Über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Kultureller Bildung
Prof. Dr. Armin Bernhard
Universität Duisburg-Essen
Die folgenden Ausführungen stammen aus einem Forschungskontext, den man als Neoli-beralismusrisikofolgenforschung etikettieren kann. Sie beschäftigt sich mit den neolibera-len Planungen im Bildungsbereich und ihren Risiken und Gefahren für die Bildung und Subjektwerdung von Kindern und Jugendlichen. Dass kulturelle Bildung in den auf einem funktionalistisch angelegten Bildungsverständnis aufruhenden Leistungsvergleichsstudien etwa der OECD eine äußerst marginale Rolle spielt, ist kein Geheimnis, geht es im Rah-men dieser empirischen Untersuchungen doch primär um die Ermittlung der Bedingungen der optimalen Heranbildung der „harten“ kognitiven Kompetenzen von Jugendlichen, die sich rasch in Rendite umsetzen lassen.
Rahmenbedingungen von (kultureller) Bildung: Die Kommodifizierung des Men-schen
Eine basale Intention des Neoliberalismus betrifft den Versuch, das nackte Tauschverhält-nis zu universalisieren, wodurch sämtliche Prozesse der Entwicklung, der Subjektwer-dung, der Bildung von Kindern und Jugendlichen in marktwirtschaftliche Prozesse einbe-zogen werden könnten. Neu ist der Umstand einer direkten Verquickung von Markt und Bildung, die Entlassung der Bildung in ein Marktgeschehen, das von wenigen Konzernen dominiert wird, und das sich immer mehr der demokratischen Planung und Kontrolle ent-zieht. Neben Parteien und Gewerkschaften treten neue bildungspolitische Akteure auf den Plan, die die Okkupation des öffentlichen Bildungswesens durch private Unternehmen vorbereiten: Unternehmensberatungen, private Stiftungen, von Wirtschaftsverbänden ins Leben gerufene Think-tanks, Medienkonzerne etc.. Der zunehmende Lobbyismus an Schulen ist nur ein Symptom dieses Prozesses. Insbesondere Unternehmensstiftungen, die sich nach außen hin als zivilgesellschaftliche Organisationen deklarieren, nutzen bzw. mißbrauchen die Etikette der Gemeinnützigkeit und des Allgemeinwohls, um die gesell-schaftliche Entwicklung im Sinne einer unternehmerischen Handlungsrationalität zu be-einflussen.
Als beispielshaft für die demokratisch nicht legitimierte Beeinflussung von Bildung kann der Ber-telsmann-Konzern gelten, der mit seiner operativ ausgerichteten Stiftung (Bertelsmann Stiftung) die gesellschaftliche Entwicklung in seinem unternehmerischen Sinne zu gestalten versucht. Das Bildungswesen stellt einen Schwerpunkt der Tätigkeit dieser Stiftung dar, auch die kulturelle Bil-dung gilt ihr als zentrales gesellschaftliches Thema. Der „größte Oligopolist der veröffentlichten Meinung in Deutschland“ (Lieb 2012), der sich dem Grundsatz „Eigentum verpflichtet“ verschrie-ben hat, hat durch Übertragung von drei Viertel des Kapitalanteils an die 1977 gegründete Ber-telsmann Stiftung große Summen an Erbschafts- und Schenkungssteuer umgangen. Darüber hinaus sind die Dividendenzahlungen an die Stiftung steuerbegünstigt, so dass nach Lieb zu vermuten steht, dass ein großer Teil des Stiftungsetats über öffentliche Gelder finanziert wird. Die „uneigen-nützige“ Stiftung finanziert im übrigen nicht etwa gemeinnützige Organisationen, sondern wickelt ihre Tätigkeiten fast ausschließlich über die eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ab. Das eigentliche Ziel des Konzerns liegt aber sicherlich darin, mittelfristig über die Arbeit seiner Stif-tung (Politikberatung in verschiedenen Feldern) die zukünftige Gesellschaftsentwicklung im Sinne der Optimierung der Verfolgung der eigenen ökonomischen Interessen zu beeinflussen.
Es handelt sich bei dem Versuch einer neoliberalen Umgestaltung des Bildungswesens um eine Biopiraterie der besonderen Form. Der Begriff der Biopiraterie hebt auf den Raub natürlicher Ressourcen ab, er entstand primär im Zusammenhang des Zugriffs mächtiger Konzerne auf die Verwertung und Vermarktung von Saatgut und Getreidesorten, aber auch die von Großbanken und Versicherungen praktizierte, verheerende Spekulation auf Nahrungsmittel könnte unter diesen Begriff subsumiert werden. Wo das Augenmerk auf die Produktivkraft Mensch gerichtet wird, wo die ihm innewohnenden Rohstoffe als zu bearbeitendes Material zum Zwecke der Mehrwertsteigerung in das Zentrum der Betrach-tungen tritt, ist der Schritt zur Okkupation des Bildungsverständnisses und zur Ökonomi-sierung der Bildung nicht mehr weit. Übertragen auf den bildungspolitischen Kontext fasst der Begriff der Biopiraterie die Einflussnahme auf die Bearbeitung und Nutzung der bio-physischen, geistigen und psychischen „Ressourcen“ des Menschen – die widerrechtliche Bearbeitung und Aneignung menschlicher Subjektvermögen zum Zwecke ihrer Vernut-zung im Arbeits- und Verwertungsprozess. Der neoliberalen Bildungsplanung geht es um den wirtschaftlichen Zugriff auf die menschlichen Entwicklungskräfte in ihrer Gesamtheit, um diese in ökonomisches Kapital umsetzen zu können.
Zwei Folgen neoliberaler Bildungsplanungen seien im Folgenden herausgegriffen, die für eine kulturelle Bildung in besonderer Weise markant sein dürften. Eine Tendenz liegt in der gigantischen Einschränkung der Vielfalt der kindlichen Subjektvermögen durch einen kaum als liberal zu charakterisierenden Standardisierungsimperativ. Im ubiquitären Testierungsrausch wird die kindliche Entwicklung rücksichtslos zu normieren versucht. Die Folge ist eine wachsende Standardisierung, die Unterdrückung der eigensinnigen Potenziale von Kindern, die Justierung ihres Denkens und Handelns auf kognitive Schablonen oder funktionale Pro¬blemlösungsverfahren. All diejenigen Momen¬te, die sich aus der Position der Erwachsenen als sog. zweckfreie Tätigkeiten im Leben von Kindern ausmachen lassen, werden von der neoliberalen Bildungsreform als nutzlos eingestuft. In einer ontogenetischen Zeitspanne – so die Argumentation -, in der eine ungeheure Offenheit der menschlichen Subjektvermögen gegeben ist, lässt man diese unbearbeitet und ver¬schwendet in der Folge wertvolles Humankapital. Ein wahrer Skandal: das spontane Mäandern der Kindheit bleibt unausgeschöpft! Weil aber die Ausnutzung von Humankapital in den verschiedenen Kindheitsphasen „suboptimal“ (Lepenies 2003, S. 24) ist, sollen in Zukunft auch die informellen Lernprozesse von Kindern stärker in die Humankapitalbildung einbezogen werden. Die Bemühungen auf dem Gebiet der frühkindlichen Bildung sind denn auch nicht in erster Linie in der Intention des Abbaus sozialer Bildungsungleichheit begründet, sondern folgen dem Interesse, möglichst früh die Humankapitalbildung in die „richtige“ Richtung zu lenken.
Eine zweite hochproblematische Tendenz liegt in dem Versuch der künstlichen Beschleunigung von Bildungsprozessen, ein Versuch, der gegen sämtliche Einsichten der Pädagogik und Entwicklungspsychologie im Hinblick auf den Zusammenhang von Zeit und Bildung verstößt. Die immensen zeitlichen Aufwendungen für Bildung – so lautet die Argumentation neoliberaler Bildungsreformer – unterlaufen die internationale Konkurrenzfähigkeit des Standortes Deutschland. Empfohlen werden daher eine drastische Verkürzung der Bildungszeit und der Abbau sog. „Kunstpausen“ in der Bildung, im Bürokratendeutsch: die Minimierung von Lernzeitverlusten. In dieser „Wirtschaftsphilosophie“ wird Bildung mit einer möglichst raschen Vermittlung von Wissen, Informationen und Kompetenzen verwechselt. Alle Prozesse, in denen sich Kinder auf produktive, auf kreative Weise und oftmals auf Umwegen mit Problemen und deren Lösungen beschäftigen, gelten als pure Zeitverschwendung. Die Akzeleration von Bildung beruht auf einer Negation der besonderen „Logik“ kindlicher Bildungsprozesse, einer Logik, die sich eben nicht nach den Maßstäben ökonomischer Effizienz entfaltet, sondern von der Spontaneität und Eigensinnigkeit von Kindern her bestimmt wird. Wer diese Logik kindlicher Bildungsprozesse außer Kraft setzt, gefährdet nicht „nur“ die Grundlage für eine sich entfaltende Persönlichkeit, sondern verkehrt Bildung selbst zu einem gewaltförmigen Vorgang, in dem menschliche Individualität nivelliert zu werden droht. Beschleunigte Bildung ist gewaltförmig gegenüber dem Subjekt wie gegenüber dem Objekt der Bildung, sie vergewaltigt den Gegenstand der Erkenntnis und verschließt die kindlichen Subjektvermögen.
Mit der Vereinseitigung kindlicher Subjektvermögen auf kognitive Kompetenzen wird genau das Problem dramatisiert, auf das kulturelle Bildung eine Antwort sein will, geht es ihr doch immer auch um die Provokation und Freilegung sämtlicher, auch noch nicht aktu-alisierter Fähigkeiten und Kräfte. Mit dem durch den wachsenden Einfluss wirtschaftlicher Interessengruppen auf die Bildung einhergehenden kulturellen Enteignungsprozess, die Verengung der kindlichen Subjektvermögen, wird diese zentrale Aufgabe kultureller Bil-dung erheblich erschwert. Die Akzeleration der Bildungszeit ist eine weitere gegenläufige Tendenz zur kulturellen Bildung, insofern gerade sie eigensinnige Zeitstrukturen erfordert, die durch zeitliche Standardisierungen zerstört werden. Diese Beschleunigung von Lern-prozessen, etwa durch die Ausweitung der Lernzeit (“lebenslanges Lernen”), durch die zeitliche Komprimierung des Lernprozesses (verkürztes, “effizienteres” Lernen), durch computerbasiertes Lernen, verändert die Struktur und Qualität von Weltzueignung, indem sie die erfüllte Zeit, die Muße, und damit die Grundbedingung kultureller Bildung bis auf einen Restbestand reduziert.
Relevant für die Ausgangslage kultureller Bildung ist natürlich auch ihre eigene Situation in Zeiten neoliberaler Umgestaltung der Bildungsinstitutionen. Der Nationale Bildungsbe-richt von 2012 und eine Untersuchung der GEW aus demselben Jahr haben den beängsti-genden Befund zu Tage gefördert, dass die kulturell-ästhetische Bildung, die für die Iden-titätsbildung von Kindern unabdingbar ist, systematisch zugunsten der Ausbildung kogni-tiver Fähigkeiten abgebaut wird. Die Ergebnisse des jüngsten Bildungsmonitoring zu den Defiziten des Mathematik- und des naturwissenschaftlichen Unterrichts (Institut für Quali-tätsentwicklung 2013) wird diesen Trend noch verstärken. In der „empirischen Bildungs-forschung“, einer transdisziplinären Forschungsrichtung, die auch in der Erziehungswis-senschaft hegemonial zu werden droht, geht es fast ausschließlich um die Untersuchung der Effizienz und Effektivität kognitiver Lernprozesse. Der Bereich kulturell-ästhetischer Bildung bleibt weitgehend ausgeklammert, ein Indiz für die Bedeutung, die diesem Gebiet zugeschrieben wird. Zwar lassen sich auch leibliche, musische, affektive und soziale Kompetenzen für wirtschaftliche Verwertungsprozesse nutzbar machen, doch mit Blick auf die individuelle und gesellschaftliche Rendite scheinen diese gegenüber den „harten“ kognitiven Fähigkeiten doch eher als zweitrangig. Zur Ausgangslage kultureller Bildung gehört aber auch das durch die Kulturindustrie beförderte Alltagsverständnis von Bildung. Die kognitivistische Reduktion von Bildung, die das Ideal einer allseitigen Persönlich-keitsbildung ad absurdum führt, ist längst in alltagsweltliche Auffassungen von Bildung eingesickert. Sie werten ab, was nicht mehr unmittelbar in kognitiven Leistungen messbar und ausdrückbar ist. Die Entwertung jener Fächer zugunsten der von den Arbeitgeberver-bänden favorisierten so genannten MINT-Bildung, kommt dem oftmals vorbewussten Be-dürfnis verunsicherter Eltern entgegen. Wozu sich mit Musik, Kunst, Religion, Philoso-phie beschäftigen, wenn in Englisch, Mathematik und Naturwissenschaften über die Zu-kunft der Kinder entschieden wird? Warum Soziales Lernen ermöglichen, wenn nur über rücksichtslose Selbstbehauptung eine Existenz im Haifischbecken gesichert werden kann? Warum Bildung als Entwicklung von Bewusstsein anstreben, wenn dieses sich doch nur als hinderlich für die Selbstbehauptung in Konkurrenzverhältnissen erweisen könnte? Wozu die Auseinandersetzung mit Kultur, Kunst, Musik, Theater etc. unterstützen, die doch nur irritierende Momente in die individuelle Karriereplanung einschleusen könnten?
Ein Irrtum wäre es allerdings, die kulturelle Bildung per se als Hort des Widerstands gegen die Ökonomisierung und Kommodifizierung der Bildung aufzufassen. Sie ist nicht weniger an der Biopiraterie beteiligt als die auf Ausbildung der kognitiven Fähigkeiten reduzierte Bildung. Kulturelle Bildung ist nicht die Antithese zu der auf Arbeitskraftqualifikation direkt ausgerichteten Bildung. Notwendig ist daher eine Sichtweise, die an der Dialektik kultureller Bildung orientiert ist. Eine Ideologiekritik ausgewählter Konzepte kultureller Bildung kann nämlich hinter dem Schein ihres patenten Outfits sehr rasch gesellschaftliche Herrschaftsinteressen identifizieren, die kulturelle Bildung in Regie nehmen wollen. Wenn man das schöne Wortzaubergeklingel von ganzheitlicher Bildung, schöpferischen Fähig-keiten, Kreativitätsfreilegung etc. beiseite schiebt, stößt man problemlos auf massive poli-tische Interessen. Muss es nicht misstrauisch machen, wenn die Bertelsmann-Stiftung die Liebe zur Musik fördert und die Liz-Mohn-Kultur und Musikstiftung die Bedeutung von Kultur und Musik für die ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung stärker in das öffentli-che Bewusstsein zu heben versucht? Wenn die Stiftung der Deutschen Bank kulturelle Bildung als wesentlichen Bestandteil einer zeitgemäßen Allgemeinbildung verstanden wis-sen will? Wenn die Mercator-Stiftung eigens einen „Rat für Kulturelle Bildung“ (22. 6. 2012) gründet, der sich für „Allgemeinbildung im Medium der Künste“ einsetzt? Ist es nicht merkwürdig, dass der banken-industrielle Komplex plötzlich die Vorzüge kultureller Bildung hervorkehrt?
Die neoliberalen Bildungsplaner haben also die Möglichkeit der Funktionalisierung kultu-reller Bildung schon lange erkannt, und zwar als: a) gesellschaftliche Alibiveranstaltung; b) als sozialkulturelle Abfederung eines um seine humanen Komponenten beraubten Bil-dungsprozesses und – was wohl die entscheidende Funktion einer Beschäftigung neolibe-raler Denkfabriken mit dem Thema kultureller Bildung ist – c) als Möglichkeit der indirek-ten Bearbeitung der Humanressourcen, als eine Form indirekter Humankapitalbildung.
Jörg Dräger, Leiter der Bertelsmann-Einrichtung Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), verweist in einem Buch von 2011 auf die Bedeutung der, wie er es nennt „weichen Faktoren“ für den wirtschaftlichen Erfolg eines Landes. Eine auf soziale und kulturelle bzw. interkulturelle Aspekte konzentrierte Bildung – so Dräger weiter – ist keinesfalls zu vernachlässigen, denn sie fördert ein kreatives und innovationsfreundliches Klima, in dem wirtschaftlicher Fortschritt gedeihen kann (Dräger 2011, S. 67). Ein weiteres Beispiel sind die von der Bertelsmann-Stiftung und von der Zukunftsstiftung Bildung ins Leben gerufe-nen Projekte auf dem Gebiet der musikalischen Bildung: „Musikalische Grundschule“, „Musik im Kita-Alltag“, „Kita macht Musik“, „Ideeninitiative ‚Integration durch Musik‘“ oder „Jedem Kind ein Instrument“. Man kann darüber streiten, ob Mozart schlau macht oder nicht. Die neoliberalen Befürworter einer musikalischen Bildung jedenfalls verweisen auf den Mehrwert des Musikunterrichts für die anderen Fächer, Musik wird von ihnen als ein wichtiger „Motor“ für kognitive Bildungsprozesse erkannt. Ein letztes Beispiel ist die ästhetische Bildung. Sie trägt, so der Rat für Kulturelle Bildung der Mercator-Stiftung, „zur Entwicklung einer starken Persönlichkeit bei“ und ist als „Allgemeinbildung im Me-dium der Künste“ in besonderer Weise dazu geeignet, „Kreativität und Innovationskompe-tenz zu fördern und dadurch junge Menschen auf die Herausforderungen der Zukunft vor-zubereiten.“ Deutlich wird eine Sichtweise, die kulturelle Bildung keineswegs als Weg der Persönlichkeitsentwicklung begreift, sondern als Instrument der Herstellung „arbeits-marktgängiger ‚Soft skills‘“ (Ermert 2009) – Kreativitätsfähigkeit, Toleranz, Wahrneh-mungsfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, Innovationsfreude – alles wichtige Bestandtei-le des erwünschten Arbeitsvermögens.
Indirekte Humankapitalbildung erfolgt durch den Transfer der durch eine kulturelle Bil-dung erzeugten Fähigkeiten und Kompetenzen in den Arbeitsprozess. Nicht mehr der „dressierte Gorilla“ (Taylor), der auf spezifische Arbeitsvollzüge abgerichtete Mensch, steht im Zentrum des anvisierten Arbeitsvermögens, sondern die kreative, ideenreiche, flexible Persönlichkeit, deren Humankompetenz sich vielseitig verwerten lässt. Kulturelle Bildung soll diejenigen modernen Arbeitstugenden liefern, die in den formalisierten, kog-nitiv angelegten, bürokratisierten Lernprozessen vernachlässigt werden, aber für die atmo-sphärischen Bedingungen und Marktstrategien erfolgreich agierender Unternehmen uner-lässlich sind.
Eine kulturelle Bildung, die nur auf die Intensivierung unserer Wahrnehmung, die pure Ordnung und Schärfung der Sinne beschränkt bleibt, oder die erwünschten Soft skills mit hervorbringt, taugt jedoch nicht als Gegenmittel zur Kommodifizierung der Bildung. Sen-sitivität, Kreativität, Dialogfähigkeit, Innovationsfreude – sie sind jederzeit in das beste-hende System der Verwertung von „Humanressourcen“ integrierbar. Kulturelle Bildung im neoliberalen Verständnis wird der harten kognitiven Bildung gegenüber zwar durchaus als zweitrangig betrachtet. Sekundär aber haben musikalische und ästhetische Bildung der Heranbildung eines vernutzbaren Arbeitsvermögens zu dienen, sie sind funktional auf die Entwicklung von employability bezogen und beziehen einzig und allein aus dieser Funkti-on ihren „Sinn“. Sie sind Teil der Bildungspiraterie. Jede kulturelle Bildung, die sich als Alternative zur Kommodifizierung der Bildung versteht, muss sich dieser Gefahr der In-strumentalisierung gegen die eigene Intention bewusst sein.
Was wir angesichts dieser Tendenzen benötigen, ist eine gesamtgesellschaftliche politisch-kulturelle Alphabetisierung, eine Alphabetisierung, die die Öffnung unseres Wahrneh-mungsvermögens ebenso voraussetzt wie den reflektierten Umgang mit Gefühlen und die Erweiterung unserer Rationalität zu einer globalen Vernunft, die sich nicht als Werkzeug von Kapitalinteressen missbrauchen lässt. Politisch-kulturelle Alphabetisierung erfordert, wie der Begriff schon nahelegt, Initiativen auf der gesellschaftspolitischen, der kulturpoli-tischen, der bildungspolitischen und der pädagogischen Ebene. Das vorherrschende Bil-dungsverständnis, das Bildung auf ökonomische Kategorien reduziert, ist ebenso zur Dis-position zu stellen wie die massiven Einflussnahmen von Wirtschaftsverbänden zurückzu-drängen sind. Zugleich ist die alltagsweltlichen Engführung von Bildung aufzubrechen, um einem umfassenden und tiefgreifenden Bildungsverständnis den Weg zu bahnen. Simplifi-zierende Antithesen – hier die verformende, auf bloße berufliche Qualifikation abgestellte kognitive Bildung, dort die auf die kreativen Entwicklungspotenziale von Menschen ge-richtete kulturelle Bildung – helfen nicht weiter. Sie führen vielmehr die Trennung von zwei Bildungsauffassungen fort, die objektiv zusammengehören und im Rahmen einer gesellschaftlichen Alternative zur neoliberalen Bildungspiraterie wieder zusammengeführt werden müssen. Die Reduktion kultureller Bildung auf die Künste ist kontraproduktiv im Hinblick auf einen kritisch-emanzipatorischen Begriff von Bildung, der Kindern und Ju-gendlichen sämtliche Instrumente zur Erschließung ihrer gesellschaftlichen Lebenswelt und der Ermöglichung ihrer Identitätsfindung zur Verfügung stellen will. Kreativität allein ist kein Schutz vor einer Überwältigung des Bewusstseins, sie bedarf der Grundlegung durch eine zweifelnde Rationalität. Insofern ist die Intention kultureller Bildung im enge-ren Sinne in einem kritisch-emanzipatorischen Bildungsbegriff aufgehoben, der den weiten mit dem engen Begriff von Kultur verknüpft.
Literatur:
Arbeitsgruppe Bildungsberichterstattung: Bildung in Deutschland 2012. Ein indikatorengestützter Bericht zur kulturellen Bildung im Lebenslauf, Bielefeld 2012
Dräger, J.: Dichter, Denker, Schulversager. Gute Schulen sind machbar – Wege aus der Bildungs-krise, München 2011
Ermert, K.: Was ist kulturelle Bildung, in: http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/kulturelle-bildung/59910/was-ist-kulturelle-bildung (Zugriff: 8. 10. 2013)
Lepenies, W.: Bildungspathos und Erziehungswirklichkeit, in: Killius, Norbert u. a. (Hrsg.): Die Bildung der Zukunft. Frankfurt/M. 2003, S. 13-31
Lieb, W.: Herrschaft durch Meinungsmache? Einfluss und Interesse des Bertelsmann-Konzerns an der Ökonomisierung des Bildungssystems (2012), in: http://www.nachdenkseiten.de/?p=15208 (Zugriff: 16. 11. 2013)
Stiftung Mercator: Rat für Kulturelle Bildung der Mercator-Stiftung, in: http://www.stiftung-mercator.de/themencluster/kulturelle-bildung/rat-fuer-kulturelle-bildung.html (Zugriff: 8.10. 2013)