Prof. Dr. Eva Borst
Universität Mainz
Das Recht auf Bildung für alle Menschen ungeachtet ihrer Ethnie, ihres Geschlechts, ihrer Sprache und Religion, ihrer politischen Überzeugung und ihrer sozialen Herkunft wurde von den Vereinten Nationen 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) festgeschrieben. Unhintergehbar damit verbunden ist eine Menschenrechtsbildung, deren Voraussetzung eine allgemeine Bildung ist, die die „volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die Stärkung der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zum Ziel“ (AEMR, Art. 26 Abs. 2) hat. Menschenrechtsbildung und das Recht auf Bildung sind wechselseitig aufeinander bezogen, weil die AEMR von jedem Menschen gelesen, inhaltlich verstanden und im jeweiligen gesellschaftlich-historischen Kontext beurteilt werden muss. Zwar handelt es sich hierbei zunächst nur um eine ideale Vorstellung menschlichen Zusammenlebens, gleichwohl aber stellen die Menschenrechte die Folie dar, von der sich Barbarei und Unmenschlichkeit abheben. Auch wenn sie sowohl national als auch international nicht verwirklicht sind und ihre Tragweite und Aussagekraft unterschiedlich interpretiert wird, so sind sie doch Zeichen von Humanität und Gerechtigkeit, die Ziel jeder Gemeinschaft und jeder Gesellschaft sein sollte. Ihnen wohnt die Überzeugung inne, dass es möglich ist, Freiheit, Gleichheit und Solidarität zu realisieren und alle Menschen daran teilhaben zu lassen. Insofern sind die Menschenrechte aufs Engste mit einer lebendigen Demokratie verbunden, die sich nicht bloß auf Formalitäten beschränken lässt, sondern das Mitbestimmungsrecht ihrer Mitglieder diesseits von Wirtschaftslobbyismus und scheinbar alternativlosem Dirigismus anerkennt und aktiv unterstützt. Um den Menschenrechten zur Verwirklichung zu verhelfen, ist Aufklärung über die bestehenden Verhältnisse ebenso notwendig wie das grundsätzlich emanzipatorische Bewusstsein darüber, dass die gesellschaftlich-historischen Bedingungen veränderbar sind. Aufklärung bedeutet im Kontext der Menschenrechte nichts anderes als eine kritische politische Bildung, die die zu gewärtigenden Herrschaftsansprüche einer machtvollen Elite aufdeckt und Widerstand gegen Diskriminierung, Unterdrückung und Ungleichheit zu initiieren vermag. Dies kann aber nur dann geschehen, wenn Menschen den Mut aufbringen, für ihre vitalen Interessen einzustehen und imstande sind, sich gegen autoritäre Vereinnahmungsversuche zur Wehr zu setzen. Eine allgemeine Bildung hätte demnach dafür zu sorgen, Urteilsvermögen und Vorstellungskraft, kurz Mündigkeit, hervorzubringen, selbständiges Denken und Nachdenken zu fördern und kritische Stellungnahmen zu ermöglichen. Daher ist die Diskussion über das Menschenrecht auf Bildung und über die Menschenrechtsbildung in den Gesamtzusammenhang des gesellschaftlichen Ordnungssystems einzuordnen. Wer eine Verbesserung der Bildung anmahnt, ohne die gesellschaftlichen Zwänge und Widersprüche der politischen Ökonomie zu thematisieren, kapituliert vor der normativen Kraft des Faktischen, weil er verkennt, dass das Erziehungs- und Bildungssystem integraler Bestandteil des Herrschaftssystems selbst ist. Wer sich der Illusion hingebt, mit einer Veränderung des Schulwesens schon könne die Situation armer oder migrierter Kinder verbessert werden, der hat nicht verstanden, dass die Intervention gegen Armut bzw. die Sorge um den Schulerfolg von Migrantinnen und Migranten weit vor der Zeit des Eintritts in das Erziehungs- und Bildungssystem erfolgen muss. Bei aller berechtigten Kritik am dreigliedrigen Schulsystem, das einen hohen Selektionsgrad aufweist und damit Ungleichheit erzeugt, bleibt eine Beschäftigung allein mit den Schulstrukturen hinter dem Anspruch der Menschenrechte zurück, die ja ihre volle Bedeutung erst entfalten, wenn sie als unveräußerliche[1], universale[2] und unteilbare[3] Rechte wahrgenommen werden. Wir können das Menschenrecht auf Bildung also nicht so ohne weiteres isoliert von weiteren Menschenrechten betrachten, zumal es eine direkte Verbindung zum Recht auf soziale Sicherheit gibt. In Artikel 22 heißt es nämlich: „Jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit; er hat Anspruch darauf, durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der Organisation und der Hilfsmittel jedes Staates in den Genuß der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen.“ (Hervh. E.B.) Dazu zählen u.a. das Recht auf Arbeit (Art. 23) und der sozialen Fürsorge im Falle der Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität Verwitwung und im Alter (Art. 25). Eine der „menschlichen Würde entsprechende Existenz“ (Art. 23) ist demnach die Voraussetzung für die Herausbildung einer Persönlichkeit, die freilich ohne Bildung kaum gelingen kann, da durch sie erst die Bedingung der Möglichkeit geschaffen wird, sich seiner selbst zu vergewissern und ein Bewusstsein für Freiheit, Gleichheit und Solidarität im eigenen sowie im Interesse der anderen zu schaffen. In anderen Worten: Armut verhindert demokratisches Engagement und muss daher beizeiten bekämpft werden.
Zwei weitere Punkte scheinen bei der Diskussion über das Recht auf Bildung zu kurz zu kommen. Erstens wird nicht unterschieden zwischen einer allgemeinen Bildung, die die Grundlagen für ein ethisch-moralisch zu begründendes Zusammenleben in einer Demokratie zu legen hat und der eine sinnstiftende Funktion zukommt, und einer qualifizierten Berufsausbildung, die zur Reproduktion einer Gesellschaft beiträgt und die wirtschaftliche Existenz der Individuen sichert. Zweitens ist die inhaltliche Qualität der Bildung kein Gegenstand der öffentlichen Debatten. Sollte es tatsächlich darum gehen, Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu eröffnen, sich eine umfassende Bildung anzueignen, die ihrer Persönlichkeit förderlich ist und Mündigkeit zum Ziel hat, dann ist es unerlässlich, ihnen einen Kanon an Wissen[4] anzubieten. Erst ein historisches Bewusstsein über Geschichte und Traditionen nämlich erlaubt es, an diese anzuknüpfen und das Mangelhafte einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Nur wer weiß, wie etwas geworden ist, und nur derjenige, der weiß, dass es auch anders hätte kommen können, ist in der Lage, ein kritisches Bewusstsein über die Gegenwart zu entfalten und Zukunftsentwürfe auf eine gerechter Welt zu wagen. Wir haben es also mit drei sehr markanten Fragen im Rahmen des Menschenrechts auf Bildung zu tun: 1.) die Frage nach Armut und sozialer Unsicherheit; 2.) die Frage nach dem Unterschied zwischen allgemeiner Bildung und Berufsausbildung und 3.) die ganz wesentliche Frage nach der Qualität der Bildung.
1.) Zur Armut und sozialen Unsicherheit: Bemerkenswert ist, dass die Vereinten Nationen den Grundsatz der Unteilbarkeit aufgegeben haben. 1966 beschlossen sie einen Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt) und einen Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt), die aber, anders als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 1976 völkerrechtlich kodifiziert wurden. Die Menschenrechte selbst legen freilich schon nahe, dass ihre außerordentliche Bedeutung aus ihrer Unteilbarkeit erwächst. Das macht ihre Besonderheit aus.
Wechseln wir zunächst die Perspektive und betrachten die gegenwärtige Transformation der Gesellschaft in eine neoliberale Wirtschaftsordnung, die einen deregulierten Markt mit „gesamtgesellschaftlichem Steuerungsanspruch“ (Dammer 2015, S. 14) hervorbringt. Das Prinzip der Konkurrenz, des Wettbewerbs und der Effizienz in allen Bereichen des sozialen und kulturellen Lebens als Prämisse des Handelns auszugeben sowie das auf Dauer gestellte Ziel, aus jeder Handlung einen möglichst hohen finanziellen Gewinn ziehen zu wollen, führt den Anspruch der Menschenrechte ad absurdum. In der Forderung nach Privatisierung öffentlichen Eigentums und öffentlicher Dienstleistungen[5] zumal, offenbart sich ein zutiefst undemokratisches Gebaren gegenüber den Rechten des Souveräns auf Mitbestimmung in gesellschaftlichen Angelegenheiten und dem Anspruch auf soziale Sicherheit in Freiheit und Würde. Armut, so die Vertreter und Vertreterinnen des Marktradikalismus, sei nicht etwa gesellschaftlichen Ursprungs, sondern Ergebnis eines Wettbewerbs, der Verlierer und Gewinner hervorbringe, sie sei also eine unvermeidliche Begleiterscheinung der Wirtschaftsordnung. Selektion auf unterstem Niveau. Sozialdarwinismus als barbarische Antwort auf die humanistische Forderung nach Gerechtigkeit und sozialem Frieden.
Besonders delikat ist nun, dass die private Bertelsmann-Stiftung, ein neoliberaler Think Tank mit großem politischen Einfluss in Bildungsfragen, die sozialen Menschenrechte in Frage stellt. Zwar spricht sie sich dezidiert für ihre universelle Geltung aus. Diese Universalität beschränkt sie jedoch auf die „klassischen negativen Freiheitsrechte“ und die „positiven Beteiligungsrechte“ (Bertelsmann Stiftung 2005, S. 81, Anm. 13), also auf den UN-Zivilpakt. Den „politisch motivierten Katalog (der) ‚sozialen Menschenrechte’, wie sie in der UN-Charta der Menschenrechte als ein Kompromiss des Kalten Krieges zwischen Ost und West aufgelistet wurden“ (ebd.), erteilt sie eine Absage. Diesen knappen Ausführungen, schamhaft versteckt in einer Anmerkung, ist leider nicht zu entnehmen, was die Stiftung genau unter sozialen Menschenrechten versteht. Die Vermutung liegt jedoch nahe, dass es sich um den UN-Sozialpakt handelt, in dem auch das Recht auf Bildung geregelt ist. Dort heißt es u.a.: Es sei darauf hinzuwirken, dass jegliche Bildung unentgeltlich zu erwerben sei. In diesem Sinne ist für die 2006 verstorbene UN-Sonderberichterstatterin zum Recht auf Bildung, Katarina Tomasevski, Bildung ein öffentliches Gut: „Bildung in separaten Institutionen – seien es private und öffentliche oder innerhalb des öffentlichen Systems durch andere Faktoren getrennt konstituierte Institutionen – widerspricht dem Sinn einer Bildung als öffentlichem Gut, das für alle Kinder im gleichen Maß frei verfügbar sein muss“ (Lohrenscheit 2007, S. 44). Besonders eindrücklich wird dementsprechend die Zurückweisung der sozialen Menschenrechte und mithin auch das Recht auf unentgeltliche Bildung durch die Bertelsmann Stiftung dort, wo sie nach Auskunft ihres Vorstandsvorsitzenden Milliardengewinne durch die Privatisierung der Bildung spekuliert (vgl. Klönne 2012) und damit der Diskriminierung einer großen Zahl von Menschen Vorschub leistet.
2.) Zum Unterschied von allgemeiner und beruflicher Bildung: Allgemeine Bildung ist zwar die Voraussetzung für die Einmündung in eine qualifizierte Berufsausbildung, sie darf sich aber nicht darauf beschränken. Für ein demokratisches Gemeinwesen ist es unerlässlich, allgemeine Bildung an der AEMR zu orientieren und Bildungsprozesse zu initiieren, die die Würde und die Freiheit aller Menschen ebenso betonen wie sie auch zum Gelingen einer solidarischen Weltordnung beitragen kann. Allgemeine Bildung ist die Bedingung der Möglichkeit zu erkennen, dass Bildung keinesfalls nur ökonomischen Zwecken dienen darf und sich berufliche Bildung in den Grenzen der AEMR bewegen muss.
3.) Zur Qualität von Bildung: Die Bildungspolitik, maßgeblich gesteuert von supranationalen Organisationen wie etwa der OECD und der Europäische Kommission, ist an einer anwendungsbezogenen Bildung interessiert, die schnell, effizient und angepasst an den Arbeitsmarkt von statten geht. Bewerkstelligt wird das u.a. mit der Einführung des G8 an Gymnasien und des BA/MA-Studiengangs an den Universitäten: Beschleunigung auf Kosten von Qualität, die im Rahmen einer fundierten allgemeinen Bildung Zeit beanspruchen würde. Da analytisch-kritisches Denken geübt werden muss, bedarf es einer nachhaltigen strukturellen Unterstützung, die nicht nur die emanzipatorische Kraft der Individuen stärkt, sondern auch Inhalte zur Verfügung stellt, an denen sie diese Kraft entwickeln können. Die marktkonforme Bildung und die damit einhergehende Absenkung der Bildungsqualität entspricht allerdings dem Strukturanpassungsprogramm der OECD von 1996 (vgl. Lohmann 2011, S. 232f.).
Zum Schluss bleibt zu sagen, dass in Deutschland das Menschenrecht auf Bildung ausgehöhlt und seiner inhaltlichen Substanz beraubt wird, wenn Bildung nur noch den Interessen der Bildungsindustrie dient und als Humankapitalressource zum Spekulationsobjekt verkommt.
Literatur
Bertelsmann Stiftung (Hg.) (2005): Bertelsmann Transformation Index 2006. Auf dem Weg zur marktwirtschaftlichen Demokratie, Gütersloh.
Dammer, Karl-Heinz (2015): Vermessene Bildungsforschung. Wissenschaftsgeschichtliche Hintergründe zu einem neoliberalen Herrschaftsinstrument, Baltmannsweiler.
Hessisches Ministerium für Soziales und Integration und Hessisches Kultusministerium (Hg.) (2014): Bildung von Anfang an. Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder von 0-10 Jahren in Hessen, 6. Aufl., Wiesbaden.
Klönne, Arno (2012): Telepolis vom 24.09.2012.
Lohmann, Ingrid (2011): Schule im Prozess der Ökonomisierung, in: dies.; Andrea Liesner (Hg.): Gesellschaftliche Bedingungen von Bildung und Erziehung, Stuttgart 2011, S. 232f.
Lohrenscheit, Claudia (2007): Die UN-Sonderberichterstattung zum Recht auf Bildung und ihre Grundlegung durch Katarina Tomasevski, in: Bernd Overwien, Annedore Prengel (Hg.) (2007): Recht auf Bildung. Zum Besuch des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen in Deutschland, Opladen/Farmington Hills.
[1] Kein Menschen kann seine Rechte abtreten, d.h. Würde und Freiheit sind elementarer Bestandteil des menschlichen Wesens.
[2] Die Menschenrechte gelten für jeden Menschen.
[3] Die Menschenrechte erhalten ihre volle Gültigkeit erst in ihrer Gesamtheit. Von den 30 Paragraphen gilt jeder einzelne gleichermaßen, d.h., sie beziehen sich aufeinander.
[4] So plädiert der Berater der Hessischen Landesregierung und Verantwortlicher für den Hessischen Bildungs- und Erziehungsplans Wassilios Fthenakis dafür, das von ihm so genannte „Bildungsvorratsmodell“ zu überwinden: „Vor diesem Hintergrund“, schreiben der Autor und die Autorinnen, „setzt sich in allen Bildungssystemen zunehmend der Kompetenzansatz gegenüber der herkömmlichen Formulierung eines Wissenskanons durch. Er löst das statische Bildungsvorratsmodell durch ein dynamisches Bildungserneuerungsmodell ab, das auf eine lebenslange Erweiterung von Wissen abzielt und die lernmethodische Kompetenz in den Vordergrund rückt.“ (Hessisches Ministerium für Soziales und Integration 2014, S. 17, Hervh. E.B.)
[5] Das Freihandelsabkommen TiSA (Trade in Services Agreement), das sich ausschließlich auf Dienstleistungen, wie etwa Strom, Wasser, Gesundheit, Infrastruktur und Bildung bezieht, und zwischen EU, USA, Kanada und weiteren 22 Staaten geheim verhandelt wird, stellt eine Gefährdung der Demokratie dar. Insbesondere das Verbot der Rekommunalisierung (Ratchet-Klausel), das Gebot, dass sämtliche Dienstleistungen privat zu erbringen sind (Stillstand-Klausel), und private Schiedsgerichte zerstören den demokratischen Grundsatz der gesellschaftlichen Mitbestimmung.