Deutschland hat viele Förderschüler, sehr viele sogar im internationalen Vergleich. Dabei sind die Menschen, die in Deutschland wohnen, keineswegs häufiger behindert als in anderen europäischen Ländern. Man muss also sagen: In Deutschland gelten Kinder als behindert, die in anderen Ländern nicht als behindert gelten. Und hierzu zählen seit Jahrzehnten viele Kinder mit Migrationshintergrund. Warum haben sich hier solche Zustände entwickelt?
Dass in Deutschland so viele Schüler in die Förderschule gehen müssen, kann man auf unterschiedlichen Wegen erklären. Man muss wohl zunächst die Besonderheiten der deutschen Schulentwicklung betrachten. In Deutschland ist man sehr früh auf den Gedanken gekommen, dass Schüler, deren Lernentwicklung zu Sorgen Anlass gibt, mehr Hilfe benötigen. Und wirklich: Es war sicher nicht gut, dass man Kinder, die z. B. nicht lesen lernen konnten, ohne Unterstützung in den damals verbreiteten großen Klassen ohne besondere Hilfen mitlaufen ließ.
Als in den 1960er und 1970er Jahren Migranten in die Bundesrepublik kamen, entwickelten viele Kinder aus diesen Familien bald Probleme mit der Schule. Das hatte einerseits mit den fehlenden Angeboten für bilinguale Kinder zu tun. Aber es gab auch andere Ursachen der Schulprobleme: Viele Migrantenfamilien waren arm. Einige Eltern konnten selbst nur wenige Jahre zur Schule gehen. Und weil die Förderung von Kindern aus armen Familien nicht unbedingt zur Stärke des deutschen Schulsystems gehört, mussten bald viele Kinder mit Migrationshintergrund in die Hilfsschulen gehen. Je nach Herkunft liegen die Zahlen deshalb noch heute um ein Vielfaches über den Förderschulquoten der Familien ohne Migrationshintergrund.
Deutsche Wissenschaftler dachten bis in die 1980er Jahre hinein, dass Kinder mit Behinderungen grundsätzlich anders lernen als nicht behinderte Kinder. Sie glaubten, dass diese Kinder besondere Methoden benötigten. Etwa so: Hilfsschüler haben ein schlechtes Gedächtnis. Also musste viel wiederholt werden. Hilfsschüler haben Probleme mit abstrakten Dingen. Also musste der Unterricht anschaulich sein. Man dachte: Am besten sollten diese Schüler in besondere Schulen gehen. Und weil sich die meisten Lehrer aus den Regelschulen freuen, wenn man schwierige Kinder ohne schlechtes Gewissen in eine andere Schule geben kann, waren die Hilfsschulen schnell erfolgreich. Ein neuer Schultyp war entstanden, mit einer deutlich wachsenden Schülerzahl.
Heute sieht man die Dinge anders. Dass behinderte Kinder grundsätzlich anders lernen als nicht behinderte Kinder glauben nur noch sehr wenige Wissenschaftler. Kein ernst zu nehmender Pädagoge will mehr Unterrichtskonzepte für Förderschüler aus vermeintlichen typischen Defiziten behinderter Kinder ableiten. Lehrer sollen heute auch nicht mehr ein einheitliches Programm für alle Kinder anbieten – nicht in den Gymnasien, nicht in den Gesamtschulen und auch nicht in den Förderschulen. Gute Lehrer sollen sich vielmehr überlegen, wo jeder einzelne Schüler steht, und die individuell passenden Angebote machen. Etwa so: Der größte Teil der Klasse arbeitet selbständig an seinen Aufgaben, und einige Schüler bekommen individuelle Hilfen vom Lehrer.
Neue Entwicklungsanreize gehen auch von der UN Behindertenrechtskonvention aus. Unter dem Eindruck der Ergebnisse der Integrationsforschung, u.a. auch auf Druck von Behindertenverbänden und Selbsthilfegruppen ist 2006 ein internationales Abkommen, eine Art Selbstverpflichtung entstanden, in denen sich die Staaten der Vereinten Nationen freiwillig dazu verpflichten, die Rechte von Menschen mit Behinderung zu achten. Die UN- Behindertenrechtskonvention bezieht sich dabei u.a. auch auf die Schulen und fordert dazu auf, Kindern mit Behinderung Zugang zu allgemeinen Schulen zu gewähren. Viele Staaten haben das Abkommen unterzeichnet. Auch Deutschland gehört dazu. Also muss man über Alternativen zu Sonderschulen nachzudenken.
Dies verursacht inzwischen einige Aufregung. Nicht immer sind alle Beteiligten mit Überzeugung bei der Sache. Einige Bundesländer haben lediglich vor, behinderte Kinder erst nach einigen Jahren Regelschule in die Förderschulen zu schicken. Denn auch diese Maßnahme senkt die Förderschulquoten. In anderen Bundesländern soll ein neuer Name den Förderschulen neues Ansehen verschaffen. Die meisten behinderten Kinder in Regelschulen haben zudem auch noch nach wie vor eine Art Sonderstatus: Man sagt, sie haben sonderpädagogischen Förderbedarf. Es gibt also nach wie vor einen Förderschullehrer, der sich um sie kümmert – und sei es für ein, zwei Stunden in der Woche. Sie werden – je nach Behinderung – möglicherweise anders benotet. Und sie erhalten auch unter Umständen einen besonderen Abschluss, und dies , obwohl sie die gleiche Schule besuchen, wie alle Kinder. Als behindert eingestufte Kinder können also z. B. zunächst die Grundschule besuchen und danach mit etwas Unterstützung die Gesamtschule. Aber am Ende der Schule haben sie keinen brauchbaren Schulabschluss, also kein Abitur, kein Realschulzeugnis, noch nicht einmal einen Hauptschulabschluss, sondern lediglich das Abgangszeugnis Förderschule.
Was kann man Eltern empfehlen, deren Kinder Probleme in der Schule haben? Grundsätzlich kann man wohl sagen, dass inklusive Schulen eine gute Sache sind. Kinder lernen viele Dinge von anderen Kindern. Die Leistungen stimmen in der Regel, das zeigen viele wissenschaftliche Untersuchungen seit Jahrzehnten. Es ist zwar so, dass behinderte Kinder nicht zwangsläufig zu den beliebtesten Schülern in den inklusiven Schulen gehören. Aber Förderschüler wissen spätestens in der vierten Klasse, was die anderen von ihnen denken.
Eine Entscheidung für oder gegen eine Schule ist aber auch immer eine individuelle Entscheidung. Eltern müssen ja nicht herausfinden, welches System das bessere ist. Sondern sie müssen die beste Schule für ihr Kind finden. Weil die deutsche Schulwirklichkeit nun einmal durchaus auch schlechte Integrationsschulen vorsieht und einige Förderschulen auch gute Arbeit machen können, empfiehlt es sich, bei Schulproblemen zunächst die Schulen vor Ort näher in Augenschein zu nehmen. Bitte rechnen Sie aber damit, dass jede Schule bei einem ersten Besuch der Eltern ein gutes Bild hinterlassen will. Eltern bekommen nicht die schwierige Klasse zu sehen, sondern die Vorzeigeklasse. Und vermutlich weiß die Lehrerin der Vorzeigeklasse sogar vorher, dass sie Besuch erhält und bereitet Dinge vor, die ansonsten nicht alltäglich sind.
Man muss zudem herausfinden, welche Probleme bei dem eigenen Kind vorliegen. Wenn das Lesen und Schreiben sehr schwer fällt und die Intelligenz normal ist, dann spricht man z.B. von Lese-/Rechtschreibschwäche oder auch Legasthenie. Diese Kinder gelten nicht als behindert, sondern erhalten unter bestimmten Bedingungen ambulante Therapie, z. B. nachmittags in einer Legastheniepraxis, nach der Schule. Kinder mit Lese/Rechtschreibschwäche können zumindest theoretisch alle Schulabschlüsse machen. Fällt die Intelligenz dagegen sehr unterdurchschnittlich aus, dann kann die Diagnose „Lernbehinderung“ gestellt werden – mit gravierenden Auswirkungen auf den Lebenslauf.
Herausfinden, welche Probleme vorliegen, das ist eigentlich die Aufgabe von Spezialisten. Unerfreulicherweise ist das in den meisten Bundesländern noch so geregelt, dass Förderschullehrer die notwendigen Tests durchführen. Diese Lehrer sind also nicht unabhängig und Testverfahren können durchaus so ausgewählt und eingesetzt werden, dass Entscheidungen in die gewünschte Richtung fallen. Das wird dann zum Problem, wenn Förderschulen auf der Suche nach neuen Schülern sind.
Wer ein objektives Bild will, dem bleibt nur, sich an unabhängigere Stellen zu wenden und die Tests dort durchführen zu lassen. Kostenfreie und (meistens) unabhängige Diagnosen bekommt man z. B. in den kommunalen oder kirchlichen Erziehungsberatungsstellen. Es gibt auch Hochschulen, die derlei Dienste ebenfalls anbieten, ohne Geld dafür zu fordern. Das Problem: Einige Professoren unterstützen seit vielen Jahren die Förderschulen vor Ort. Man muss also genau überlegen, an welche Hochschule und an welchen Professor man sich wenden kann. Zuverlässigen und kostenlosen Rat in der Region Ruhrgebiet erhalten Sie u.a. auch beim Autor dieses Beitrags.
Wenn denn alle Befunde auf eine Behinderung hindeuten, dann muss man über die Frage nachdenken, ob ein Wechsel in die Förderschule sinnvoll ist, oder ob das Kind in seiner bisherigen Schule Hilfe bekommen soll. Die Fachbegriffe lauten hier: Integration, Inklusion oder Gemeinsamer Unterricht. Zwar können Eltern in den meisten Bundesländern Deutschlands (noch) nicht allein entscheiden, in welche Schule ihr Kind gehen soll. Aber Eltern, die klar und deutlich sagen, dass sie ihr Kind nicht in einer Förderschule unterrichten lassen wollen, Eltern, die dies auch frühzeitig in einem Brief an die zuständigen Stellen erklären (meistens ist das Schulamt die richtige Adresse), und Eltern, die glaubhaft mit dem Anwalt drohen können, sind meistens in der Lage, die Entscheidung maßgeblich zu beeinflussen. Nachdem die Behindertenrechtskonvention ratifiziert wurde, möchten nur die wenigsten Schulräte ein Widerspruchsverfahren verantworten. Und an schlechter Presse oder gar einem Gerichtsverfahren ist wirklich niemand interessiert.
Schulen, die Schüler suchen, Diagnostiker, die nicht immer fair und objektiv gutachten, Förderschulen und inklusive Schulen, die beide behaupten, die besten Angebote für behinderte Kinder zu machen – man kann nicht wirklich sagen, dass es für Eltern von Problemkindern einfach ist, die richtigen Informationen zu bekommen und die richtige Entscheidung durchzusetzen. Besonders schwer haben es arme, ungebildete Eltern oder Eltern mit Migrationshintergrund. Es wäre wirklich schön, wenn sich diese Dinge in Deutschland zumindest langfristig zum Besseren wenden würden. Ob die UN Behindertenrechtskonvention eine nachhaltige Änderung bewirken wird?