Ohne öffentliche Information und Diskussion wird die Einführung eines bundesweiten Bildungsverlaufsregisters politisch vorbereitet und vorangetrieben. Was bedeutet diese neue Datenstrategie und welchen Mehrwert für Bildung bringt sie?
Aussagen im Koalitionsvertrag der schwarz-roten Bundesregierung verdeutlichen, dass der Bund nicht nur ein Interesse an dem Vorhaben hat, sondern auch ein „Treiber“ ist. Er will „gemeinsam mit den Ländern für die nächste Dekade relevante und messbare Bildungsziele vereinbaren und eine datengestützte Schulentwicklung und das Bildungsverlaufsregister schaffen“. Dazu gehört auch „die Einführung einer zwischen den Ländern kompatiblen, datenschutzkonformen Schüler-ID“.
Karin Prien, die neue Bundesbildungsministerin, hat in ihrer Rolle als ehemalige Kultusministerin von Schleswig-Holstein zusammen mit ihren Amtskolleginnen aus Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz in einer Publikation der Wübben-Stiftung „Bessere Bildung 2035“ dafür geworben.
Bildungsverlaufsregister und Schüler-ID
Die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder haben dazu schon „ein Zielbild“ für ein Bildungsverlaufsregister im Verbund entworfen. Es soll eine bundesweite digitale Datenbasis geschaffen werden, die anonymisierte Individualdaten über Bildungs- und Lernverläufe zur Analyse und Steuerung für Politik, Verwaltung und Wissenschaft in einem hochkomplexen rechtlichen und technischen Verfahren bereitstellt. Mit der Einführung der statistikinternen Schüler-ID, die jeder und jedem Lernenden als einmalige Identifikationsnummer zugeordnet wird, soll sichergestellt werden, dass keine Personenbezüge aus den Daten abgeleitet werden können.
Zur Umsetzung ist neben der gesetzlichen Einführung einer Schüler-ID auch die flächendeckende und länderübergreifende Umstellung der Schulstatistik von Summen- auf Individualdaten notwendig. Sie wurde zwar schon 2003 für einen Kerndatensatz (KDS) von der Kultusministerkonferenz beschlossen, ist aber bis heute noch nicht von allen Bundesländern umgesetzt worden.
Ausgestaltung
Die Erfassung des Schulverlaufs mit der Schüler-ID ist eher als Einstieg in ein allumfassendes Datenprogramm zu verstehen. Gefordert wird von den Befürworter:innen eine Bildungs-ID, die alle Bildungsphasen von der frühkindlichen Bildung bis mindestens zum Berufsbildungs- oder Hochschulabschluss erfasst.
Auch die Frage, welche Daten individuell erhoben und in das Register aufgenommen werden, wird intensiv diskutiert. So fordert bspw. der Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten eine Umsetzung, die nicht nur Übergänge und Abschlüsse „datenschutzkonform und forschungsfreundlich“ dokumentiert. Auch die Berücksichtigung von Noten und Daten aus regelmäßigen standardisierten Kompetenzmessungen hält er für unerlässlich. Nach dem Vorbild anderer europäischer Staaten sollen die Daten mit anderen Registern und auch mit anderen Forschungsdaten verknüpfbar sein, lautet der Appell an die Politik. „Das Bildungsverlaufsregister darf kein Datensilo werden.“
Begründungen
Das Wissen über Bildungsverläufe und Bildungserträge sei in Deutschland im Vergleich zu europäischen Ländern gering und erschwere die strategische Beobachtung und zielgerichtete Steuerung des Bildungssystems, argumentiert der Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten.
Aus seiner Sicht ist die Verfügbarkeit von Bildungsdaten in Deutschland durch die internationalen Bildungsvergleichsstudien, die Querschnitte der IQB-Bildungstrends und das Nationale Bildungspanel (NEPS) mit seinen Längsschnittdaten für ausgewählte Kohorten zwar erheblich verbessert worden. Die große Lücke an umfassenden längsschnittlichen Daten könne damit aber nicht abgedeckt werden.
Deutschland müsse sich für „bessere Bildung“ am Beispiel des kanadischen Bildungssystems ausrichten, das hohe Leistungserträge, Chancengleichheit und Wohlbefinden der Lernenden als strategische Bildungsziele erfolgreich miteinander verbindet, lautet die Begründung der Wübben-Stiftung. Auch Prof. Anne Sliwka wirbt für den kanadischen Weg. Als erfolgreich erweise sich, dass dort in regelmäßigen Zyklen individuelle Daten über Schulleistungen und Wohlbefinden der Schüler:innen erhoben werden, die auf und zwischen allen Ebenen des Bildungssystems (Unterricht, Schule, Verwaltung, Politik) kommuniziert werden. Sie dienten als Ausgangspunkt für professionelle, vertrauensvolle Dialoge über Ziele, Zielvereinbarungen und Wirksamkeit der Maßnahmen.
In einer aktuellen Veröffentlichung der Bertelsmann Stiftung „Empfehlungen für eine veränderte Lern- und Prüfungskultur “ stellt ein Expertenteam die Vorzüge der individuellen Lernbegleitung gegenüber dem bestehenden starren Instrumentarium der Lern- und Prüfungsordnung mit Noten und Versetzungsregelungen heraus. Die Wissenschaftler:innen werben in diesem Zusammenhang eindringlich für die Erhebung von Individualdaten im Lernverlauf und eine darauf basierende „konsequent datengestützte Steuerung auf allen Ebenen des Systems“.
Datenschutzrechtliche Bedenken
Ob diese Argumentationen in Gesetzgebungsverfahren vor dem Datenschutz bestehen können, muss sich erst noch erweisen. Auf Anfrage hieß es von der Pressestelle der Landesdatenschutzbeauftragten in NRW: „Soweit es um die datenschutzrechtliche und -technische Zulässigkeit der Einführung eines bundesweiten Bildungsverlaufsregisters geht, sehen wir dies kritisch. Ein solches Register kann zu einer Erfassung von ganzen Bildungskarrieren über teilweise deutlich mehr als ein Jahrzehnt führen. Wesentlich bei der Bewertung dürfte deshalb sein, ob die Einführung des Registers überhaupt den hohen Hürden der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit einer solchen Datenverarbeitung entsprechen würde.“
Bildungsdaten im Kontext des selektiven Schulsystems
Deutschland ist nicht Kanada! Anders als das kanadische ist das deutsche Schulsystem hochselektiv bezogen auf Leistung und Herkunft. Auch das Wohlbefinden von Schüler:innen ist bis heute nicht als Qualitätskriterium in den Curricula verankert. Es sortiert, statt zu fördern, wie Joachim Lohmann in seiner Auswertung der PISA-Daten von 2022 herausgearbeitet und zutreffend formuliert hat.
Es verlangt keine hellseherischen Fähigkeiten für die vorausschauende Annahme: Solange wie die Bildungspolitik an der frühen Selektion und Aufteilung auf unterschiedliche weiterführende Schulformen und Förderschulen festhält, werden individuelle Bildungs- und Lernverlaufsdaten als Mittel für „passgenaues Sortieren“ im Rahmen präventiver, evidenz- und datengestützter Vermessungsstrategien genutzt. Eine passgenaue Vorlage dafür hat die Sonderpädagogik in dem Gutachten zur steigenden Anzahl von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf dem nordrhein-westfälischen Schulministerium schon geliefert.
Beispiele für Daten ohne Taten
Gegen die naive Vorstellung, dass mit der datengestützten Bildungsverlaufsstrategie die Leistungsergebnisse besser und die Bildungsungleichheit geringer wird, hilft ein Blick in die Realität. Es gibt genügend Beispiele dafür, dass trotz der vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse und Daten die entsprechenden bildungspolitischen Konsequenzen ausgeblieben sind und /oder bis heute verweigert werden.
Das zentrale Beispiel ist die bildungspolitische Verweigerung der Bildungspolitik, die Auswertung der Daten von PISA 2000 zur Kenntnis zu nehmen und in adäquates Handeln umzusetzen (Tillmann 2004). Da die OECD-Studie zeigt, dass die enge Kopplung von Lernerfolg und sozialer Herkunft an die frühe Selektion im gegliederten Schulsystem gebunden ist, hätten schulstrukturelle Merkmale in den Fokus der Diskussion um Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit treten müssen. Die Handlungsempfehlungen der KMK auf den sog. PISA-Schock gingen jedoch in andere Richtungen.
Für das Förderschulsystem ist wissenschaftlich erwiesen, dass es seine Schüler.innen bildungsarm und perspektivlos in die Gesellschaft entlässt. Dennoch wird es nicht nur erhalten, sondern gegen menschenrechtliche Verpflichtungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention sogar ausgebaut (Wocken 2025).
Die Zukunft der Bildung: Datafizierung?
Unter dem Buchtitel „Datafitierung (in) der Bildung“ (2024)) haben sich Expert: innen aus (Medien-)Pädagogik und Informatik mit Datenproduktion und -konsum und damit verbundenen Vermessungspraktiken im Bildungsbereich auseinandergesetzt und die Risiken ausgelotet.
Gegen die Normalisierung von Datafizierung im Bildungssystem, die Schulen in letzter Konsequenz zu Datenfabriken und Schüler:innen zu angepassten Objekten von Steuerung, Optimierung und Überwachung macht, stellt sich für Kritiker:innen wie Prof. Karen Joisten die Frage: „Was wollen wir. was Bildung sein soll?“ Diese Frage kann aus ihrer Sicht nur in einem breiten gesellschaftlichen Diskurs geklärt werden.
Quellen:
https://www.wuebben-stiftung-bildung.org/publikation-bessere-bildung-2035
https://www.destatis.de/DE/Methoden/WISTA-Wirtschaft-und-Statistik/2023/03/konzeption-bildungsverlaufsregister-032023.pdf?__blob=publicationFile&v=1
https://www.pedocs.de/volltexte/2019/17788/pdf/Fickermann_Weishaupt_2019_Bildungsforschung_mit_Daten_2_Mundelius_Der_Kerndatensatz.pdf
https://www.konsortswd.de/wp-content/uploads/Positionspapier-RatSWD-Aufbau-eines-Bildungsverlaufsregisters.pdf
https://deutsches-schulportal.de/expertenstimmen/warum-der-blick-nach-alberta-lohnt/
file:///C:/Users/PC/Downloads/Empfehlungen_fuer_eine_veraenderte_Lern_und_Pruefungskultur_final.pdf
https://www.schulministerium.nrw/system/files/media/document/file/kurzfassung_wissenschaftlicher_pruefauftrag_sonderpaedagogische_foerderung.pdf
https://www.pedocs.de/volltexte/2024/28433/pdf/Schiefner-Rohs_et_al_2024_Datafizierung_in_der_Bildung.pdf
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