Prof. Dr. Heinz Sünker
Universität Wuppertal
Auch 15 Jahre nach den ersten Debatten über die PISA-Ergebnisse in Deutschland ziehen zwar Auseinandersetzungen um das deutsche dreigliedrige Schulsystem und dessen besonders hohe soziale Selektivität, – also dessen wesentliche Bedeutung bei der Reproduktion von sozialer Ungleichheit – nach wie vor eine große öffentliche Aufmerksamkeit auf sich, allerdings ohne dass es zu entscheidenden bildungspolitischen Veränderungen gekommen wäre.
Dabei geht es auch heute, wie H.-J. Heydorn, der inspirierendste Bildungsanalytiker des 20. Jahrhunderts, die Aufgabe bezeichnet hat, um die Konzeptualisierung eines Begriffes von Bildung, der freiheitsverbürgend der Gegenwart angemessen ist, und sich nicht anschließt an das, was in der angelsächsischen Welt unter „marketisation“ und „commodification“ von Bildung diskutiert wird (vgl. Ball 2003). Damit handelt es sich zuerst darum, das herrschende System der Bildungsapartheid[1] endlich zu überwinden – auch vor dem Hintergrund der neueren Bildungsforschungsergebnisse, die wesentlich nur die alten bestätigen (vgl. Sünker 2003: 10; Sünker/Timmermann/Kolbe 1994) -, um Demokratie zu ermöglichen, indem die Bildung aller gefordert und realisiert wird. Angesichts der Erfahrungen mit dem katastrophalen 20. Jh. und der Frage nach humanen Perspektiven für das 21. Jh. bilden nicht ökonomisch ausgerichtete, sondern gesellschaftlich-politische Problemstellungen die entscheidenden Grundlagen für eine Debatte um Ansprüche an Bildung und Bildungspolitik – gerade auch in menschenrechtlicher Perspektive.
Dies bedeutet positiv gewendet zum einen, dass die Bildungsfrage unmittelbar verknüpft mit der Frage nach der Urteilskraft und Kompetenz von Menschen, ihre gesellschaftlichen Beziehungen bewusst zu regulieren, Gesellschaft zu gestalten, gesehen wird – dies ist die materielle Seite einer menschenrechtlich orientierten Argumentation. Dies führt zum anderen zu der entscheidenden Erkenntnis, dass Bildungspolitik Gesellschaftspolitik ist – in vielerlei Hinsichten. Am wichtigsten ist dabei die Vermittlung zur Demokratie-Problematik, was zu der These führt: Demokratie beruht auf Bewusstsein wie Fähigkeiten gebildeter Bürgerinnen und Bürger, die die öffentlichen Angelegenheiten als ihre eigenen begreifen und deshalb darin eingreifen; also gemeinsam in öffentlichen Angelegenheiten zu handeln suchen. Die Basis hierfür besteht in der Bildung aller, basiert demzufolge auf einer Bildung für alle.
Der entscheidende Skandal in unserer real existierenden bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft besteht daher darin, dass gesellschaftliche Ungleichheiten, also Klassenverhältnisse, durch Bildung nicht nur nicht überwunden, sondern in vielen Ländern noch verstärkt reproduziert werden, weil ‚Bildung’ – als „Ausstattung“ – eben für Lebenslauf und Lebenserfolg immer entscheidender geworden ist.
Dementsprechend lautet auch der gesellschaftspolitisch skandalöseste Satz in der Deutschen PISA-Studie, mit dem die Folgen scharfer sozialer Selektivität herausgestellt werden: „Kulturelles Engagement und kulturelle Entfaltung, Wertorientierungen und politische Partizipation kovariieren über die gesamte Lebensspanne systematisch mit dem erreichten Bildungsniveau“ (2001: 32). Im Klartext bedeutet dies, dass den Kindern und Jugendlichen, denen die Möglichkeit der Bildung genommen wird – und das hat eben unmittelbar mit ihrer Klassenlage zu tun -, lebensgeschichtlich übergreifend auch viele andere Möglichkeiten genommen werden – von Kultur bis zu politischem Bewusstsein, Interesse und Handlungsmöglichkeiten.[2] Konsequenzen hat dies dementsprechend für Lebenslage, Lebensweise und Lebensqualität, damit für Chancen auf Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung, damit für alle menschenrechtlich relevanten Kategorien. Ins Blickfeld gerät damit zugleich der bedeutsame Zusammenhang zwischen individuellen Bildungsmöglichkeiten und der Bildung des Politischen; dies als Problem einer gesellschaftlichen Entwicklung, die auf Demokratisierung aller Lebensbereiche und Partizipation aufruht.
Verweist also das zitierte PISA-Ergebnis auf eine permanente grundlegende Verletzung von Prinzipien der Demokratie und einem Konzept von Bildung, das der Aufklärungstradition und dem Bezug auf die Mündigkeit aller Menschen entspricht, so fordert es weiter dazu heraus, sich genauer mit Fragen nach gesellschaftlichen Grundlagen von und hegemonialen Auseinandersetzungen um Bildung zu beschäftigen.
Bildungspolitik als Klassenkampf
Im Rahmen eines Bündnisses von Aufklärern und Modernisierern, wie L. von Friedeburg (1994) es genannt hat, kam es vor50 Jahren in der Bundesrepublik zu Auseinandersetzungen um Bildungspolitik, mit denen sich ein Zeitfenster für bestimmte Veränderungen öffnete. Begonnen hatte diese Debatte mit G. Pichts Aufschrei über die „deutsche Bildungskatastrophe“, mit dem dieser den „Bildungsnotstand“ erklärte. Weiter ausgelöst durch den „Sputnikschock“ und eine damit einhergehend vermutete „technologische Lücke“ kam der Ruf nach einer „Ausschöpfung der Begabungsreserven“ auf. Im Zentrum stand bei Picht – und dies sollte ein Leitmotiv für die folgenden Debatten werden – die Vorstellung einer Verknüpfung von nationalem Bildungsniveau, d.h. Qualifikationsniveau der Ware Arbeitskraft, mit ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit. Zugleich – und dies ist häufig überlesen worden – benannte er unter der Überschrift „Schulpolitik: die Sozialpolitik von heute“ (1964: 30ff) nachdrücklich „die Ungerechtigkeiten, die mit der Sozialauslese durch die Schulen verbunden sind“ (1964: 32) – eben infolge des dreigliedrigen Schulsystems und des entsprechenden Berechtigungswesens.
Auf hiermit verknüpfte demokratietheoretisch wie demokratiepraktisch orientierte Perspektiven, die auch heute noch menschenrechtlich interessant sind, verwies auch R. Dahrendorf mit seiner Aussage „Bildung ist Bürgerrecht“. Bildungspolitik wurde hier verstanden als Voraussetzung für die Ermöglichung der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben (1966: 25); damit verband sich die Forderung nach „mehr Bildung für Menschen“ (28).
Bildungshistorisch wie systematisch fragt H.-J. Heydorn nach Zusammenhängen von „Gesellschaftsverfassung und Bildungsinstitution“ und kommt zu dem Schluss, dass Bildung stets „Ideologie und Macht einer bestehenden Gesellschaft absichern“ soll (1994/95: I, 285). Mit Bezug auf die Gegenwart – so formuliert er zur Zeit der ‚Bildungsreform’ – geht es um eine Bildung, „die die maximale Effizienz des Menschen in einer technologischen Gesellschaft sicherstellt, einer Gesellschaft, die auf Anpassung, Wechsel und Mobilität in weithin determinierten sozialen Grenzen beruht“ (I, 284).
Eine präzise Einschätzung formuliert P. Bourdieu aus bildungssoziologischer Sicht, wenn er davon spricht, dass „unter all den Lösungen, die im Laufe der Geschichte für das Problem der Übermittlung der Macht und der Privilegien“ gefunden wurden, keine besser „verschleiert“ sei als die mit dem „Unterrichtssystem“ verbundene, die „hinter dem Mantel der Neutralität“ diese Reproduktionsfunktion verberge (1973: 93). Den gesellschaftlichen Kontext bildet für ihn die Vermittlung von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital, d. h. es geht um die Realisierung des Prinzips „wer hat, dem wird gegeben“.
Die ideologischen Reden von „Chancengleichheit“ oder – noch übler – „Chancengerechtigkeit“ verschleiern diese Wirklichkeit mehr oder weniger bewusst; wird hier doch Gesellschaftsanalyse ersetzt durch individuelle Zuschreibungen oder Verdacht gegenüber Haltungen.[3] Erklärungsbedürftig aber scheint mir zunächst, weshalb die Benachteiligten, von Bildung Abgeschnittenen an ihrer eigenen Unterdrückung mitarbeiten und diese quasi zementieren (vgl. Bourdieu 2004: 13-19).
Damit dies nicht dem Motto folgt: „Du selber bist schuld, weil …“ ist die Erkenntnis entscheidend, dass zudem im Bildungsbereich ein weiterer Mechanismus wirkt, der in das bürgerlich-kapitalistische System insgesamt von Beginn an quasi „eingebaut“ ist: Es handelt sich um jene Ideologie, die A. Muschg an den Werken des bedeutendsten Vertreters des ‚bürgerlichen Realismus’, Gottfried Keller, entziffert, wonach dem Tüchtigen die Welt offen stehe, damit er sein Glück in ihr mache. Eben dies verspricht „das liberale Credo, das den freien Wettbewerb an die Stelle von Gottesurteil und Gnadenwahl gesetzt, in der Praxis also: menschlichen Wert abhängig gemacht hat von ökonomischer Bewährung. Tritt jenes Glück nicht ein, so darf der Verstoßene die Ursache nicht mehr außerhalb seiner suchen. Das Unglück wird, je tiefer er sich die ökonomisch-moralische Prämisse zu eigen gemacht hat, desto tiefer zur Frage seiner persönlichen Schuld“ (1977: 153f.).
Aus diesem Blickwinkel betrachtet, „funktioniert“ Schule hierzulande im Sinne des Systemerhalts bestens; denn die Benachteiligten und Betrogenen schreiben sich (zumindest mehrheitlich) ihre Misserfolge selber zu. Realiter ginge es somit in einer wirklichen und gegenstandsangemessenen Bildungsforschung immer auch darum, die – sicher – vielfältige Produktion von ‚Dummheit’ zu analysieren; geht doch die alteuropäische Bildungstradition begründet von der Bildungsfähigkeit und potentiellen Vernunftbegabung aller aus – so seit den Zeiten der Sokratischen Mäeutik.
In diesem Kontext ist sodann die Frage nach dem Verhältnis von Bildung und sozialem Wandel – als Problem der Veränderbarkeit von Strukturen und Handlungen – zu stellen. Um das politische Projekt der „Aufhebung aller Bildungsrestriktion“ (Heydorn 1994/95: IV, 138) konkret wie realistisch zu gestalten, ist daran festzuhalten, dass a) Bildung kein „selbständiges revolutionäres Movens“ ist, sie dies „nur in Verbindung mit der gesamten geschichtlichen Bewegung“ sein kann; dass es aber b) wesentlich darum geht zu erkennen, wie Bildung „einen eigenen verändernden Beitrag“ leistet, „der unauswechselbar ist“ (IV, 141).
Bildung als Menschenrecht bedeutet dementsprechend an der Perspektive der Bildung aller festzuhalten, auch wenn die gesellschaftlichen Bedingungen dafür erst noch erkämpft werden müssen.
Literatur
Adorno 1970: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969. Frankfurt/M., Suhrkamp
Ball, St. 2003: Class Strategies and the Education Market. The middle-classes and social advantage. London/New York, Routledge
Bourdieu, P. 1973: Kulturelle Produktion und soziale Reproduktion, in: ders./Passeron, J.-C., Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt. Frankfurt/M., Suhrkamp
Bourdieu, P. 2004: Der Staatsadel. Konstanz, UVK
Dahrendorf, R. 1966: Bildung ist Bürgerrecht. Hamburg, Nannen
Deutsches PISA-Konsortium (Hg.) 2001: PISA 2000. Opladen, Leske + Budrich
Friedeburg, L. v. 1994: Bildung und Gesellschaft, in: Sozialwissenschaftliche Literatur Rundschau 17 (H. 29)
Heydorn, H.-J. 1994/95: Werke Bd. I-IV. Bildungstheoretische und pädagogische Schriften 1949-1994, hg. v. I. Heydorn et al.. Vaduz, Topos
Muschg, A. 1977: Gottfried Keller. München, Kindler
Picht, G. 1964: Die deutsche Bildungskatastrophe. Olten/Freiburg, Walter
Sünker, H. 2003: Politik, Bildung und soziale Gerechtigkeit. Perspektiven für eine demokratische Gesellschaft. Frankfurt/M., Lang
Sünker, H./Timmermann, D./Kolbe, F.-U. (Hg.) 1994: Bildung, Gesellschaft, soziale Ungleichheit. Frankfurt/M., Suhrkamp
Vester, M. et al. 2001: Soziale Milieus im gesellschaftliche Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung. Frankfurt/M., Suhrkamp
[1] In den Worten L. v. Friedeburgs heißt das: „Dass aber nach wie vor die sozialen Klassen in Deutschland nichts so sehr unterscheidet wie der Schulbesuch ihrer Kinder, bezeichnet eine unveränderte Aufgabe der Bildungsreform“ (1994a: 21).
[2] Zur Analyse der deutschen Sozialstruktur, ihrer klassenbasierten Milieus s. die grundlegende Analyse der Forschergruppe um M. Vester (Vester et al. 2001).
[3] Demgegenüber spricht H. Becker, seinerzeit Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, alternativ über „soziale Startgleichheit“ (Adorno 1970: 110).