Ohne Auschwitz wäre das, was heute im Gaza-Streifen passiert, nicht möglich. Ersteres war “singulär”, ein Geschehen ohne Präzedenz. Nach jener Katastrophe wurde gesagt “nie wieder”. Aber jetzt war sie wieder da. Die jüngste Vergangenheit erinnerte an die Vorgeschichte von Auschwitz, wenn nicht an dieses selbst.
Am 7. Oktober 2023 startete die Hamas einen bewaffneten, gewaltsamen Aufstand gegen Israel mit dem Ziel, Soldaten zu töten und andere als Geiseln zu nehmen und damit den Staat unter Druck zu setzen, die Blockade des Gaza-Streifens zu beenden und weitere Forderungen zu erfüllen. Im Zuge des Geschehens begingen Hamas-Kämpfer aber schwere Kriegsverbrechen gegen israelische und internationale Menschen, die sie zufällig vorfanden, von denen sie viele ermordeten.
Dieses Ereignis war für jüdische und israelische Menschen ein Schock, da es das furchtbare Trauma der Vernichtung der Juden durch Deutschland wieder wach rief. Es scheint, dass israelische Spitzenpolitiker diese Situation nutzten und dabei den Schmerz der Bevölkerung missbrauchten, um eine jahrzehntelange Politik der Landnahme und der ethnischen Säuberung Palästinas fortzusetzen, zugleich unsichtbar zu machen und zu legitimieren.
Quantitativ ist dieser Genozid in Gaza nicht zu vergleichen mit den Millionen ermordeter Menschen damals[1], aber in manchen Aspekten müssen wir es vergleichen, besonders um zu sehen, wie und warum die “westliche”, sich für demokratisch und freiheitlich haltende Kulturwelt unvorstellbare Verbrechen verübt.
Die folgenden Überlegungen sind für mich ein Anfang, und ich kann mir vorstellen, dass an diesen Fragen weiter gearbeitet werden muss.
So wie damals Deutschland ist heute Israel eines der kulturell hoch entwickelten Staaten der Welt; in manchen Aspekten der Wissenschaften und der Technologien steht es mit an der Spitze.
Man setzt die modernste und hochentwickeltste Technik und Industrie mit Hilfe verschiedener Unternehmen[2] für Überwachung, Unterdrückung und Mord an Menschen ein. Wieder ist mit Zygmunt Bauman[3] zu fragen: Welche Aspekte dieser unserer Zivilisation und Kultur machen das möglich? Die Bürokratie? Das ökonomisierte Funktionieren einer langen Handlungskette, bei der die einzelnen individualisierten Akteure (z.B. damals Fabrikarbeiter einer Chemiefabrik, wo Gas hergestellt wurde) kein Bewusstsein von Verantwortung für die ganze Handlung haben?
Francesca Albanese schreibt in ihrem Bericht: “Die Unterdrückung der Palästinenser wurde zunehmend automatisiert. Technologieunternehmen stellen Infrastrukturen mit doppeltem Verwendungszweck bereit, um Massendatenerfassung und Überwachung zu integrieren, und profitieren gleichzeitig vom einzigartigen Testgelände für Militärtechnologie, das das besetzte palästinensische Gebiet bietet.”[4]
Und weiter: “Angetrieben von US-amerikanischen Technologiegiganten, die Tochtergesellschaften sowie Forschungs- und Entwicklungszentren in Israel gründen, haben die von Israel behaupteten Sicherheitsbedürfnisse beispiellose Entwicklungen im Bereich der Gefängnis- und Überwachungsdienste vorangetrieben, von Videoüberwachungsnetzen (CCTV), biometrischer Überwachung, hochentwickelte Checkpoint-Netzwerken, „intelligenten Mauern“ und Drohnenüberwachung bis hin zu Cloud Computing, künstlicher Intelligenz und Datenanalyse zur Unterstützung militärischen Bodenpersonals. (…) Israelische Technologieunternehmen entwickeln sich oft aus militärischer Infrastruktur und Strategie, wie die NSO Group, die von ehemaligen Mitgliedern der Einheit 8200 gegründet wurde. Ihre für verdeckte Smartphone-Überwachung entwickelte Spionagesoftware Pegasus wurde gegen palästinensische Aktivisten eingesetzt und weltweit lizenziert, um Führungspersönlichkeiten, Journalisten und Menschenrechtsverteidiger ins Visier zu nehmen.”[5]
Es scheint also, dass solche hochentwickelte Technologie und Wissenschaft es der israelischen Armee ermöglicht, gezielt Menschen aus genau bestimmten Gruppen und gesellschaftlichen Funktionen zu ermorden: JournalistInnen, Ärzte und medinisches Personal, Intellektuelle wie Universitätsprofessoren, Künstlerinnen, Maler, Musikerinnen und Schriftsteller, einschließlich deren Familienangehörige und Kinder.[6]
Großkonzerne und Finanzinstitute wie die Deutsche Bank und “der Allianz-Konzern über seine Tochter Pimco” finanzieren den Vernichtungskrieg und profitieren davon.[7]
Jetzt versuche ich ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige der Aspekte der westlichen Kultur aufzulisten, welche Zygmunt Bauman[8] zufolge den Holocaust möglich machten, und die m.E. in analoger Weise heute den Genozid im Gaza-Streifen ermöglichen.
“Wenn modernes Gedankengut und eine totalitäre Macht, die das moderne Instrumentarium rationalen Handelns unter ihre Herrschaft bringt, aufeinandertreffen und wenn diese Macht sozialer Kontrolle entzogen ist, ist der Genozid möglich, und das in seiner modernen Form – wie der Holocaust. Der Kurzschluß (oder diese, wie man hoffen möchte, zufällige Begegnung) zwischen ideologisch besessenen Machthabern und den gewaltigen Möglichkeiten rationalen, systematischen Handelns in der modernen Gesellschaft mag selten eintreten – geschieht es jedoch, treten Aspekte der Moderne hervor, die sonst unterdrückt unter der Oberfläche schlummern und hypothetischen Charakter haben.” (S. 108,9)
Heute hat sich der Akzent etwas mehr vom Staat zur Wirtschaft verschoben, aber das ändert wenig am Funktionieren der Herrschaft.
Folter in Gefängnissen ist Werkzeug der politischen Rationalität geworden. Das gilt für das damalige Nazi-System (Bauman, S. 112), wie auch für israelische Gefängnisse heute (Völkermord in Gaza, S. 94, 95, 97).
“Wenn Gewalt zum Verfahren wird, kann sie, wie alle Verfahren, emotionslos und rational vollzogen werden” (Bauman, 113).
Auch in folgendem Aspekt gleichen sich, so scheint es, der Genozid an den Juden mit dem Genozid an den Palästinensern. Das bürokratische Ziel bestand damals darin, das Land “judenrein” zu machen. Das erste Mittel, um das Ziel zu erreichen, bestand in der Vertreibung der Juden, “indem man sie zur Auswanderung nötigte, dann durch Deportation in Territorien, die inzwischen unter die deutsche Besatzungsmacht gefallen waren” (Bauman, 119). Erst später wählte man das andere Mittel, die Vernichtung. Das Ziel blieb dasselbe. (ebd.) Vergleichbares passiert in Palästina. Die “Gewalt gegen die Kolonisierten ist im Siedlerkolonialismus und seinem zentralen Ziel angelegt: immer mehr Land auf Kosten der einheimischen Bevölkerung aneignen, die vertrieben, ethnisch gesäubert und, falls es keine Alternativen gibt, auch eliminiert werden muss.”[9]
Bauman thematisiert mit Bezug auf Max Weber das Phänomen der modernen Gesellschaft, dass es ein staatliches Gewaltmonopol gibt, dessen erst einmal positiver und gewünschter Effekt darin besteht, dass die alltägliche Gesellschaft relativ gewaltfrei ist und das soziale Leben auf der Straße recht sicher wird. Die Gewalt und die Waffen sind aus dem Innenbereich der Gesellschaft ausgelagert und der Verfügung und der Kontrolle der Mehrheit der Menschen entzogen. Aber eine negative, ja katastrophale Auswirkung dieser Entwicklung besteht darin, dass sie es ermöglicht, dass der Staat oder das Militär diese ihnen übertragene Gewalt nutzen kann, um Unheil anzurichten, und dass dann die große Masse der Bevölkerung ohnmächtig ist: “die alltägliche Interaktion ist (relativ) gewaltfrei, weil sie von Gewalten beherrscht wird, die eindeutig außerhalb des individuellen Verfügungsbereiches liegen.” (122) Das führt dazu, dass “das Verhalten der Herrschenden prinzipiell unabhängig vom Verhalten in der Alltagssphäre ist. Aus eigener Kraft hat der moderne Mensch massiver staatlicher Gewalt nichts entgegenzusetzen.” (122) – Auch das hat den Holocaust möglich gemacht – wie den Genozid in Gaza.
Denn auch in Israel verwendet der Staat sein Gewaltmonopol dazu, die “Sicherheit” der eigenen Landsleute zu gewährleisten, aber dieselbe Gewalt richtet sich mit unvorstellbarer Grausamkeit genozidal gegen eine andere Bevölkerung, wo an Palästinensern sowohl unspezifisch, als auch spezifisch gegen bestimmte Ziele und Gruppen (Universitäten, Krankenhäuser, Ärzte, Journalisten, Künstler, Schriftstellerinnen…) ungestraft in großer Zahl Menschen ermordet, schwer verletzt und immer wieder gefoltert werden.[10] Diejenigen Israelis, welche gegen die Gewalt im Gaza-Streifen protestieren, haben keinen Zugriff auf das Gewaltmonopol des Staates.
Ein weiteres Problem betrifft die Rolle der Wissenschaft. Sie wird allgemein als Frucht von Aufklärung und Bildung angesehen. Man hat über lange Zeit die Wertneutralität der Wissenschaft betont. Das führt aber dazu, dass sie der Unmenschlichkeit nichts entgegensetzen kann. “Die ehrwürdigsten Prinzipien und Errungenschaften der modernen Wissenschaft offenbarten ihr todbringendes Antlitz.” “In der Praxis verwandelten sich die Wissenschaft und mit ihr die von ihr hervorgebrachte Technik […] in ein williges Instrument skrupelloser Machthaber.” (Bauman, 123)
Hier gleichen sich die Praxis der Nazis mit dem heutigen Tun der israelischen Armee.
Bürokratien verleiten Menschen dazu, eine Ethik oder Moral, die sich auf ihr eigenes Tun, dessen Auswirkungen und die Mitmenschen beziehen, zu verlassen, und anstatt dessen eine verfahrensmäßige Moral anzunehmen, die sich nur noch auf das gute oder schlechte Funktionieren der ihnen übertragenen Aufgaben bezieht. Das eigene Gewissen passt sich solcher Perversion an. (Bauman, 126ff; 166ff)
Ich vermute, dass eine solche Entwicklung des Menschlichen und Sozialen letztlich auf die Situation “absoluter Armut” zurückgeht, die aus der Vertreibung vom Land aufgrund des totalen Privateigentums seit etwa dem 16. Jahrhundert in verschiedenen Gebieten Europas folgt, die nach Karl Marx die Ausgangssituation des “doppelt freien Arbeiters” (frei von feudalen Bindungen und frei von Eigentum) ist und diesen dazu zwingt, für einen Privateigentümer zu arbeiten und sich von diesem ausbeuten zu lassen um zu überleben. Diese Situation betrifft seither die Mehrheit der Menschen in die sogenannten modernen Gesellschaften.
Bürokratie
Unsere gegenwärtige Gesellschaft mit dem Anspruch, demokratisch zu sein – und das gilt sowohl für die westlichen Gesellschaften, als auch in der Vergangenheit für die sozialistischen Staaten des Ostblocks (vermutlich auch bei arabischen Gesellschaften) -, sind eine Vermischung aus Bürokratie und sozialen Rechten. Die Bürokratie stellt sich folgendermaßen dar: Sobald die Natur, das Land, – und damit die Arbeit der Natur – entweder a) von einem Herrscher bzw. herrschenden Staat besetzt oder b) von einem Privateigentümer in Besitz genommen ist, sind alle übrigen Menschen (die weder herrschen, noch Eigentümer sind) dazu gezwungen, sich an die Herrschenden bzw. die Eigentümer zu binden, sich anzupassen, für sie zu arbeiten, deren Werte und Sinndeutungen anzunehmen, wenn sie überleben wollen. Sowohl die Staaten, als auch die – von diesen geschützten – Privateigentümer bilden dann eine Bürokratie[11] aus, welche darin besteht, dass Befehle von oben nach unten in rationalisierter Form ausgeführt werden.[12]
Soweit zur Skizzierung der Bürokratie. Unsere modernen Gesellschaften bestehen nicht nur aus Bürokratie. Sondern der in den letzten Jahrtausenden des Patriarchalismus und besonders seit dem 16. Jahrhundert verlorengegangene Zugang der Menschen zur Arbeit der Natur in Form der Allmende ist seit dem 20. Jahrhundert zu einem gewissen Grad wieder zurückgeholt worden, nämlich in Form von Demokratie, Menschenrechten und Sozialismus. Es bedarf weiteren Lernens, besonders zusammen mit nichtwestlichen Gesellschaften wie mit indigenen Völkern, um zu einer lebensfreundlichen Mensch-Natur-Beziehung (Noosphäre) zu gelangen. Denn wenn der Aspekt oder das Gewichtspegel der Bürokratie in unseren Gesellschaften überhand nimmt, dann setzt sich die Inhumanität durch.
Eben diese Entwicklung ist vermutlich – in soziologischer Perspektive – dafür verantwortlich, dass gerade in modernen Gesellschaften, in welchen die sozialpsychologischen Experimente von Stanley Milgram und Philip Zimbardo durchgeführt wurden (auf die sich Zygmunt Bauman hier bezieht [166ff]), normale und durchschnittliche Menschen oft bereit sind, in Wissenschaft und im Arbeitsleben der Industrie eher einer Moral technischen Funktionierens als der Mitmenschlichkeit und des Mitfühlens zu folgen. Ohne auf den Gedanken der persönlichen Verantwortung in totalitären Regimen zu vergessen (Hannah Arendt[13]), scheint solche soziale Entwicklung sowohl für den Holocaust als auch für den Genozid in Gaza zuzutreffen.
Ein anderer Aspekt ist die soziale Nähe zwischen den Tätern bei gleichzeitiger sozialer Distanz zu den Opfern: “Bürokratische Apparate versuchen diese [gruppenbildende] Tendenz bei der Auswahl ihrer Funktionsträger sowie bei der Definition ihrer Objekte so zu steuern, daß das Schisma zwischen Handelnden (also Funktionsträgern) und Objekten unüberbrückbar wird” (Bauman, 171).
Der herrschende Diskurs definiert, wer rational und wer irrational handelt. Dabei befindet sich die Rationalität immer bei den Herrschenden: “Staatlicher Terror bleibt so lange wirksam, wie die Hülle der Rationalität nicht platzt.” (Bauman, 217)
Beim Genozid in Gaza nutzt das israelische Militär die Technik der Künstlichen Intelligenz (KI). Diese hat offenbar zwei Funktionen. Deren erste scheint darin zu bestehen, Menschen aus ganz bestimmten gesellschaftlichen Bereichen zu ermorden (s.o., wie Journalistinnen, Ärzte, Künstlerinnen, Schriftsteller, Intellektuelle, usw.). Die zweite Funktion, welche der ersten zwar im Detail, aber nicht generell widerspricht, besteht darin, dass nach zweifelhaften oder ungewissen Kriterien verdächtige Menschen und Gruppen ausfindig gemacht werden, um sie zu Zielen des massenhaften Mordens zu machen, mit dem eigentlichen Zweck, “dieser Tötungsmaschine den Anschein von Legalität und Zielgenauigkeit” zu geben.[14]
Wie hoch ist in der heutigen westlichen Kultur / im globalen Norden der Glaube an die KI, dass diese dann in der Verkettung böser Umstände zur scheinbar moralischen Legitimierung eines Genozides beitragen kann?
Es gibt aber einen Umstand, der mit dieser Funktion der KI nicht erklärt werden kann: es werden Zeugenaussagen zufolge kleine Kinder in großer Anzahl ermordet, durch Schüsse in den Kopf oder in die Brust.[15] Das sind gezielte Morde, wo es keine Scheinlegitimierung geben kann.
Während Berthold Brecht gesagt haben soll, eine Gesellschft müsse so beschaffen sein, dass sie es dem Menschen ermögliche, gut zu sein, verweist Zygmunt Bauman als Ausweg auf eine Ethik, von der Emmanuel Levinas spricht, eine Ethik der Güte, die aus der Nähe zum anderen Menschen entspringt (Bauman, 197), die aus Alterität und nicht aus Identität hervorgeht.
Verknüpfung zwischen Völkermord und Kolonialismus
Ein anderer Aspekt der Genozide ist die Verbindung zu Kolonialismus und Kolonialität.
Die ersten Konzentrationslager haben Deutsche im damaligen Deutsch-Südwestafrika ab 1905, nach dem Völkermord an den Herero und Nama 1904, gebaut.[16] Die Kolonie war, in Marxschen Begriffen (aber nach meiner Interpretation) gesagt, “Ware Arbeitskraft” für die Kolonialmächte. Wenn Menschen nicht mitmachten und erst recht dann, wenn sie in den Widerstand gingen, war man bereit, sie umzubringen oder sterben zu lassen. Überlebende des Völkermordes mussten in diesen Konzentrationslagern Zwangsarbeit leisten, und über die Hälfte dieser Menschen starb.
Man kann also vermuten, dass die KZs der Nazis eine Fortsetzung der afrikanischen KZs waren. Der angestrebte Kolonialismus der Nazis richtete sich dabei nicht nach dem Süden, sondern dem Osten.
Kolonialismus und kapitalistische Ausbeutung (welche historisch und kausal miteinander zusammenhängen) beziehen sich in unterschiedlichen Nuancen auf den Mensch-Natur-Zusammenhang, der in seiner Gesamtheit als Ware Arbeitskraft ausgebeutet werden soll.[17] Unterschiedliche Formen dieses Komplexes aus Kolonialismus und Kapitalismus sind z.B. Monokulturen, bei denen man viel Land und relativ wenige Menschen braucht – wie beim Zuckerrohranbau in Brasilien und der Karibik, Baumwollanbau in Nordamerika -; Kolonialformen, welche den Mensch-Natur-Zusammenhang relativ unverändert lassen und in ihrer Gesamtheit ausbeuten – wie beim englischen Kolonialismus in Indien; und der Siedlerkolonialismus, bei dem man das eroberte Land möglichst ohne die dort bisher lebenden Menschen für sich haben will – wie etwa die Kolonisierung großer Teile Nord- und Südamerikas, Australien und eben Israel.
Es gehört immer wieder zu kolonialer Praxis, die unterworfenen Menschen entweder als (möglichst billige) Arbeitskraft auszubeuten, oder aber, falls sie in dieser Hinsicht überflüssig sind oder sogar gegen die Kolonialherrschaft und für eigene Rechte kämpfen, zu vertreiben oder zu vernichten.
Der Völkermord Deutschlands an den Juden und der israelische an den Palästinensern hängen beide mit kolonialer Praxis zusammen. Das Verhältnis von Israel und Palästina erscheint als koloniale Beziehung auf engstem Raum, wobei die israelische Politik zunächst auf den britischen Imperialismus zurückging und sich dann als Verlängerung des US-amerikanischen Neokolonialismus fortsetzte. Auch die Shoa ging auf koloniale Praktiken zurück (die in Afrika begonnenen KZs) – zusätzlich zur langen antijüdischen Vorgeschichte im Christentum.
Aníbal Quijano argumentiert in der “Kolonialität der Macht”[18], dass die Moderne zusammen mit dem Kolonialismus entstanden ist. Die Entwicklung der Moderne Europas (und später Nordamerikas) und die Entwicklung des globalen Südens zu einem unterdrückten Status sind eine duale Erscheinung, bei der diese zwei Seiten kausal miteinander verknüpft sind. Dies ist eng an den Rassismus, an die “Erfindung der Rasse”, gebunden: die Erscheinung des modernen und “weißen” Menschen ist an die andere Seite der Münze der Degradierung der unterworfenen Menschen zu einem minderwertigen und “dunklen” Status geknüpft.
Deutschland unterstützt das moderne Israel mit Waffen und Geld, nachdem dieses seit Jahrzehnten eine Politik der Apartheid durchführt, auch während es jetzt einen Genozid verübt, weil Deutschland auf der Lichtseite innerhalb der Kolonialgeschichte bleiben will, da es in der neueren neokolonialen Weltpolitik und -wirtschaft weiter zu den Gewinnern zählen möchte.
Daher sind Merz und Netanjahu einander darin einig, dass Israel die “Drecksarbeit” durchführt. Diese besteht darin, jeden Widerstand aus dem globalen Süden zu brechen und die Menschen, falls sie sich nicht freiwillig unterwerfen, zu vernichten.
Wenn wir etwas für die Menschen in Gaza und im weiteren Palästina tun wollen, müssten wir global für soziale Gerechtigkeit eintreten, uns mit dem globalen Süden insgesamt solidarisieren, dessen koloniale bzw. neokoloniale Ausbeutung abbauen und eine Ethik der Güte, der Nähe zum anderen Menschen, leben. Umgekehrt sollte jede noch so vehemente Kritik an den Strukturen der Gewalt niemals zum Hass führen, beispielsweise gegen Amerikaner, Israelis oder Juden, oder gegen Männer (aus der Sicht von Frauen), usw., da solcher Hass genauso ungerecht wäre und einen Rassismus in umgekehrte Richtung darstellte; sondern ich wünsche mir, gemeinsam mit allen für eine sozial gerechte Welt zu kämpfen, welche überdies auch die nichtmenschlichen Lebewesen der “Mutter Erde” mit einbezieht.
[1]Etwa 11 Millionen Menschen haben die Nazis “in den Konzentrations- und Vernichtungslagern sowie in weniger geordneten Massakern” ermordet, davon waren ungefähr die Hälfte Juden. So Shlomo Sand: Warum ich aufhöre, Jude zu sein. Ein israelischer Standpunkt, Berlin (Propyläen) 2013, 91f.
[2]Francesca Albanese: Von der Besatzungsökonomie zur Genozidökonomie. Bericht der Sonderberichterstatterin zur
Menschenrechtslage in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten, Human Rights Council, 59/23, Juni/Juli 2025.
[3]Zygmunt Bauman: Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg (Europäische Verlagsanstalt) 2021.
[4]Albanese: Von der Besatzungsökonomie zur Genozidökonomie, S. 9.
[5]Ebd., S. 9f (Zitat ohne die im Originaldokument aufgelisteten Referenzen).
[6]Helga Baumngarten und Norman Paech: Völkermord in Gaza. Eine politische und rechtliche Analyse, Wien (Promedia Verlag) 2025, 93-124.
[7]Rüstungshandel mit Israel. Geben und noch mehr nehmen. In der Diskussion um Deutschlands Israel-Politik ging es oft um Waffenlieferungen. Was untergeht: Es kauft auch viele Rüstungsgüter von dort: taz, 3.9.2025
https://taz.de/Deutschland-kauft-Ruestungsgueter-aus-Israel/!6107998/ (28.09.2025).
[8]Zygmunt Bauman: Dialektik der Ordnung.
[9]Baumgarten / Paech: Völkermord in Gaza, 125.
[10]Ebd., S. 93-124.
[11]Hannah Arendt charakterisierte Bürokratie als Herrschaft durch Verwaltung. “Juristisch gesprochen und im Gegensatz zur Gesetzesherrschaft ist Bürokratie das Regime der Verordnungen.” (S. 516) “Die Verordnung […] existiert überhaupt nur, insofern und solange sie unmittelbar exekutiert wird; der einzige Maßstab für ihren Wert ist, ob sie anwendbar oder unanwendbar ist. In einer Bürokratie, wo diese Verordnungen ohne Begründung, ohne Rechtfertigung und oft sogar ohne gehörige vorhergehende Veröffentlichung ausgeführt werden, erscheinen sie wie die Verkörperung der Macht selbst, und der Bürokrat erscheint als ihr ausführendes Organ.” Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München (Piper) 2022, S. 517f.
[12]Im Verhältnis zwischen Israel und Palästina hat sich historisch die soziale Position, das Land zu beherrschen und im kapitalistischen Sinne Eigentümer zu sein, als einander identisch erwiesen. So erwähnt eine palästinensische Journalistin, “dass die meisten arabischen Bekannten von Jüdinnen und Juden in Israel entweder ihre Dienstleister oder Untergebenen sind. Alle leben in einer Realität jüdischer Vorherrschaft. Alle haben Angst, ihre politischen Ansichten zu äußern.”Hanin Majadli: Von 1948 bis Gaza: Die palästinensische Tragödie wiederholt sich, in medico international: Vor aller Augen, rundschreiben 03/25, S. 22.
[13]Hannah Arendt: Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur? München (Piper) 2018.
[14]Wird schon stimmen. In Israels Krieg gegen Gaza errechnet Künstliche Intelligenz die Ziele. Die Folge: ein nur vermeintlich präziser Massenmord. Interview mit Sebastian Ben-Daniel, in medico international: Vor aller Augen, rundschreiben 03/25, S. 18.
[15]Baumgarten / Paech: Völkermord in Gaza, S. 118ff.
[16]Eine teilweise beschönigende Darstellung findet sich hier:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/kolonialgeschichte-namibia-missionare-kooperierten-mit-konzentrationslagern-100.html
[17]Daniel Stosiek: Die Aufhebung des Kapitals, Münster (LIT) 2022, und:
Ökokapitalismus und Ökosozialismus, Münster (LIT) 2025.
[18]Aníbal Quijano: Kolonialität der Macht, Eurozentrismus und Lateinamerika, Wien/Berlin (Verlag Turia + Kant) 2016.




















