Am 17. Dezember 2013 wurde ich zur Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration ernannt. Dieses Amt wurde 1978 – damals noch unter der Bezeichnung „Beauftragter zur Förderung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen“ bzw. als „Beauftragter der Bundesregierung für Ausländerfragen“ – begründet. Der erste Amtsinhaber Heinz Kühn veröffentlichte 1979 ein Memorandum, welches Textpassagen enthielt, die auch 35 Jahre später in hohem Maße auf die gesellschaftliche Situation in Deutschland zutreffen:
„Die Schwerpunkte der vordringlichen integrativen Maßnahmen müssen insbesondere auf die junge Generation ausgerichtet und dementsprechend vor allem im vorschulischen und schulischen Sektor und im Bereich der Berufsausbildung gesetzt werden.“
Heinz Kühn sah es als notwendig an, integrative Maßnahmen wie die Sprachförderung in Vorschule und Schule, den Anspruch für Jugendliche auf ungehinderten Zugang zu Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, muttersprachlichen Unterricht, islamischen Religionsunterricht, stärkere Einbindung der Eltern ins Bildungssystem und ortsteilbezogene Sozialarbeit zu intensivieren. Die aufgelisteten Handlungsfelder erscheinen aus heutiger Sicht noch immer aktuell. Das Papier von Heinz Kühn hätte wegweisend sein können, wäre das Problem- bzw. Realitätsbewusstsein in der deutschen Politik von damals nur ansatzweise auf heutigem Niveau gewesen. Doch kaum einer der Vorschläge Kühns fand Eingang ins politische Handeln – das politische Deutschland in Bonn schien 1979 nicht bereit, sich der neuen Pluralität anzunehmen, welche sich damals bereits entfaltete.
Inzwischen sind wir da ein ganzes Stück weiter: Deutschland hat sich mit der Idee, ein Einwanderungsland zu sein, größtenteils angefreundet. Zuwanderung wird, gerade in Zeiten des demografischen Wandels, mehr und mehr als Chance gesehen, ohne die damit verbundenen Herausforderungen zu übersehen. Ausdruck der erfreulichen Entwicklung, die unsere Gesellschaft in Sachen Integration genommen hat ist sicherlich auch, dass ich mit meinem für viele Menschen schwierig auszusprechenden türkischen Namen inzwischen fünfte Nachfolgerin von Heinz Kühn im Amt als Integrationsbeauftragte der Bundesregierung bin.
Und dennoch hakt es noch in vielerlei Hinsicht, wenn es um die Stärkung eines toleranten Miteinanders und die Verwirklichung von Chancengleichheit geht. Denn das bedeutet Integration für mich: Gleiche Teilhabechancen für alle – Chancen auf Bildung, auf Arbeit und gesellschaftliche Partizipation unabhängig von Herkunft oder Religion.
Als Staatsministerin im Bundeskanzleramt möchte ich in Zusammenarbeit mit allen Bundesministerien die Querschnittsaufgabe Integration angehen und konkrete Verbesserungen für die Menschen in unserem Land erzielen.
Ein dringliches Anliegen von meiner Seite, in das ich mich mit ganzer Kraft einbringe, ist die Abschaffung der Optionspflicht für Kinder ausländischer Eltern, die seit dem Jahr 2000 in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Sie sollen sich in Zukunft nicht mehr zwischen dem deutschen Pass und der Staatsangehörigkeit ihrer Eltern entscheiden müssen. In Zusammenarbeit mit dem federführenden Bundesinnenministerium wird derzeit ressortübergreifend nach einer vernünftigen Lösung gesucht, die einen Gesetzentwurf gemäß dem Koalitionsvertrag ermöglicht und gleichzeitig den bürokratischen Aufwand für die Kommunen und Betroffenen so gering wie möglich hält. Die Optionspflicht darf nicht im Tausch gegen eine Vielzahl neuer Auflagen und Einschränkungen abgeschafft werden.
Ein weiteres Thema, das die ersten Wochen und Monate meiner Amtszeit intensiv geprägt hat, ist die aktuelle Zuwanderung von Menschen aus Osteuropa und wie wir in Deutschland mit ihr umgehen. Hier werde ich nicht müde zu betonen, dass wir eine sachliche, faktenbezogene Debatte benötigen und keine Stimmungsmache auf Stammtischniveau. Es ist nicht wegzureden, dass es Armutsmigration nach Deutschland gibt und auch die Tatsache, dass die Unterbringung und Versorgung von Zuwanderern für manche Kommunen und Städte, wie zum Beispiel Dortmund, eine große Herausforderung darstellt, lässt sich nicht bestreiten. Dennoch darf dabei nicht übersehen werden, dass Deutschland wie kaum ein anderes Land in Europa von Zuwanderung profitiert und dass ein großer Teil der derzeit so pauschal als „Armutsmigranten“ titulierten Menschen aus Bulgarien oder Rumänien durchaus qualifiziert sind. Sieht man sich zum Beispiel die Arbeitslosenquote der Rumänen und Bulgaren in Deutschland zur Mitte 2013 an, so stellt man fest, dass diese mit 7,4% geringer als im Bevölkerungsdurchschnitt (7,7%) und wesentlich niedriger als die der ausländischen Bevölkerung insgesamt (14,7%) ist. Auch der Anteil von Bulgaren und Rumänen, die Sozialleistungen beziehen (10%) ist deutlich geringer als im Durchschnitt der ausländischen Bevölkerung (15%). Von massenhaftem Missbrauch unseres Sozialsystems kann daher keine Rede sein.
Um eine sachliche Beschäftigung mit dem Thema „Armutsmigration“ bemüht sich auch der von der Bundesregierung eingesetzte Staatssekretär-Ausschuss, dem ich angehöre und der bis Juni 2014 Ergebnisse vorlegen soll. Eine bedeutende Rolle wird hier sicherlich der Unterstützung von betroffenen Kommunen durch das Programm Soziale Stadt zukommen, dessen Mittel von 40 auf 150 Mio. Euro angehoben werden sollen. Hierdurch können dringende Probleme in benachteiligten oder überlasteten Stadtgebieten, beispielsweise im Bereich der Unterbringung bewältigt werden. Häufig wird die Lage der sich in akuter Not befindenden Menschen von Hausbesitzern ausgenutzt. Der Vermietung von Schlafplätzen in heruntergekommenen Immobilien zu horrenden Preisen muss dringend unterbunden werden. Zudem müssen Maßnahmen ergriffen werden, die betroffenen Kindern Bildungschancen und ihren Eltern Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnen.
Um Armutszuwanderung entgegenzuwirken, ist die Verbesserung der Bedingungen in den Herkunftsländern von größter Bedeutung. Dass es in Europa Armut gibt, scheint ein Thema, das in der Vergangenheit nicht genug Beachtung gefunden hat. Die EU-Herkunftsstaaten müssen die vor allem aus dem Europäischen Sozialfond stammenden Mittel in Milliardenhöhe verlässlicher abrufen, um Programme zur Armutsbekämpfung oder gesellschaftlichen Integration besser auszugestalten. Nicht immer werden diese Mittel vollständig abgerufen. Das wiederum liegt an mangelnden Verwaltungsstrukturen, der Komplexität der Antragsverfahren, zum Teil auch an Korruptionsanfälligkeit. Hier gilt es, in Kooperation zwischen EU und den Mitgliedsstaaten Verbesserungen zu erzielen. Über die Abrufung von Mitteln, die Inklusion von Menschen aus der Bevölkerungsgruppe der Roma, aber auch über Themen wie Gesundheitsversorgung habe ich mich mit der rumänischen Arbeitsministerin Campeanu und dem bulgarischen Arbeitsminister Ademov bei einem Treffen im Februar dieses Jahres intensiv ausgetauscht.
Eine gebührende Sachlichkeit und eine unaufgeregte Auseinandersetzung erwarte ich auch im Bereich der Flüchtlingspolitik. Die Änderung des Bleiberechts hin zu einer alters- und stichtagunabhängigen Regelung für langjährig geduldete Flüchtlinge und eine Lockerung der Residenzpflicht sind weitere Projekte aus dem Koalitionsvertrag, die ich vorantreiben will. Hier geht es darum, das Leben von tausenden bei uns lebenden Menschen entscheidend zu verbessern. Gleichzeitig sollen Asylverfahren in Zukunft schneller bearbeitet werden, so dass weniger Menschen in Monate, teils Jahre fortwährende Unsicherheit geraten.
Aber nicht nur den Menschen, die neu nach Deutschland zugewandert sind, gilt mein Augenmerk. Integrationspolitik soll vor allem auch Verbesserungen für diejenigen bringen, die bereits hier geboren, hier aufgewachsen und somit ein selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft sind und trotzdem unter mangelnder Chancengleichheit zu leiden haben. Denn ob es nun aufgrund eines fremden Namens, der Religion oder eines schwächeren sozialen Hintergrundes bzw. Bildungsgrades der Familie ist – zu häufig wird den Kindern und Jugendlichen unseres Landes eine echte Teilhabe und die Chance, ihren Weg zu gehen, verwehrt. Ich setze mich daher mit aller Kraft für mehr Chancengleichheit und gegen Diskriminierung, vor allem bei Bewerbungsvorgängen, ein. Ich betone immer wieder, dass es nicht sein darf, dass ein „fremd“ klingender Name über den Erfolg oder Misserfolg eines jungen, engagierten Menschen entscheidet. Das Problem der Stigmatisierung aufgrund eines „Migrationshintergrundes“ zieht sich von der Schullaufbahn bis in die Arbeitswelt. Ich möchte deshalb in meinem Amt für Maßnahmen wie eine Ausbildungsgarantie für Jugendliche oder die Anwendung von anonymisierten Bewerbungsverfahren kämpfen. Aus diesem Grund mache ich das Thema „Ausbildung“ in diesem Jahr auch zu einem inhaltlichen Schwerpunkt meiner Arbeit. Wir werden uns auf einer Bundeskonferenz der Integrationsbeauftragten aus Ländern und Kommunen im Mai in Hamburg sowie auf dem Integrationsgipfel der Bundesregierung im Herbst 2014 diesem Thema widmen. Gleichzeitig arbeiten wir an einer Neustrukturierung des Ausbildungspaktes.
35 Jahre nach Heinz Kühns mahnenden, aber größtenteils ungehörten Worten, sprechen wir also in weiten Teilen noch immer über die selben Aspekte, die für eine erfolgreiche, gesellschaftliche Integration entscheidend sind. Mit der wachsenden Vielfalt in den letzten Jahrzehnten sind auch die Aufgaben für mein Amt vielfältiger geworden. Gleichzeitig wird die gesellschaftliche Vielfalt aber auch immer mehr als Potenzial wahrgenommen. Integration, Chancengleichheit und mehr gesellschaftlicher Zusammenhalt sind keine unlösbaren Aufgaben, wenn man sich sachlich und problemorientiert ans Werk macht und die ewige Spaltung zwischen „uns“ und „denen“ überwindet.