Manuela Schwesig
Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Deutschland ist bunt und vielfältig. Diese Vielfalt spiegelt sich in den Familien wider. Fast jedes dritte Kind lebt heute in einer Familie, in der mindestens ein Elternteil selbst eingewandert ist oder eine ausländische Staatsbürgerschaft besitzt. Knapp 4,1 Millionen Kinder wachsen mit mehr als einer Sprache und Kultur auf. Ich sehe darin eine große Bereicherung. Vielfalt ist eine Chance für die Zukunft Deutschlands – auch aus demografischen, ökonomischen und sozialen Gründen.
Es ist wichtig, dass in Deutschland intensiv über Integration und Willkommenskultur diskutiert wird. Deutschland ist längst ein Einwanderungsland. Wir brauchen aber mehr Austausch, auch über Werte und Überzeugungen. Die Debatten der vergangenen Wochen um die Rolle des Islam in unserer Gesellschaft und den Stand der Integration haben gezeigt, dass Ausgrenzung und Vorurteile uns nicht voranbringen. Integration ist nicht einfach Eingliederung, sondern bedeutet auch Erneuerung und Bereicherung. Menschen, die nach Deutschland kommen, bringen ihr Leben, ihre Persönlichkeit mit und verändern damit dieses Land. Ohne ständige Erneuerung kann es keine offene und vielfältige Gesellschaft geben. Wir müssen diese Kräfte nutzen, um Zuwanderung zu gestalten – mit dem Ziel, den Ein- und Aufstieg für alle zu ermöglichen.
Bildung und Arbeit – Schlüssel zur Integration
Kulturen sind unterschiedlich, sprachliche Hürden begünstigen Missverständnisse, und unterschiedliche Lebensweisen können zu Konflikten führen. Vielfalt stellt uns in vielen Bereichen vor große Herausforderungen. Behörden, Schulen, Kindertageseinrichtungen und Unternehmen, Altenheime und Krankenhäuser gestalten bereits den Umgang mit Menschen unterschiedlicher Herkunft. Integration verlangt allen etwas ab. Wir brauchen eine echte Willkommenskultur, die es den Menschen, die neu in unser Land kommen, leichter macht, anzukommen und mitzukommen. Wir müssen aber auch die Teilhabe derer verbessern, die schon in der zweiten oder dritten Generation hier leben. Die Bildungschancen der Kinder sind in allen Familien ein großes Thema, denn gute Bildung ist eine wesentliche Voraussetzung für einen erfolgreichen Einstieg ins Berufsleben. Unabhängig von ihrer sozialen Herkunft müssen alle Kinder in unserem Land die gleichen Entwicklungs- und Bildungschancen haben.
Frühe Förderung hat Priorität
Kindergärten und Schulen sind die ersten Bildungsorte neben der Familie. Hier werden die Weichen für die weitere Entwicklung gestellt. Deshalb investieren Bund und Länder in ein bedarfsgerechtes Angebot an Kitaplätzen und in ihre Qualität. Wir haben uns vorgenommen, nicht nur die Zahl der Plätze zu erhöhen, sondern auch die Qualität der Kindertagesbetreuung zu verbessern. In den bundesweit über 4.000 Schwerpunktkitas „Sprache und Integration“ wird besonderes Gewicht auf die frühkindliche Sprachförderung gelegt. Die Qualität der frühen Bildung in Deutschland ist gut. Dennoch gibt es Verbesserungsmöglichkeiten und Handlungsbedarf.
Aus Studien wissen wir, dass frühkindliche Bildung denen besonders hilft, die von zu Hause weniger Bildung mitbringen oder Deutsch als zweite Sprache erst lernen müssen. Mehrsprachigkeit ist jedoch kein Defizit, sondern ein Gewinn für alle. Wer einmal erlebt hat, wie schnell sich Kinder Sprache aneignen und welche Freude sie daran haben, der versteht, warum wir diese frühen Jahre nutzen sollten. Den Spielkameraden auf Türkisch trösten, russische Reime aufsagen, auf Spanisch zählen – das Spiel mit Sprachen fasziniert Kinder und macht ihnen Spaß. So offen wie Kinder andere Kulturen aufnehmen, gelingt es uns Erwachsenen nicht immer, auf andere zuzugehen. Dabei können kleine Gesten viel bewirken: Das jährliche Sommerfest so zu planen, dass es nicht ausgerechnet im Ramadan liegt. Dialog auf Augenhöhe bedeutet aber auch, kritische Themen anzusprechen und Intoleranz gegenüber anderen Religionen oder Menschen, die anders leben, entgegen zu treten.
Gemeinsam für Bildungschancen
Die Bemühungen um bessere Bildungschancen für alle zeigen erste Erfolge. Der Anteil der Abiturientinnen und Abiturienten aus Familien mit Einwanderungsgeschichte steigt weiter an. Dennoch gibt es immer noch zu viele, die die Schule ganz ohne Abschluss verlassen. Zudem haben es Bewerberinnen und Bewerber mit einem ausländischen Namen auf dem Arbeitsmarkt immer noch schwer. Sowohl Eltern als auch Jugendlichen bieten wir daher Unterstützung an. Mit dem Bundesprogramm “Elternchance ist Kinderchance” stehen den Familien über 5.000 Elternbegleiterinnen und Elternbegleiter bei wichtigen Bildungsentscheidungen beiseite. Die Initiative „JUGEND STÄRKEN im Quartier“ unterstützt Kommunen darin, passgenaue Hilfsangebote für junge Menschen am Übergang von der Schule in den Beruf zu entwickeln. Bildung ist allerdings mehr als das, was Schule, Kita und Familie vermitteln. Zu einem erfolgreichen Bildungsverlauf gehören auch andere Menschen: Eine Nachbarin, die bei den Hausaufgaben hilft, ein Trainer im Sportverein, der ein Praktikum vermittelt, oder eine Lehrerin, die eine besondere Begabung erkennt. Menschen, die helfen, an einer Abzweigung im Leben den richtigen Weg zu nehmen, sind besonders wichtig, wenn die eigene Familie wenig mit dem Schulwesen und dem Ausbildungssystem in der neuen Heimat vertraut ist.
Ich finde es großartig, dass in diesen Tagen an vielen Orten Willkommensinitiativen für Flüchtlinge entstehen. Viele Ehrenamtliche helfen ganz praktisch dabei, den Alltag in Deutschland zu organisieren. Sie vermitteln dabei eine ganz wichtige Botschaft: Es ist uns nicht egal, wie es Fremden in diesem Land geht. Wir öffnen unsere Türen und Herzen für euch! Es ist eine Aufgabe für uns alle, Ausgrenzung und Einsamkeit zu überwinden. Oder, wie es ein türkisches Sprichwort sagt: Damlaya damlaya göl olur.
Auf die Mütter kommt es an
Wenn wir über Teilhabechancen reden, sollten wir die ganze Familie in den Blick nehmen. Oft sind es die Mütter, die eine Schlüsselrolle beim Ankommen in einem anderen Land haben. Wir wissen, dass viele zugewanderte Mütter gerne arbeiten wollen und auch gut qualifiziert sind. Dennoch üben nur 52 Prozent eine Erwerbstätigkeit aus. Bei Müttern ohne Zuwanderungsgeschichte sind dagegen 73 Prozent berufstätig. Die Gründe sind unterschiedlich: geringe Sprachkenntnisse, ein fehlender Kinderbetreuungsplatz, oder es fehlt einfach an Ermutigung und Orientierung. Mit passgenauer Unterstützung allerdings gelingt vielen der Sprung in die Berufstätigkeit; das haben die Erfahrungen aus einem Modellprojekt des Bundesfamilienministeriums gezeigt. Nach dem Besuch eines Sprachkurses ging für Tatjana aus Kasachstan ein Traum in Erfüllung, denn sie konnte eine Ausbildung zur Köchin beginnen. Ebru aus der Türkei hat nach intensiver Vorbereitung die Aufnahmeprüfung für die Ausbildung in einem Gesundheitsberuf an einer Klinik bestanden. Shabana aus Afghanistan studiert inzwischen an einer Fachhochschule und ermutigt als Mentorin andere Frauen auf ihrem Weg.
Die Erfahrungen dieser Frauen machen Mut, denn sie zeigen, dass Aufstieg in Deutschland möglich ist. Im Februar dieses Jahres startet deshalb ein neues Programm mit dem Titel „Stark im Beruf – Mütter mit Migrationshintergrund steigen ein“. An bundesweit 84 Standorten werden Mütter mit Migrationshintergrund auf dem Weg in die Erwerbstätigkeit begleitet und Arbeitgeber auf die Potenziale dieser Gruppe aufmerksam gemacht. Die Anerkennung und Selbstbestätigung durch eine Erwerbsarbeit wirkt sich auch positiv auf die Familien der Frauen aus. Eine türkische Mutter, die mittlerweile ihr Studium abgeschlossen hat, berichtet: “Wenn ich zuhause für eine Prüfung lerne, setzt sich mein Sohn ganz automatisch mit seinen Hausaufgaben neben mich, den brauche ich gar nicht anzumahnen.” Migrantinnen, die einen Beruf ausüben, fühlen sich besser in die Gesellschaft integriert und sind zufriedener mit ihrem Leben. Sie sind gleichzeitig ein Vorbild für ihre Kinder und geben ein wichtiges Signal in die Gesellschaft.
Unser Land wird durch Vielfalt bereichert. Es ist ohne Einwanderinnen und Einwanderer nicht denkbar. Dafür brauchen wir heute und morgen ein gutes Miteinander, eine Gesellschaft, in der alle Menschen die gleichen Chancen haben unabhängig von ihrer Herkunft.