Prof. Dr. Wolf-D. Bukow
Universität Siegen
Wer sich mit dem Thema Säkularisierung befasst, wird schnell mit zwei deutlich unterschiedlichen Fassungen dieser Thematik konfrontiert. Zum einen geht es dabei um das Verhältnis zwischen dem Staat und den Kirchen und zum anderen geht es um das Verhältnis zwischen der Gesellschaft und den entsprechenden Religionen. Beides hat zwar viel miteinander zu tun, ist aber deutlich unterschiedlich gelagert. Bei der ersten Variante des Themas handelt es sich gezielt um Institutionen und deren Verhältnis untereinander. Bei der zweiten Variante des Themas handelt es sich ganz allgemein um den Stellenwert, der Religionen innerhalb einer Gesellschaft aufgrund ihrer Eigenschaften zugebilligt wird. Im ersten Fall geht es direkt um “Säkularismus”, also darum, inwieweit sich beide Seiten getrennt und von wechselseitiger Bevormundung tatsächlich befreit haben. Im zweiten Fall geht es eher um einen “Säkularisierungsprozess”, also darum, inwieweit sich die Religionen im Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung aus zentralen gesellschaftlichen Feldern zurückgezogen und überkommene politische Ambitionen aufgegeben haben. Die Schwierigkeiten bestehen nun nicht nur darin, dass wir es einmal mit einer politikwissenschaftlichen bzw. juristischen Debatte und einmal mit einer sozial- bzw. religionsgeschichtlichen Debatte zu tun haben, sondern auch darin, dass es um sehr unterschiedliche Phänomene geht, nämlich einmal um das Verhältnis zwischen real existierenden Institutionen und einmal um eine Einschätzung einer empirisch undurchsichtigen historischen Entwicklung, wobei noch nicht einmal klar ist, welche Eigenschaften und welchen Stellenwert Religionen überhaupt (noch) haben. Dennoch ist es wichtig, die beiden Fassungen zu diskutieren, weil sie sich perspektivisch ergänzen. Einmal geht es um einen Sonderfall (Kirche und Staat), einmal geht es um eine allgemeine Konstellation (Religion in der Gesellschaft).
Das Verhältnis zwischen den Kirchen und dem Staat in Deutschland: eine unvollständige Säkularisierung
Beginnen wir mit der ersten Fassung der Fragestellung. Hier lassen sich klare Konturen erkennen, auch wenn man in Deutschland anders als in den USA oder in Frankreich auf keine wirklich bedeutsame Debatte stoßen wird. Das gilt, obgleich in all diesen Ländern das Erbe der Aufklärung eine prägende Rolle spielt. Speziell im Blick auf die Religion hat sich die aufklärerische Tradition nämlich nicht zufällig in den genannten Ländern unterschiedlich entwickelt. Während es seit der französischen Revolution in Frankreich und – von dort aus indirekt vermittelt – in den USA eine gegenüber Kirchen und Religionsgemeinschaften distanzierte und durch säkulare Quellen wie die Menschenrechte fundierte Staatsdoktrin gibt, hat man sich in Deutschland und vielen anderen Ländern u.a. in Reaktion auf Napoleons Religionspolitik immer wieder neu als Staat mit den Kirchen bzw. als Gesellschaft mit den verschiedenen religiösen Strömungen arrangiert und oft genug auch über kirchliches Wohlwollen legitimiert. Bis heute gibt es hier zwar eine breite Debatte über die Details dieses Arrangements zwischen Kirche und Staat und analog dazu das zwischen Religion und Gesellschaft. Aber das Verhältnis als solches steht dabei überhaupt nicht zur Disposition. Das Verhältnis als solches ist sogar seit der Abschaffung des Staatskirchentums mit der ersten deutschen Republik, der Weimarer Republik und mit der Durchsetzung einer demokratischen Verfassung stabil. Man kann es als ein wohlwollend-distanziertes Verhältnis bezeichnen.
Vor diesem Hintergrund haben sich ganze Reihe von spezifischen Arrangements entwickelt, die zumeist in Staatsverträgen geregelt werden. Der Staat privilegiert die Kirchen in vielfältiger Weise vom Religionsunterricht an den Schulen bis zur wissenschaftlichen Lehre im Rahmen von theologischen Fakultäten, von einer indirekten Subventionierung durch die Erfassung der Kirchensteuer bis Besoldung ausgewählter Kirchenbeamten. Zugleich bietet er den Kirchen Beteiligungsmöglichkeiten in gesellschaftlich relevanter Handlungsfelder (z.B. im Rundfunkrat). Hinzu kommt, dass viele kirchliche Aktivitäten vor allem im sozialen Bereich (Diakonie, Caritas) Dank des Subsidiaritätsprinzips fast vollständig vom Staat finanziert werden. Dieses wohlwollend-distanzierte Verhältnis hat demnach nur insofern mit Säkularismus zu tun, als die Institutionen Staat und Kirchen getrennt ihren jeweils spezifischen Aufgaben nachgehen. Es gilt eine Aufgabenaufteilung unter einem gemeinsamen Dach aber keine radikale Aufgabentrennung, nach der jeder für sich agiert. Das Verhältnis ist letztlich von wechselseitigem Geben und Nehmen bestimmt. Brisant bleibt, dass der Staat die Kirchen sponsert und die Kirchen dem Staat eine gewisse religiöse Fundierung bieten. Konservative Parteien sprechen sogar von einer christlichen Leitkultur.
Es ist wichtig festzuhalten, dass es sich hier um ein seit langem eingespieltes Verhältnis zwischen traditionell miteinander vertrauten Partnern handelt. Ein Effekt dieses “historisch” geprägten Arrangements ist nicht nur, dass es bis heute keine vollständige Trennung zwischen den traditionellen Kirchen und dem Staat gibt, sondern vor allem, dass es schwer fällt, in dieses Arrangement zu öffnen. Insbesondere fällt es schwer, sich den längst etablierten eingewanderten Religionen zu öffnen. Formal steht einem solchen Arrangement nur eine unzureichende Institutionaliserung dieser Religionen im Weg. Sie sind meist nicht kirchlich organisiert und können insoweit auch nicht so einfach den Status einer öffentlich-rechtlich agierenden Institution erlangen, was wiederum als Voraussetzung dafür gilt, anerkannt und mit den traditionellen Kirchen gleichgestellt zu werden. Tatsächlich aber geht es um etwas anderes, es geht um den Bestand des Arrangements zwischen dem überkommenen Staat und den überkommenen christlichen Kirchen, also um ein politisches Arrangement innerhalb eines closed shop. Und es geht um ein privilegiertes Geben und Nehmen, das noch eine ganz andere Ebene eines Arrangements zwischen dem Staat und den Kirchen enthält, nämlich die einer wechselseitigen Legitimation. Staat und Kirche legitimieren sich wechselseitig. Hier wäre Neue disfunktional. Diese Konstellation erschwert den Umgang mit einem Wandel im Umfeld der Religionen, den wir auch in Deutschland längst erleben. Religiöse Bewegungen und postmigrantische Religionen sind so gezwungen erst einmal den Status der traditionellen Kirchen anzustreben. Diese Erwartung ist zweifach paradox, weil es sich bei postmigrantische Religionen (1.) in der Regel um Alltagsreligionen ohne kirchliches Selbstständig handelt und weil sie (2.), selbst wenn kirchlich organisiert wären, im nachhinein keine traditioneller Einbindung vorweisen könnten. Solange das alte Arrangement gilt, sind die Probleme, wie erst jüngst der Staatsvertrag zwischen Hamburg und der dortigen islamischen Gemeinde gezeigt,[1] kaum unlösbar.
Die religiöse Wirklichkeit im Zeitalter der Postmoderne: die Säkularisierungsdebatte ist historisch überholt
Ein Blick auf den längst globalisierten Alltag belegt, dass selbst in Deutschland Religionen kaum noch institutionalisiert sind und dies nicht erst seit der Etablierung postmigrantischer Religionen, sondern ganz einfach wegen der langanhaltenden Individualisierung des Religiösen und der damit verknüpften Verabschiedung aus den letzten “Amtskirchen”. Im Kern haben wir es heute überall mit liquiden Alltagsreligionen zu tun, die mit Säkularisierung überhaupt nicht fassbar sind. Wenn man genauer hinschaut, lassen sich solche liquiden Alltagsreligionen “unterhalb” des institutionellen Kontextes schon lange und heute mit zunehmender Bedeutung identifizieren. In der Regel geht darum, dass im Alltag anlässlich herausragender, besonderer Handlungssituationen ein Deutungsbedürfnis entsteht, das je nach dem Milieu zu alltagsreligigiöse Nachfragen motiviert: Situationen, in denen der Alltagsablauf ins Stocken geraten ist, ob nun ein Unfall passiert ist oder weil ein unerwartetes bzw. schwieriges Ereignis im Rahmen einer individuellen Entwicklung, des Zusammenlebens, unter Freunden, in der Migration usw. zu verarbeiten ist, wenn die individuelle Lebensführung gefährdet ist, werden zum Anlass, über einen indexikalischen Verweis eine “wegweisende” Relation zu einer religiösen Praktik, zu einer überlieferten Deutung oder zu einer spirituellen Vorstellung herzustellen.[2]
In kritischen Handlungssituationen lässt sich über einen indexikalischen Verweis eine “Schnittstelle” zwischen einer alltäglichen Handlungssituation und einem ggf. religiösen Deutungsmuster herstellen. An dieser “Handlungs- Deutungs-Schnittstelle” werden dann die konkreten Handlungsprobleme mit darauf spezialisierten typischen Deutungsmustern verknüpft und in einem besonderen religiösen Handlungsformat ausgearbeitet. Das Ziel ist erreicht, wenn man sich wieder dem Alltagsablauf zuwenden kann. Solche Handlungs-Deutungs-Schnittstellen lassen sich heute in der individuellen Lebensführung und im Kontext des alltäglichen gemeinschaftlichen Zusammenlebens in religiösen Gruppierungen und auch im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang im Kontextöffentlicher Debatten beobachten. Hier nähern sich postmigrantische und überlieferte Religionen einander an. Wir haben es mit einer über das religiöse weit hinausgehenden Spezialisierung in der Alltagsbewältigung zu tun, wobei die hier eingesetzten ggf. religiösen Deutungsverfahren vor dem Hintergrund der Globalisierung im Kontext der postmoderner Alltagskultur längst hybride Zügen annehmen.
Immer deutlicher werden hier die konkreten Schnittstellen zwischen dem individuellen Arrangement einerseits und entsprechenden religiösen Deutungsmustern anderseits beziehungsweise zwischen kollektiven Arrangements von Wir-Gruppen bis Gemeinschaften einerseits und dazu passenden religiösen Deutungsmustern anderseits. Es handelt sich hier um zwei typisch unterschiedliche alltägliche “Handlungs/Deutungs”-Schnittstellen, die religionsethnologisch bzw. religionsgeschichtlich betrachtet durchaus vertraut sind. Letztlich werden hier religiöse und andere Begründungsmotive aufgerufen, um die praktische Alltagslogik zu unterfüttern. Es ist eine Struktur, wie sie aus der zivilgesellschaftlichen Debatte vertraut ist.[3] Und tatsächlich werden in diesem Sinn viele postmoderne Alltagsreligionen zivilgesellschaftlich aktiv.[4]
Säkularisierung: Eine Debatte, die die religiöse Wirklichkeit im Zeitalter der Postmoderne nicht mehr erfasst
Es geht schon lange nicht mehr um das klassische Verhältnis zwischen dem Staat und den Kirchen, das ja längst nur noch wohlwollend distanziert, aber letztlich eben nicht wirklich säkularisiert ist. Es geht auch eigentlich nicht mehr darum, dass hier erheblich Bindungen zwischen beiden Seite auf der Ebene von Geben und Nehmen und einer seit alters her eingespielten wechselseitigen ideologischen Unterstützung existieren. Es geht darum, dass dieses klassische Verhältnis den Zugang zur empirischen Wirklichkeit verstellt, die aktuellen religiösen Entwicklungen und zumal die postmigrantischen Religionen ignoriert, ja diskreditiert. Und vor allem geht darum, dass auf diese Weise ihrem Bildungsauftrag gegenüber dem hier relevanten religiösen Deutungswissen nicht nachkommt. Es wäre die Aufgabe der Gesllschaft, sich hier vermehrt zu engagieren und zumal dort, wo sich die religiösen Gruppierungen zivilgesellschaftlich engagieren (lokal, politisch, sozial, kulturell oder sprachlich aktiv sind) in vielfältiger Weise zu fördern und zu entsprechend qualifizieren, so wie das ja auch sonst im Blick auf gesellschaftlich relevantes Wissen geschieht.
[1] Vgl. Bukow, Wolf-D.: Der Staatskirchenvertrages zwischen Hamburg und den Islamgemeinschaften. In: Bukow, Wolf-D. U.a.:(Hg.): Inclusive City. Wiesbaden. Springer VS Im Druck
[2] Verbreite sind magische Redewendungen, Beschwörungen, Gebete, Bittzettel an heiligen Orten, Teilnahme an Passageriten von der Taufe und ggf. Beschneidung usw. bis zu Beerdigungsritualen.
[3] Die Bedeutung der Unterscheidung von um-zu-Motiven und weil-Motiven hat Alfred Schütz in der Auseinandersetzung mit Max Webers Religionssoziologie zuerst erkannt.
[4] Vgl. Becker, Jochen (Hg.) (2011, 2011): Urban Prayers. Neue religiöse Bewegungen in der globalen Stadt. Hamburg, Berlin: Assoziation A.