PD Dr. Eva Borst
Universität Mainz
Eine Bildung, die sich nach Konkurrenz und Wettbewerb ausrichtet und Kinder und Jugendliche schon beizeiten daran gewöhnt, sich auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten, kann nicht mehr Bildung heißen. Wer Kinder und Jugendliche nur nach dem Grad ihrer Nützlichkeit beurteilt, ihre spezifischen Entwicklungsbedingungen ignoriert und sie dazu veranlasst, sich den herrschenden Verhältnissen anzupassen, hat nicht verstanden, dass Bildung zu kritischem Denken ermächtigen soll. Vielleicht aber, und das wäre in den Augen derjenigen, die die Kritik fürchten, konsequent, sollte es gerade so sein, Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu einer kritischen Bildung gezielt zu verschließen und ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass ihnen nur bei Anpassung an den Status quo ein Lebensrecht zusteht. Die dahinter stehende Geisteshaltung ist bei Lichte betrachtet arm und einfältig, skrupellos und zutiefst undemokratisch. Denn sie will keine Menschen, die in historisch-gesellschaftlicher Verantwortung handeln und ihr demokratisches Recht in Anspruch nehmen, Ungerechtigkeiten, Diskriminierung, Ausbeutung und Armut ein entschiedenes „Nein“ entgegenzusetzen, sondern solche, denen die Kraft zur Rebellion gegen gesellschaftliche Zwänge der geschilderten Art fehlen. Das Eintreten für die Würde der Menschen würde nicht nur Empathie und Mitgefühl, sondern ein Verständnis für solidarisches Handeln voraussetzen. Unter den Bedingungen der Konkurrenz freilich erhöhen sich allenfalls der Grad der Selektion und der Zwang zur Konformität. Die Menschen werden auf sich selbst zurückgeworfen.
Eine besonders perfide Strategie, in dieser Weise Einfluss auf die psychosoziale Entwicklung von jungen Menschen zu gewinnen und sie den eigenen Profitinteressen zu unterwerfen, ist die Privatisierung des Bildungs- und Erziehungssystems, der sich die europäische Bildungspolitik verschrieben hat. Sie macht sich damit zum Büttel einer neoliberalen Wirtschaft, die schon lange begriffen hat, dass, wenn sie das Bildungssystem unter ihre Kontrolle bekommt, die Bevölkerung unter ihre Kontrolle bekommt. Weil die Bildungseinrichtungen wichtige Sozialisationsinstanzen für Kinder und Jugendliche sind, ist der Zugriff auf Bildung zugleich der Zugriff auf ihre Psyche.
Der erste Versuch, der Bildungsindustrie den Weg zu ebnen, war das 1995 verabschiedete General Agreement on Trades in Services[1] (GATS), ein internationales, multilaterales Vertragswerk der Welthandelsorganisation (WTO), das den grenzüberschreitenden Handel mit Dienstleistungen regelt und dessen fortschreitende Liberalisierung zum Ziel hat, d.h. Privatisierung der Daseinsvorsorge (Wasser, Elektrizität, Gesundheit, Infrastruktur, Bildung u.v.m.), Deregulierung gesetzlicher Vorgaben und Abbau sozialstaatlicher Regelungen zugunsten von global agierenden Konzernen. Damit verbunden war eine Öffnung sämtlicher Bildungseinrichtungen für private Investoren, die sich Milliardengewinne erhoffen. In Deutschland konnte sich GATS zumindest im Bereich der Bildung noch nicht so recht durchsetzen. Gleichwohl zeigen sich vielfältige Privatisierungstendenzen: Stiftungsprofessuren und Projektförderungen, finanziert von einflussreichen Großunternehmen, Sponsoring von Hörsälen und Seminarräumen, Public-Private-Partnership, Werbung auf dem Uni-Campus, Unterrichtsmaterialien von Konzernen, machen deutlich, wie weit das staatliche Bildungssystem schon heute privatwirtschaftlich kontaminiert ist. (vgl. Hochschulwatch.de; GEW Privatisierungsreport) Zwar hält sich in Deutschland der Anteil der privaten Bildungseinrichtungen noch in Grenzen. Der Privatisierungsprozess wird sich aber mit TTIP, TiSA und CETA beschleunigen.
Obwohl bisher wenig über die drei Freihandelsabkommen bekannt geworden ist, weil die Verhandlungen im Geheimen geführt werden, lassen sich einige Eckpunkte skizzieren, die durch Indiskretionen an die Öffentlichkeit geraten sind. Die bekanntesten Freihandelsabkommen Transatlantic Trade and Investment Partnership[2] zwischen der EU und USA (TTIP) und Comprehensive Economic and Trade Agreement[3] zwischen EU und Kanada (CETA) sind in der Zwischenzeit einem breiteren Publikum durch die „Selbstorganisierte Europäische Bürgerinitiative“ bekannt. Die Bürgerinitiative klärt über die den Abkommen immanenten Gefahren auf und ruft per Unterschriftensammlung zum Stopp der Verhandlungen auf. Kaum wahrgenommen wird indes in der Öffentlichkeit Trade in Services Agreement[4] (TiSA), das sich ausschließlich auf Dienstleistungen bezieht und zwischen EU, USA, Kanada und weiteren 22 Staaten, abgeschlossen werden soll. Allen drei Abkommen ist gemeinsam, dass sie eine umfassende Privatisierung der bislang staatlich organisierten Daseinsvor- und -fürsorge anstreben und aufgrund eines Investorenschutzes durch private Schiedsgerichte das demokratische Selbstbestimmungsrecht der Bevölkerung massiv bedrohen, wenn nicht gar zerstören. Was heißt nun Investorenschutz und was bedeutet er für das deutsche bzw. europäische Bildungssystem? Ich möchte dies an TiSA erläutern, weil es dasjenige Abkommen ist, das am weitesten in unser Leben eingreifen und darüber hinaus das staatliche Schul- und Hochschulwesen dauerhaft verändern wird.[5] TiSA kann als Nachfolgeprojekt von GATS gelten, das schon in den 1990er Jahren die Privatisierung vorbereitet hat. Deregulierung und Privatisierung werden sich vor allem auf die Bereiche Gesundheit, Bildung, Elektrizität, Trinkwasser und die Finanzindustrie auswirken. Besonders problematisch sind die vom „Europäischen Parlament anscheinend schon akzeptierten Schiedsgerichte“ (Jehle 2014, S. 2), die dafür sorgen sollen, dass den Investoren keine Gewinneinbußen durch staatliche Eingriffe entstehen. Wenn sich ein Land etwa gesetzlich verpflichtet, dass Bildung nichts kosten darf, so können Investoren den Staat vor einem privaten Schiedsgericht, das der demokratischen Kontrolle entzogen ist und unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt, ihre geschätzten finanziellen Verluste einklagen. Sollte das private Schiedsgericht dem Kläger Recht geben, so müsste der Staat mit Steuergeldern den Investor abfinden. Letztlich handelt es sich dabei um eine Enteignung der Steuerzahler und Steuerzahlerinnen zugunsten der Profitinteressen einzelner Großunternehmen.
Ein weiterer die Demokratie bedrohender Bestandteil der Verhandlungen sind die sogenannte Ratchet-Klausel (Sperrklausel) und die Standstill-Klausel. Die Ratchet-Klausel verbietet für alle Zeiten eine Rekommunalisierung einmal erfolgter Privatisierung, die Standstill-Klausel legt fest, dass neue Dienstleistungen keinesfalls von der öffentlichen Hand erbracht werden dürfen. Schiedsgerichte zum Schutz der Gewinne von Investoren, das Verbot der Rekommunalisierung und das Verbot, Dienstleistungen staatlich zu organisieren, die intransparente Verhandlungsführung, in die noch nicht einmal unsere gewählten politischen Vertreter Einblick erhalten, die Absicherung der Gewinne im Interesse einzelner großer Investoren stellt zusammen genommen eine Bedrohung für unser demokratisches Selbstverständnis dar. Entstaatlichung und Entdemokratisierung würden das Bildungssystem empfindlich treffen und Bildung zu einem Produktionsfaktor machen, der nichts anderes bedeutet als Gewinnmargen zu erhöhen. Nicht nur, dass eine gebührenpflichtige Bildung zu einem noch größeren Selektionsdruck führen und das Recht auf Bildung nachhaltig einschränken würde, sondern auch die Finanzindustrie hätte ein großes Interesse an Bildungskrediten, auf die eine Vielzahl von Menschen angewiesen wären. Studien zeigen, dass gerade in den USA mit ihrer weit fortgeschrittenen Privatisierung des Bildungswesens die Verschuldung zugenommen hat. (vgl. Lohmann 2003) Unter diesen Voraussetzungen ist es fraglich, ob sich Bildung als die Bedingung der Möglichkeit, Widerstand gegen die völlig Vereinnahmung durch den Neoliberalismus zu leisten, noch zu realisieren ist.
Literatur:
Jehle, Christoph (2014): TiSA: Alles wird vermarktet, in: Telepolis (http://www.heise.de/tp/druck/mb/artikel/42/42131/1.html) abgerufen: 30.04.2015
Lohmann, Ingrid (2003): Bildung – Ware oder öffentliches Gut? Auswirkungen des General Agreement on Trade in Services (GATS), in: Gerd Köhler, Gunter Quaißer (Hrsg.): Bildung — Ware oder öffentliches Gut? Über die Finanzierung von Bildung und Wissenschaft. (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft: Materialien und Dokumente Hochschule und Forschung 103) Frankfurt a.M. 2003, S. 242-252.
[1] Dt.: Allgemeines Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen, abgeschlossen 1995.
[2] Dt.: Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft, Verhandlungen begonnen 2013.
[3] Dt.: Umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen, steht kurz vor dem Abschluss.
[4] Dt.: Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen, Verhandlungen begonnen 2012.
[5] Der Beitrag kann aufgrund seiner Kürze nicht umfassend auf die Freihandelsabkommen eingehen, er soll aber deutlich machen, wo die Gefahren für die heutige Gesellschaft liegen.