschlecht, der gesundheitliche Status oder die Hautfarbe etc. Die Prinzipien der Unteilbarkeit und Interdependenz beziehen sich auf die unbedingte Verbundenheit aller Menschenrechte. So ist das Menschenrecht auf Bildung z.B. direkt mit den Rechten auf freie Meinungsäußerung, Mitbestimmung und Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben verbunden. Es wird als „Schlüssel“ für den Zugang zu anderen Rechten verstanden (Menschenrechte durch Bildung) und es funktioniert nicht, wenn andere Rechte außer Acht gelassen werden wie z.B. der Schutz vor jeglicher Form von Diskriminierung. Zu den Rechten in der Bildung gehören deshalb auch die Rechte von Kindern und Jugendlichen, die Rechte der Eltern sowie der Erzieher/innen, Sozialarbeiter/innen und Pädagog/innen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Die Verwirklichung der Rechte aller am Bildungsprozess beteiligten trägt dazu bei, dass Bildung gelingen kann, während Bildung dazu beiträgt, dass Kinder, Eltern und Lehrende für ihre Rechte einstehen können. Dabei „erhalten“ Kinder und Erwachsene zwar Bildung in Einrichtungen wie Schule, Kita und beruflicher Bildung; gleichwohl sind sie keine passiven Rezipient/innen, sondern müssen aktiv mit eingebunden sein.
Die Pflicht zur Umsetzung des Rechts auf Bildung richtet sich an den Staat, der eine qualitativ hochwertige öffentliche Bildung für alle bereitstellen und finanzieren soll. Artikel 26 der AEMR (siehe oben) formuliert bereits die vier Kernforderungen des Rechts auf Bildung, die in späteren Dokumenten weiter ausdifferenziert werden: Erstens soll die Grundbildung obligatorisch und unentgeltlich gewährt werden. Zweitens dürfen die Erziehungsberechtigten Bildungsangebote für ihre Kinder wählen. Drittens gilt das Gebot der Diskriminierungsfreiheit, d.h. kein Mensch ist von dem Recht auf Bildung ausgenommen. Und viertens sind die Aufgabe und Ziele von Bildung definiert: Sie muss auf die Entfaltung der Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten gerichtet sein. Dem Recht auf Bildung kommt damit eine besondere Bedeutung in Bezug auf die Förderung eines Wissens und Bewusstseins über Menschenrechte zu. Es wird deswegen auch als Recht auf Menschenrechtsbildung charakterisiert.[2]
Diese Kernforderungen des Rechts auf Bildung werden auf der Ebene der Vereinten Nationen im Sozialpakt (1966) und in der Kinderrechtkonvention (1989) präzisiert. Darüber hinaus enthalten auch die Anti-Rassismuskonvention (1965), die Frauenrechtskonvention (1979) sowie die Behindertenrechtskonvention (2006) zentrale Bestimmungen zum Recht auf Bildung. Grundlegend für einen menschenrechtsbasierten Ansatz für Bildung ist außerdem die Kommentierung durch den UN-Sozialpaktausschuss (1999).[3] Solche Allgemeinen Kommentare sind von zentraler Bedeutung, weil sie die wesentlichen Elemente des Rechts auf Bildung konkretisieren. Sie dienen zum einen als Hilfestellung für die Staaten bei der Umsetzung der menschenrechtlichen Forderungen, und sie sind zum anderen Maßstab für die öffentliche Diskussion und Bewertung der staatlichen Bildungsmaßnahmen sowie für zivilgesellschaftliche Forderungen zur Verbesserung und Reform der Bildungsrechte. Der Allgemeine Kommentar zum Recht auf Bildung charakterisiert die sog. Strukturelemente, die nach den englischen Begriffen auch als 4-A-Kriterien bezeichnet werden, und heute zunehmend auch als „Triple A plus Q“. Es handelt sich dabei um die Verfügbarkeit (availability) von Bildung, die Zugänglichkeit (accessibility) sowie die Angemessenheit (acceptability) und Anpassungsfähigkeit (adaptability oder auch als Qualität bezeichnet):
- Die allgemeine Verfügbarkeit von Bildung beinhaltet, dass Schulen und Bildungseinrichtungen in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen und funktionsfähig sein sollen. Hierzu muss beispielsweise auch gewährleistet sein, dass ausgebildete Lehrkräfte unterrichten und ausreichend Unterrichtsmaterialien vorhanden sind.
- Die Zugänglichkeit von Bildung bezieht sich explizit auf das Gleichheitsgebot, und schließt mehrere Faktoren mit ein. Keinem Menschen darf der Zugang zu Bildung rechtlich und faktisch verwehrt werden. Insbesondere für die schwächsten Gruppen muss Bildung frei zugänglich sein. Dies impliziert sowohl den wirtschaftlichen als auch den physischen Zugang, was beispielsweise behinderte Kinder und Kinder aus armen oder sozial benachteiligten Familien besonders betrifft.
- Die Angemessenheit von Bildung zielt auf die Form und den Inhalt von Bildung. Sie soll relevant, kulturell angemessen und hochwertig sein. Methodik und Didaktik sollen Kinder und Jugendliche in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit fördern. Form und Inhalt von Bildung sollen sich an den Lebenslagen der Lernenden orientieren. Unterrichtshilfen dürfen keine falschen oder überholten Informationen enthalten und sind überdies an das Gleichheitsgebot gebunden, d.h. sie erfüllen eine wichtige Funktion auch bei der Herstellung von Lernumwelten, die frei von Diskriminierung sein müssen.
- In einem engen Zusammenhang mit der Angemessenheit steht auch die Anpassungsfähigkeit Qualität der Bildung. Sie muss sich an die Erfordernisse sich verändernder Gesellschaften und Gemeinwesen anpassen. Wenn sich die Lebenslagen der Lernenden ändern, muss sich das Bildungssystem darauf einstellen – und nicht etwas umgekehrt, d.h. Kinder, Jugendliche und Erwachsene sollen nicht für die existierenden Strukturen im Bildungswesen „passend“ gemacht werden.
Das Recht auf Bildung und muttersprachliches Lernen
Ein Thema, dass regelmäßiger Bestandteil der öffentliche Bildungsdiskussion ist, dreht sich um den Umgang mit Sprache und sprachlicher Vielfalt sowie um das Verhältnis von Dominanzsprache und Minderheitensprachen. Hierbei stehen die Menschenrechte grundsätzlich für den Ausdruck kultureller Pluralität, d.h. in dieser Frage kann es nicht um ein „entweder/oder“ der verschiedenen Sprachen gehen, sondern um ein entschiedenes „sowohl als auch“. Alle die sich an ihre eigenen Sprachlernerfahrungen erinnern, entweder als Kind beim Erlernen der Muttersprache oder eventuell auch später als Erwachsene beim Erlernen einer Zwei- oder Fremdsprache, wissen, dass Lernen zuerst in der Muttersprache erfolgt. Denn als Menschen erlernen wir zunächst im direkten Austausch mit der Umwelt und den Menschen, die uns vertraut sind – beispielsweise durch Bewegung, Erkundung, Beobachtung und Nachahmung, und im Fall der Muttersprache (oder Erstsprache) auch durch sprachliche Nachahmung. Sobald das Kind aber in das formale System frühkindlicher, und später schulischer Pädagogik eintritt, ist es, wenn seine Muttersprache nicht anerkannte Bildungs- oder Dominanzsprache ist, mit einer Fremdsprache konfrontiert; d.h. das Kind muss gleichzeitig z.B. Lesen, Schreiben oder Rechnen lernen und die Fremdsprache. Dies ist beispielsweise für die überwiegende Mehrheit der Kinder auf dem afrikanischen Kontinent der Fall, die im Bildungssystem fast ausschließlich mit den Sprachen der ehemaligen kolonialen Herrscher aus Europa konfrontiert sind, d.h. zumeist mit Englisch und Französisch. Diese Praxis geht zudem häufig noch mit einer sozialen Abwertung der Muttersprachen einher, d.h. Kindern (und Eltern bzw. ihren Familien) vermittelt sich, dass ihre Sprachen weniger erwünscht sind, und weniger soziales Prestige haben. Die Konsequenz daraus ist, dass Kinder gezwungen werden, in einer Sprache zu lernen, die häufig weder sie noch ihre Lehrer*innen fließend beherrschen, und die sie in ihrer Kommunikation und Interaktion eher beschränkt als befördert. Anerkannte Erziehungs- und Sprachwissenschaftler*innen wie Neville Alexander (1936-2012) und Carole Bloch (Südafrika)[4] oder Birgit Brock-Utne (Norwegen)[5] setzen sich daher unermüdlich für die Anerkennung von Mehrsprachigkeit und die Förderung muttersprachlichen Lernens ein. Das Recht auf Anerkennung der Muttersprache ist für sie zentrale Grundvoraussetzung für Bildung, und dafür das Lernen selbst zu lernen. Um es an einem Beispiel deutlich zu machen: Jeder Mensch wird zustimmen, dass z.B. Lesen lernen ein grundlegendes Element des Rechts auf Bildung sein muss, ja Voraussetzung ist, um die Leselust zu erwecken und so später eigenständiges Lesen und Lernen zu ermöglichen. Jetzt stellen Sie sich vor, Ihre ersten Bücher, Ihre ersten schulischen Leseerlebnisse hätten in einer Fremdsprache stattfinden müssen, die in ihrem direkten Umfeld und von den nahen Bezugspersonen nicht gesprochen wird. Wieviel Leselust hätten Sie entwickeln können?
Vor diesem Hintergrund sind auch die menschenrechtlichen Maßstäbe, was die Muttersprache angeht, klar. Hier lohnt sich z.B. der Blick auf die Konkretisierungen zum Recht auf Bildung in Artikel 28 und 29 der UN-Kinderrechtskonvention, wo die Achtung der eigenen kulturellen Identität und Sprache explizit benannt ist (Art. 29) – bezeichnenderweise übrigens direkt verbunden mit der Offenheit gegenüber anderen, vielfältigen kulturellen Ausdrücken. Im System der Vereinten Nationen wird das Engagement für die Anerkennung von Muttersprachen insbesondere von der UNESCO vertreten, die seit dem Jahr 2000 jährlich am 21. Februar den Internationalen Tag der Muttersprache begeht, um die Sprachenvielfalt und den Gebrauch der Muttersprache zu fördern, und das Bewusstsein für sprachliche und kulturelle Traditionen weltweit zu stärken. Insgesamt lässt aber das Engagement für Muttersprachen noch viel Raum für konstruktive Ideen und Weiterentwicklungen. Eine mangelnde Anerkennung der Bedeutung muttersprachlichen Lernens und sprachlicher Vielfalt findet sich daher auch in den Debatten hierzulande. Die Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Gogolin hat diese Haltung schon vor Jahren treffend als „monolingualen Habitus“ bezeichnet, d.h. in der BRD herrscht noch immer die irrige Vorstellung, dies sei ein monolinguales, einsprachiges Land. Dabei ist Mehrsprachigkeit hier wie überall sonst auf der Welt Normalität und ein nicht zu leugnender Fakt. Tatsächlich spricht die Mehrheit der Menschen mehr als eine Sprache (oder Dialekt) und nur in wenigen Ländern sind Menschen einsprachig. Der monolinguale Habitus führt dazu, dass wir Sprache weniger als Ressource oder gar als Recht, sondern eher als Problem begreifen – erst recht, wenn es um die Sprachen der ehemaligen Arbeitsmigrant*innen geht, die mittlerweile seit vielen Generationen hier leben. Die regelmäßig vorgetragene Forderung nach einer Deutschpflicht in Kindergärten, auf Schulhöfen oder in den Familien etc. ist – mit Verlaub – nicht nur pädagogischer Quatsch, sondern immer wieder auch ein Rückschritt für das Selbstverständnis unserer Gesellschaft als plurale Gesellschaft. Für mehrsprachige Menschen und Mitbürger*innen mit anderen Muttersprachen als der Deutschen ist dies ein Schlag ins Gesicht. Und diese Haltung bereitet zusammen mit den rassistischen Pamphleten von Thilo Sarrazin, Akif Pirinci u.a. aus der so genannten Mitte der Gesellschaft gleichzeitig den Boden für die immer wieder wachsenden islamfeindlichen und rassistischen Bewegungen gegen Flüchtlinge und Migrant*innen.
Inklusion oder Integration!?
Seitdem 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention in der Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten ist, die erstmals das Recht auf Bildung als inklusives Recht verankert, ist die Debatte um Inklusion und/oder Integration in vollem Gange. Sie ist in weiten Teilen der Gesellschaft quer durch alle Schichten und Bildungsbereiche verbreitet, und zum Teil emotional sehr aufgeladen. Deswegen möchte ich an dieser Stelle weniger auf praktische Projekte und Maßnahmen für die Reformierung des immer noch sehr exklusiv strukturierten deutschen Bildungssystems eingehen, sondern Inklusion eher aus der Struktur der Menschenrechte heraus diskutieren sowie das für die Menschenrechtsphilosophie Heiner Bielefeldt[6] praktiziert, oder für die praktische Umsetzung von Inklusion Theresia Degener[7], die auch Mitglied in der Behindertenrechtskommission der Vereinten Nationen ist, die die Einhaltung der Konventionsrechte weltweit überwacht. Bielefeldt versteht Inklusion zusammen mit Solidarität – neben der Freiheits- und Gleichheitsdimension – auf der Grundlage der Menschenwürde als eines der zentralen Strukturelemente der Menschenrechte.[8] Mit diesem Prinzip vollzieht sich im internationalen Menschenrechtsschutzsystem quasi eine nachholende Entwicklung, die als Pendant zum Diskriminierungsschutz endlich das Zugehörig-Sein formuliert: Inklusion heißt, kein Mensch darf prinzipiell ausgeschlossen sein, solange er dies nicht selbstbestimmt wählt. Alle gehören dazu; alle sind in ihren Rechten gleich – in ihrer Verschiedenheit und Diversität. Und dies schließt alle Merkmale von Differenz mit ein, ausgehend von der Behindertenrechtskonvention eine Behinderung, aber weit darüber hinaus auch die geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung, die Hautfarbe, die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen sozialen, sprachlichen, religiösen oder kulturellen Gruppen etc. Die UN-BRK ist hier gerade deshalb so wertvoll, weil sie im Zusammenhang mit Inklusion konkrete Hinweise gibt, und Mechanismen benennt, die für eine inklusive Entwicklung der Gesellschaft unabdingbar sind wie etwa die Barrierefreiheit, die assistierte Autonomie oder angemessene Vorkehrungen. Deswegen sehe ich für die Weiterentwicklung der Debatte um Inklusion da große Chancen, wo die Diskussion auf die menschenrechtlichen Begründungen zurückgeführt wird, und dabei nicht an den manchmal steilen Klippen des Alltags zerschellt.
Auch Theresia Degener steht für dieses umfassende Verständnis von Inklusion. Beim ersten Disability Pride Day am 12. Juli 2014 in Berlin wandte sie sich in ihrem Redebeitrag sehr deutlich gegen jede Form von Exklusion durch Sondereinrichtungen für Behinderte, denn Sondereinrichtungen seien „keine Schonräume, sondern Apartheid“, und Mitleid mit Behinderten „keine Tugend, sondern Dominanzverhalten“.[9] Auch heute sind solche deutlichen Worte immer noch nötig. Trotzdem darf diese grundlegende Forderung nicht falsch verstanden werden, denn sie bedeutet nicht, dass es keine Schonräume mehr geben darf. Im Gegenteil: Schonräume sind für uns alle wichtig und notwendig. Eine weitere Vorstellung, die direkt mit Inklusion in der Bildung verbunden ist, ist daher auch die Forderung nach weniger Leistungsdruck und Entschleunigung. Denn es ist es vor allem der Leistungsdruck auf Kinder im Bildungssystem der Inklusion verunmöglicht. Dieser ist gekoppelt an eine Diagnostik, die Kinder möglichst genau und nach fest definierten Kriterien in Lern- und Leistungsgruppen einteilt. Inklusion bedeutet aber, die ‘diagnostische Brille‘ abzusetzen, und den Kindern zuzutrauen, dass sie gemeinsam lernen können und wollen. Dies bedeutet nicht, dass eine Förderpädagogik dadurch überflüssig wird, aber die pädagogische Ausrichtung wird eine grundlegend andere, wenn jedes Kind die Förderung erhält, die es braucht, um die Persönlichkeit und die eigenen Fähigkeiten im Miteinander zur vollen Entfaltung zu bringen. Wird dieser Umgang mit menschlicher Vielfalt schon früh zur Normalität, wird auch im späteren Leben die Akzeptanz für Menschen, die ‘anders‘ sind nicht zum Problem, und Berührungsängste können schnell überwunden werden.
Das Recht auf Bildung und sexuelle Selbstbestimmungsrechte
Die Rechte der Eltern werden geachtet – nicht nur in Bezug auf das Recht auf Bildung, sondern vor allem mit Bezug auf das Kindeswohl. Elternrechte und Kinderrechte stehen dabei in einem komplexen Verhältnis, dessen vorsichtige Austarierung zahlreiche Spannungsfelder eröffnet, bei denen es nicht immer einfach ist, allen beteiligten Rechten und Personen gerecht zu werden. Beispielhaft sei hier das Thema der sexuellen Selbstbestimmungsrechte genannt, denn beim Recht auf Bildung drehen sich die aktuellen Debatten auch um die Frage inwiefern und in welcher Form sexuelle Selbstbestimmungsrechte in der Sexualpädagogik mit Kindern und Jugendlichen zum Thema werden sollen. Dabei pochen viele Eltern und andere Interessensgruppen auf ihr Recht, über die Art und Form der Bildung mit zu entscheiden. Das Zusammendenken vom Recht auf Bildung mit sexuellen Selbstbestimmungsrechten führt auch in den menschenrechtlichen Institutionen zu Spannungen und Konflikten. Ein Beispiel hierfür ist der Bericht zum Thema Sex Education des ehemaligen UN-Sonderberichterstatters zum Recht auf Bildung, Vernor Munoz (2010), der auf massive Ablehnung und Widerstände gestoßen ist.[10] Ein weiteres Beispiel ist der ‘Kompass‘, einer der besten Handbücher für Menschenrechtsbildung[11], herausgegeben und in mehr als zehn Sprachen übersetzt vom Europarat. Der Kompass wurde in einem EU Land, Polen, zunächst verboten und zurückgehalten, weil er das Thema sexuelle Vielfalt an verschiedenen Stellen direkt anspricht. Aufgehängt hatte sich die Debatte an einer konkreten Übung, die unter anderem auch das Thema Homosexualität in den Blick nimmt. Kinder sollten hier – so die Kritik – vor einer angeblich zu liberalen Haltung geschützt werden, die dem menschenrechtlich begründeten Gleichheitsanspruch aller sexuellen und geschlechtlichen Orientierungen und Identitäten in den Mittelpunkt stellt. Auch hierzulande sind in den vergangenen Monaten immer wieder Kolleg*innen massiv angefeindet worden, die sich für eine menschenrechtsbasierte Sexualpädagogik der Vielfalt einsetzen.[12] In Baden-Württemberg hat die Integration dieser Perspektive in die Entwicklung der neuen Bildungsplanung zu wütenden Protesten und Petitionen von Eltern, Lehrer*innen und anderen geführt. Dies zeigt, dass die öffentliche Debatte über sexuelle Selbstbestimmungsrechte höchst widersprüchlich oder ambivalent ist: Während viele auf der einen Seite meinen, unsere Gesellschaft sei bereits im hohen Maße aufgeklärt und tolerant gegenüber vielfältigen Ausdrücken von geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung; finden wir auf der anderen Seite nach wie vor starke Ressentiments und Vorurteile gegenüber Menschen, die sich anders selbst bestimmen als die enge heteronormative Vorstellung dies vorgibt. Mir gefällt hier das Bild, das in der Bewegung für die Menschenrechte intersexueller Menschen häufig genutzt wird, um Geschlecht zu beschreiben: Es ist eine Verortung entlang der Verbindung zwischen den beiden Polen männlich und weiblich. Jeder Mensch verortet sich – im Leben und Lieben – individuell auf dieser Linie, und dabei gibt es eine breite Streuung. Wir Menschen schöpfen insgesamt die volle Bandbreite aus, d.h. auch, dass wir uns im Rahmen unseres Lebens vielleicht auch hin- und wieder entlang dieser Linie in Richtung des einen oder anderen Pols bewegen. Die Entdeckung und Verteidigung dieser Vielfalt kann nicht nur spannend sein, sondern sie gibt Kindern und Jugendlichen den Raum, sich selbst zu finden und zu definieren, ohne dass sie Mobbing und Diskriminierung fürchten müssen. Dabei gibt es nur eine Begrenzung beim Ausdruck der eigenen sexuellen und Geschlechtsidentität, nämlich die Achtung vor dem Ausdruck eines jeden Anderen, und das bedeutet auch ein klares Nein zu jeder Form von Gewalt und Zwang.
Das Recht auf Bildung – ein unabgeschlossener Lernprozess
Abschließend möchte ich noch einmal auf die eingangs bereits angesprochene Menschenrechtsbildung zurückkommen. Sie ist „das Rückgrat des demokratischen Rechtsstaats“ wie es eine aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Menschenrechte ausdrückt (vgl. Rudolf/Reitz 2014).[13] Das Institut hatte 2014 eine Länderumfrage gestartet mit dem Schwerpunkt auf Menschenrechtsbildung für Kinder und Jugendliche, und sieht im Ergebnis enormen Handlungsbedarf in Forschung, Praxis und Bildungspolitik. Nach wie vor bleibt hier zu viel dem Zufall überlassen, und es fehlt allerorts an systematischen Strukturen und Initiativen für die Menschenrechtsbildung. Das gekonnte Aufklären über Menschenrechte, ein Lernen, das die Menschenrechte ins Zentrum rückt, und die Diskussion und Reflexion über Handlungsmöglichkeiten zur Realisierung von Menschenrechten sind heute wichtiger denn je. Hier denke ich beispielsweise an die aktuelle Ausbreitung von Islam- und Menschenfeindlichkeit – nicht nur am so genannten ‘rechten Rand‘ der Gesellschaft, sondern ebenso in ihrer Mitte. Die rassistischen Angriffe gegen Flüchtlinge und Migrant*innen sind gerade angesichts der aktuellen Flüchtlingsbewegungen über das Mittelmeer nach Deutschland und Europa ein klarer Beleg dafür, wie wenig ausgebildet das Menschenrechtsbewusstsein in Deutschland ist. Neben der klaren politischen Zurückweisung von Rassismus und der Wertschätzung und Anerkennung des unermüdlichen Einsatzes unzähliger freiwilliger Flüchtlingshelfer*innen, wäre eine angemessene Antwort darauf – in Deutschland, aber darüber hinaus auch in ganz Europa – eine breit angelegt Menschenrechtsbildungskampagne, die sowohl einzelne Rechte in den Blick nimmt wie das Recht auf Asyl, aber auch grundsätzliche Prinzipien wie Freiheit, Gleichheit und Inklusion. Auch angesichts der relativ stabilen Manifestierung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, die in der BRD bei etwa 25% liegt, wie die Bielefelder Studien „Deutsche Zustände“ seit mehr als zehn Jahren belegen, frage ich mich, worauf wir noch warten? Das Recht auf Bildung und die Menschenrechtsbildung sind auch heute noch offene, unabgeschlossene Lernprozesse, die das unermüdliche Engagement vieler brauchen, damit die Menschenrechte kontinuierlich mit Leben gefüllt werden.
Kurzbiographie
Claudia Lohrenscheit ist Professorin für Internationale Soziale Arbeit und Menschenrechte an der Fakultät für Soziale Arbeit und Gesundheit. Zuvor leitete sie zehn Jahr die Abteilung Menschenrechtsbildung am Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen: Kinderrechte, Recht auf Bildung/Menschenrechtsbildung und sexuelle Selbstbestimmungsrechte.
[1] Grundlage des vorliegenden Artikels sind zwei jüngere Publikationen der Autorin: 1. Das Menschenrecht auf Bildung; in: Bundeszentrale für politische Bildung. Onlinepublikation Dossier Zukunft Bildung (2013); siehe: http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/zukunft-bildung/156819/menschenrecht?p=all; 2. Das Menschenrecht auf Bildung: ein unerfülltes Versprechen mit viel Potenzial; in: Otto Böhm, Doris Katheder: Grundkurs Menschenrechte. Band 5 (Echter Verlag) Würzburg 2015
[3] (siehe: http://daccess-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G99/462/16/PDF/G9946216.pdf?OpenElement).
[4] Umfangreiche Informationen und Texte zur Mehrsprachigkeit und zur Förderung afrikanischer Muttersprachen von N. Alexander und C. Bloch finden sich auf der Homepage des „Project for the Study of Alternative Education in South Africa“: http://www.praesa.org.za/ – insbesondere sei auf die Serie der „Occasional Papers“ verwiesen: http://www.praesa.org.za/category/recent-posts/publications/occasional-papers/
[5] Eines der Standardwerke von B. Brock-Utne zum Thema ist der Band „Whose Education for All? – The Recolonization of the African Mind“, London/New York, 2000
[6] Heiner Bielefeldt ist UN-Sonderberichterstatter über Religions- und Weltanschauungsfreiheit und Lehrstuhlinhaber für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der Universität Erlangen; http://www.polwiss.uni-erlangen.de/professuren/menschenrechte/personen/heiner-bielefeldt.shtml. Siehe hierzu u.a. auch seinen Beitrag im „Grundkurs Menschenrechte“ von Otto Böhm und Doris Katheder im Band 4 der Reihe.
[7] Theresia Degener ist Professorin für Recht und Disability Studies an der Evangelischen Hochschule Rheinland Westfalen Lippe in Bochum und seit 2010 Mitglied im CRPD. Vergleiche auch ihren Beitrag in Band 1 des „Grundkurs Menschenrechte“ (Böhm/Katheder)
[8] Siehe hierzu sein grundlegendes Essay: Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention. Berlin, 3. Aufl. 2009; online unter: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Essay/essay_zum_
innovationspotenzial_der_un_behindertenrechtskonvention_auflage3.pdf
[9] Vgl. Degeners Redebeitrag zum Disability Pride Parade am 12. Juli 2014 in Berlin; sie ist dokumentiert unter: http://www.pride-parade.de/redebeitraege.html
[10] Siehe: http://www.right-to-education.org/sites/right-to-education.org/files/resource-attachments/UNSR_Sexual_Education_2010.pdf
[11] Für die deutschsprachige Ausgabe siehe: Bundeszentrale für politische Bildung / Deutsches Institut für Menschenrechte / Europarat (Hrsg.): KOMPASS. Handbuch zur Menschenrechtsbildung für die schulische und außerschulische Jugendarbeit (Autorinnen Patricia Brander u.a.; Übersetzung Marion Schweizer). Berlin, 1. Auflage April 2005
[12] Vgl. Elisabeth Tuider, Mario Müller, Stefan Timmermanns, Petra Bruns-Bachmann, Carola Koppermann: Sexualpädagogik der Vielfalt. Praxismethoden zu Identitäten, Beziehungen, Körper und Prävention für Schule und Jugendarbeit, 2. Auflage, Weinheim/Basel 2012
[13] Reitz, Sandra/Rudolf, Beate (Deutsches Institut für Menschenrechte): Menschenrechtsbildung für Kinder und Jugendliche. Befunde und Empfehlungen für die deutsche Bildungspolitik. Berlin 2014