Broschiert: 265 Seiten
Verlag: trafo Literaturverlag; Auflage: 1
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3864650704
“Geteiltes Leben” oder die untrennbare Welt von Ertekin Özcan
Ertekin Özcan hat die wichtigsten Jahre seines Lebens in Deutschland verbracht; ein sensitiver, produktiver, forschender Beobachter. Seine Beobachtungen sind nicht, wie die eines Touristen, oberflächlich; nicht wie ein Soldatenwitz, das zum Stadtmärchen verdreht wird. Nein, er hat das real gelebte Leben aufgenommen. In Özcans letztem Buch werden genau diese Aufnahmen komplett zusammengefasst; und diesmal ganz auf deutsch.
Nach seinem Jurastudium und der Rechtsanwaltstätigkeit lässt Herr Özcan sich in Deutschland nieder. Das neu veröffentlichte Buch “Geteiltes Leben” umfasst 265 Seiten, welches sein Leben von seiner Kindheit bis zum Jahre 1986 mit Gedichten, Prosa, Karikaturen und Fotos untermauern.
Für das Buch, mitdem er sich identifiziert, schreibt er auf Seite 5 dies: “die Prosa dieses Buches ist mein Leib, die Gedichte sind mein Leib und meine Seele”. Dieses Gleichnis ist im ganzen Buch zu beobachten.
Dieses Buch ist eine breitfächrige Widerspiegelung seines politischen, gesellschaftlichen, erzieherischen und lyrischen Lebens.
Über Jahrzehnte hinweg, beobachtet Ertekin Özcan die Geschehnisse seiner Heimat und seiner Wahlheimat, indem er einen bestimmten Abstand bewahrt. Das Buch besteht aus Texten und Gedichten, die eine Auslese seiner ausgereiften Phase bilden.
Was gibt es nicht in dem Buch? Die jenigen, die ihn noch nicht kennen, werden in diesem Buch eine sozialdemokratisch gesinnte und organisatorisch begabte Persönlichkeit kennenlernen, die sich für die gleichen Rechte und gleiche Behandlung und Teilhabe aller Menschen einsetzt. Sie lernen auch nicht nur den Verfasser kennen, der die im Jahre 1989 erschienene und erste umfangreichste Doktorarbeit “Türkische Immigrantenorganisationen in der Bundesrepublik Deutschland” veröffentlicht hat, sondern auch den Mitgestalter, Mitbegründer und Vorsitzenden der wichtigsten türkischen Verbände auf Landes- und Bundesebene, wie HDF (Föderation sozialdemokratischer Volksvereine in Europa),TEV-BB (Türkischer Elternverein in Berlin-Brandenburg), TBB (Türkischer Bund in Berlin-Brandenburg), TGD (Türkische Gemeinde in Deutschland), FÖTED (Föderation türkischer Elternvereine in Deutschland etc..
Der Mensch ist ein bio-psycho-soziales Wesen. Und die ihn umgebenden sozialen, wirtschaftlichen, politischen, kulturellen, kurz gesellschaftlichen Verhältnisse prägen sein Leben. Verlässt ein Mensch sein Geburtsland (Mutterland), werden die Einflüsse seines neuen Aufenthaltslandes allmählich immer prägender.
Im günstigsten Fall wird es zum Aufenthaltsland (Vaterland), im schrecklichsten Fall zum lebenslangen, wurzellosen Exil. Dass, was immer bleibt, sind die Kultur des Mutterlandes die Nabelschnur in die neue Heimat bleibt, zumindest in der ersten Generation der Ein- oder Auswanderer (je nachdem, von welcher Seite man es betrachtet). Und schön, wenn die alte Kultur des Mutterlandes und die des werdenden neuen Vaterland den Menschen gemeinsam bereichern. Dann kann das Gefühl entstehen, das Leben sei zweigeteilt.
Wenn der Mensch auch ein Bestandteil einer immigrantischen oder kulturellen Minderheit ist, und in der neuen Heimat Schritt für Schritt sich niederläßt, dann wird der Mensch auch von der neu entstandenen Minderheitskultur geprägt. So wird das Menschenleben sogar drei geteilt.
Mit diesem Blick schaut Ertekin Özcan auf sein eigenens Leben. Seine autobiografischen Texte und Gedichte, denen er zwangsläufig den Titel ”geteiltes leben” voransgetellt hat, reflektieren sein persönliches, politisches und gesellschaftliches Leben im Prozess seiner Migration nicht nur in Deutschland, sondern auch politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnissen des Herkunftslandes sowie auch neugebildeten Verhältnissen der türkischen (bzw. ImmigrantInnen) Minderheit in Deutschland.
Özcan schildert und kritisiert einerseits die Verhältnisse des Mutterlandes, aus dem er ausgewandert ist, andererseits des Aufenthaltslandes, das trotz der diskriminierenden Rahmenbedinungen für ihn die zweite Heimat geworden ist; sowie die EinwandererInnenminderheit, zu der er angehört.
Auf jeder Seite dieses Buches begegnet man interessanten Menschen, die sein Leben berüht, beeinflußt und/oder länger begleitet haben. Wie der Verleger auf der Rückseite des Umschlags des Buches zum Ausdruck gebracht hat: “In jedem seiner Verse zeigt sich Emphatie für diese Welt, drückt sich seine politische Verortung weit links von der Mitte aus, zeigen sich Intentionen, Hoffnungen, Sehnsüchte und natürlich auch Entäuschungen, die sein Engagement über Jahrzehnte begleiteten. Das Berührende: Er muss sich nicht zwingen, “Kunst” zu machen. Die Muse hat ihn geküsst – vielleicht Euterpe, oder Erato, oder Kalliope – sie kamen und kommen zu ihm und er benutzt die Gabe, den Wahrheiten des Lebens nachzuspüren und sie weiterzugeben: deine wurzel ist dort / deine äste sind hier / du selbst bist hier / dein kopf ist dort //…. damit du verstehst – / eine hälfte von dir ist hier / die andere ist dort.”
Einige weitere Bespiele von Versen dieses Buches möchte ich erwähnen, damit man einen gesamten Eindruck über das Buch haben kann. Wenn man fragt, warum ImmigrantInnen in die Bundesrepublik eingewandert sind, findet man die Antwort in folgenden Versen (Seite 151),
an den metzgereien kommt unser weg nicht vorbei
sie denken an ihr fleisch
und wir an unsere eigenen sorgen
hier süßer schmerz
hier bitteres glück
wir sind an orten der diskriminierung verbannt
aus dem ort, in dem verachtet wurden
armut und arbeit
Und das Aufenthaltsland wird unbemerkt als neue Heimat, ob es schmerzlich oder erfreulich geschieht (S. 182)
du webst das leid der geleisteten arbeit
dein geburtsort liegt in sehnsüchten sehr weit
der ort, in dem du satt bist
dem leid und glück
besonders dem leid
und dir selbst eine neue heimat
Als die Bundesrepublik Deutschland am 01.10.1980 die Visumspflicht gegen türkische Staatsangehörige einführte und dies von anderen europäischen Ländern verfolgt wurde, schrieb er seine Wahrnehmung so (S.183):
du bist in deutschland
deine geschwister sind in frankreich, in england, in belgien
in den ländern der wiege freiheitlicher demokratie
in euren händen die arbeiterpässe mit halbmond und stern
bei jedem übertreten
der „tore der freizügigkeitsgrenze“
wird eure menschenwürde mit füßen getreten
…….
frei ist der transfer des kapitals
frei ist der kreislauf des mehrwerts
für sie stehen alle kenntnisse und erfahrungen
der menschheit zur verfügung
für sie sind die rechte
………
für dich sind die tore der grenze zu
gegen dich sind die gebauten mauern
was du produzierst, macht man dir zum feind
du geschwister aus der türkei, aus afrika, aus asien
aus lateinamerika
leistet ihr für recht und freiheit einen widerstand
Folgende Verse des langen Gedichts: Abend in der Fremde stellen die Situation der Türkei nach dem Militärputsch 1980 dar (Vgl. S.175ff), der Militär- bzw. Zivilputsch gegen Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Gewaltenteilung der Staatsgewalt und unabhängige Justiz in der Türkei und in vielen Länder in der Welt aktuell ist:
bülent ecevit ruft den arbeitern zu
“gehen sie von den tribühnen auf das feld hinunter”
wie ein hammerschlag stürmt die armee
nicht differenzierend nach schuldig und unschuldig
opfer werden ehrenhafte intellektuelle politiker
und auch führende gewerkschaftler
Ertekin und Işıl Özcan haben zwei Töchter, die ich sehr gut kenne. Ertekin schreibt: “Nachdem unsere Kinder geboren wurden, wuchsen wir mit ihnen gemeinsam auf”. Um einen Beitrag für die Lösung der Probleme türkischer und Immigrantenkinder und Jugendlicher zu leisten, hat er mit vielen Eltern 1985 den Türkischen Elternverein in Berlin e.V. gegründet. Zwei Jahre vor der Gründung des Vereins schrieb er u. a. folgende Verse, die das Dilemma der Kinder von EinwandererInnen verdeutlichen (Vgl. S.230 ff)):
drei von zehn deutschen kindern
können die hochschule besuchen
bei uns gelingt dies noch nicht einmal zu fünf prozent
wie schwer ist es, dahin zu gelangen
Die Idenditätssuche der Kinder beginnt sogar im Vorschulalter. Er stellt dies aus eigener Erfahrung seiner Kinder im folgenden Gedicht “drei bilder” dar (S.246), dessen türkische Fassung seine Tochter Süreç Özcan komponiert hat,
eines tages in der vorschule
habe ich drei bilder gemalt
eines für meine mutter
eines für meinen vater
und eines für mich
………
warum drei bilder fragte meine mutter?
mein vater auch
ich liebe meinen vater
und meine mutter
sowie das hier
diese drei sind fest verbunden
mein vater ist aus der türkei
meine mutter aus griechenland
ich stamme von hier
Um die Diskriminierung abzubauen und ein vielfältiges, gleichberechtigtes, friedliches Leben für alle Menschen in Berlin und in Deutschland zu schaffen, schreibt Özcan folgende Versen (S. 194):
gemeinsam werden wir kneten und verknetet
gemeinsam werden wir lernen und lehren
gemeinsam werden wir lachen und weinen
gemeinsam werden wir nehmen und geben
sowohl wir als auch sie minderheit und mehrheit
menschenwürdig gleichberechtigt leben
In diesem Trafoverlagsgruppe herausgegebenen Buch werden nicht nur die im Prozess der Migration entstandenen Zustände und Fragen thematisiert, sondern auch in jedem seiner Verse zeigt sich Emphatie für diese Welt.
Von seinem ansteckendem Engagement und Einfühlungsvermögen haben wir vieles von Özcan gelernt und lernen. Mit seinen Abhandlungen und Gedichten bildet Özcan für das Leben der in Deutschland niedergelassenen ImmigrantInnen einen wichtigen Grundstein. Er ist weiterhin mit neuen Projekten auf dem Wege. Schön wäre es doch wenn es noch mehr Ertekin Özcans in Deutschland gäbe.