Zwei Theaterstücke über Migration und Frauen im Widerstand
ISBN 978–3–933847–62–1
LEHR- UND WANDERJAHRE
Die Türkei von den späten 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis heute: Der erste Putsch 1960, der zweite 1971, der dritte 1980. Dreimal Machtübernahme der Militärs und nun eine ungewisse Zukunft nach dem jüngsten Versuch 2016 – das ist der politische Hintergrund, vor dem sich Dünyas Leben zwischen der Türkei, dem Land, in dem sie geboren ist, und Deutschland, dem Land, in das sie immer wieder kommt, abspielt.
Dünya ist in einem liberalen Haushalt in Istanbul aufgewachsen. Das Au-pair-Mädchen Brigitte erteilt ihr den ersten Deutschunterricht. In der Deutschen Schule wird sie von strammen deutschen Lehrern unterrichtet. Exportierte Auslaufmodelle, nachhaltig vom „Nazi-Geist“ geprägt. Ihr Vater, Baba, hat seinerzeit in Deutschland studiert und die ersten Anzeichen allen Übels nicht vergessen. Baba schwebt als Universitätsprofessor stets in höheren geistigen Sphären. Anne, die Mutter, ausgebildete Pianistin, ist Hausfrau, Gastgeberin, Klavierbegleiterin. Zu Hause tummeln sich Intellektuelle, Gleichgesinnte, Gestrandete. Vor dem Hitler-Regime Geflüchtete, die an der Uni arbeiten. Aber auch ehemalige Nazi-Anhänger, die nach dem Krieg in Istanbul Unterschlupf fanden.
Der Putsch von 1960 verändert alles. Dünya muss nicht mehr an die Schule, Baba darf nicht mehr in die Uni. Das Angebot der Putschisten, seine Kollegen zu bespitzeln, um wieder unterrichten zu dürfen, lehnt er ab. 1961 geht die Familie gleichzeitig mit der ersten Welle der Arbeitsmigranten nach Deutschland. Baba wird an der Uni Tübingen Gastprofessor. Dünya lernt das Land und seine Menschen kennen, unter anderem den Unterschied zwischen der türkischen und deutschen Geselligkeit. Sie mag ihre neuen Lehrer. Sie wird erster Sopran im Kirchenchor, verknallt sich in den Pfarrer und singt mit ihm im himmlischen Duett. Die Idylle hat dann ein Ende. Baba darf wieder in Istanbul arbeiten, Anne zieht es in die Heimat. Dünya wird aber immer wieder nach Deutschland zurückkehren.
1972, ein Jahr nach dem zweiten Putsch, geht sie als Studentin nach Berlin. Begeistert taucht sie in die Welt des Theaters und der Musik und jobbt als Lehrerin für Migrantenkinder in Kreuzberg. Sie leidet an den Schicksalen ihrer Schützlinge, die oft nach streng konservativen Mustern erzogen werden. Dünya, die immer wieder mit Vorstellungen über das unterdrückte muslimische Frauenbild konfrontiert wird, die aber von ihrem Vater weder geschlagen noch zwangsverheiratet wurde, vermisst bei vielen Eltern ihrer Schüler die Bereitschaft zur Integration. Nach Abschluss ihres Studiums geht sie in die Türkei zurück. Sie beginnt an der Universität zu unterrichten.
Der dritte Putsch 1980 macht das Leben an der Uni zur Hölle. Jetzt kümmert sie sich um die Kinder jener Familien, die aus den anatolischen Dörfern in die Vororte Istanbuls ziehen. Die mittlerweile etablierte Theaterwissenschafterin Dünya träumt von Deutschland, aus dem viele Arbeitsmigranten wieder in die Türkei zurückkehren. Sie folgt dem Angebot einer deutschen Uni, um Migrantenkinder in türkischer Literatur unterrichten.
Heute, nach vielen in beiden Ländern, der Türkei und Deutschland, verbrachten Jahren registriert Dünya die Glorifizierung eines neuen Sendungsbewusstseins der Anhänger des Regimes in der Türkei, der Deutschtürken mit stolzem osmanischen Migrationshintergrund. – Kinder begleiten seit jeher Dünyas Leben. Ihre Geschichten erzählen die Geschichte der Migration. Und sie gehören zu Dünyas eigener Geschichte der Wanderschaft.
Zehra İpşiroğlu verknüpft die Geschichte ihrer Protagonistin mit den Berichten der Migrant*innen der siebziger Jahre und derer Kinder von heute. Das Motiv der Migration zieht sich auf mehreren Zeitebenen durch das Stück. Über einer bedrohten Gegenwart schwebt der Putschversuch des Jahres 2016 mit seinen Folgen.
Wie stellt sich die europaweite Krise der Demokratie aus deutsch-türkischer Perspektive dar?
FRAUENLANDSCHAFTEN
Wie tief muss die Spaltung in einem Land sein, in dem ein weiblicher Coach für eine „konservative Lebensweise“ die angeblich bedrohten Männerrechte vertritt und in dem Vereine Frauen und Mädchen zum „Schutz der Männer vor weiblichem Terror“ absurde Verhaltensweisen empfehlen? In einem Land, in dem Jugendliche als selbsternannte Ehrenwächter Frauen drangsalieren?
Zehra İpşiroğlu übt scharfe Kritik an der patriarchalischen Gesellschaft der Türkei, lässt aber auch durch klaren Widerstand Hoffnung aufkommen. Die Studentin Eylül, die wegen sexueller Belästigung zur Polizei geht, wird von den Beamten schikaniert. Eine Polizistin schüttelt sie ab und gibt Eylül selbst mit ihrem aufreizenden Äußeren die Schuld an dem Vorfall. Die Studentin Zeynep, die durch Bildung ihrem Milieu entkommen will, wird just von ihren Geschlechtsgenossinnen verdammt: Eine berufstätige Frau sei defekt, behindere die Männer und ziele auf deren Verführung am Arbeitsplatz ab. Die liberale Soziologieprofessorin Esin wird von einem Studenten wegen Aussagen, die angeblich religiöse und nationale Gefühle des Volkes verletzen, denunziert, vom Dekan entlassen und wegen Verdachts auf Terror vor Gericht gestellt. Der Ehrenschutzmann Feyzullah liefert einen Fluggast, der sich weigert, den Platz neben einer Frau mit Burka zu wechseln, weil ihre Religion verbiete, neben einem Mann zu sitzen, nach der Landung an die Polizei.
Wer ist hier Opfer? Wer Täter?
Leyla, die ihren brutalen Ehemann in Notwehr getötet hat, kämpft um ein gerechtes Urteil. Kader, die Schwester des Ermordeten, wird von ihrem Mann Cenk beinahe erstochen, weil er Kaders Geschenk zum Valentinstag, zum „Tag der Verliebten“ der Regenbogenpresse, als Vertuschungsversuch ihrer mutmaßlichen Untreue interpretiert. Im Krankenhaus preist Kader die Güte ihres Mannes, der die Anzeige gegen sie wegen Ehebruchs zurückgezogen und ihr das Missverständnis, das seinen Eifersuchtsanfall auslöste, verziehen hat. Kader verspricht Besserung und verteidigt, wie ihren Mann, auch ihren ermordeten gewalttätigen Bruder und verflucht ihre Schwägerin Leyla, die eine ganze Familie zerstört und entehrt haben soll. Kaders Mutter Hüsniye verflucht beide: Ihre Tochter, weil sie sich von den Schändlichkeiten der bunten Magazine habe verderben lassen, und ihre Schwiegertochter, weil sie die Scheidung von ihrem Sohn gewagt habe. Außerdem übe Leyla schlechten Einfluss auf Kader aus, während der „unschuldige“ Sohn sich lediglich gegen ihre Provokationen habe wehren müssen. Der Sohn, der eine Zehnjährige misshandelt hat, sitzt kurz im Gefängnis und wird nach seiner Entlassung von Leyla, der „abtrünnigen Hexe“, ermordet. – Sie sind allgegenwärtig, die neuen Ehrenhüter und -hüterinnen. Und sie verordnen eine streng definierte Moral, bedingungslosen Gehorsam und Unterordnung: Töchter, hütet eure Ehre!
Das Stück umfasst in sechs Szenen mehrere Ebenen: Spiel, Interview, Film. Die beiden Ebenen Spiel und Interview gehen ineinander über, die Filmsequenzen zeigen Clips wie in der Fernsehwerbung. Tänzerische Zwischenspiele artikulieren das Unaussprechliche. Durch die geballte Vorführung der Stimmen entstehen absurde Effekte, die jede Satire überbieten. Sämtliche Episoden zeigen die Gewalt gegen Frauen und deren Unterdrückung in allen sozialen Schichten. Sie sind keineswegs erfunden, sondern beruhen auf dokumentarischen Berichten aus der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit der Türkei. Trotzdem ist das Stück nicht spezifisch „türkisch“, sondern ergreift Partei für universelle Werte: Frauenrechte, Gleichberechtigung, Selbstbestimmung. Es benennt Konflikte, resultierend aus Ideologien und Denkmustern religiöser und nationalistischer Natur, die das einzelne Individuum massiv einzwängen. Dabei zielt es nicht nur auf halbdemokratische und diktatorische Politsysteme, sondern durchaus auch auf europäische Länder, die durch Migration und Fluchtwellen vor neue Herausforderungen gestellt werden.