Ist Deutschland ein rassistisches Land? Diese Frage erscheint in mehrerer Hinsicht problematisch. Zum einen ist es eine geschlossene Frage, die nur eindeutig beantwortet oder auch nicht beantwortet werden kann. Zum anderen stellt sich die Frage nach dem „ist“, also der Vorstellung eines Seins, eines Wesens dieses Landes, dieser derzeitigen Gesellschaft. Kann eine ganze Gesellschaft als rassistisch eingeteilt werden? Auch das scheint zu vereindeutigend. Differenzieren wir die Eingangsfrage: Gibt es in der BRD systematisch nachweisbare institutionelle Handlungspraxen, die als rassistisch zu bezeichnen sind? Hier geht es dann um die Klärung der Fragen, welches die Kriterien für den Nachweis systematischer institutioneller Handlungspraxen sind und ob und nach welchen Kriterien, diese als rassistisch zu benennen sind.
Institutioneller Rassismus
Institutioneller Rassismus in Deutschland kann in Anlehnung an die Stephen Lawrence Inquiry in Großbritannien verstanden werden als „von Institutionen/Organisationen (durch Gesetze, Erlasse, Verordnungen und Zugangsregeln sowie Arbeitsweisen, Verfahrensregelungen und Prozessabläufe) oder durch systematisch von Mitarbeiter_innen der Institutionen/Organisationen ausgeübtes oder zugelassenes ausgrenzendes, benachteiligendes oder unangemessenes und somit unprofessionelles Handeln gegenüber ethnisierten, rassialisierten, kulturalisierten Personen oder Angehörigen religiöser Gruppen sowie gegenüber so definierten ‚Nicht-Deutschen‘ oder Nicht-Christ_innen“ (Melter 2006, 27) oder als „nicht seßhaft“ kategorisierten Personen (vgl. Strauß 2011). In dieser Definition werden nationalstaatliche Diskriminierung und rassistische Diskriminierung als sich überlappende Diskriminierungsformen gesehen, wobei analytisch einige Formen nationalstaatlicher Diskriminierung nicht als rassistische Diskriminierung zu fassen sind. Allerdings ist in der Regel die soziale Definition von Deutsch-Sein mit rassistischen Konstruktionen verbunden. Um die zentrale Frage nochmals anders auszudrücken:
Werden Schüler_innen in Schulen in der BRD systematisch in rassistischer Weise kategorisiert und werden die als nicht-deutsch, nicht-weiß, nicht-christlich und/oder nicht-seßhaft kategorisierten Schüler_innen im Zugang zu Ressourcen und Möglichkeiten sowie in Förderungspraxen benachteiligt im Vergleich zu als deutsch, christlich, weiß und seßhaft kategorisiertenSchüler_innen?
Viele empirische Studien bejahen diese Frage nach rassistischer Benachteiligung hinsichtlich verschiedener Gruppen, die in rassistischer Weise als „Andere“ angesehen und behandelt werden: Roma und Sinti, Schwarze Deutsche, Schüler_innen mit türkischer Migrationsgeschichte u.a.: Ozawa 2014; Sachverständigenrat deutscher Stiftungen zu Integration und Migration 2014; Antidiskriminierungsstelle des Bundes/Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung 2013; Karayaz 2013; Rottleuthner/ Mahlmann 2011; Strauß 2011; Herzog-Punzenberger/Schnell 2011; Gomolla/Radtke 2009; Boos-Nünning/ Karakasoglu 2006).
Auch internationale Vergleichsstudie wie PISA (vgl. Huisken 2006) oder die TIES-Studie bestätigen systematische Benachteiligung von als rassistisch als „anders“ definierten Schüler_innen in der BRD. In der TIES-Studie wurden die größte Migrant_innen-Gruppen und deren Nachfolge-Generationen (Schüler_innen mit türkischer Migrationsgeschichte) sowie die Einkommens-bezogen gleich gestellte Mehrheitsangehörigen-Schüler_innen und die zweitgrößte migrantische Gruppe verglichen (vgl. Simon 2008). Die TIES-Studie und weitere Studien belegen die systematische Benachteiligung von Schüler_innen, die als mit Migrationsgeschichte, als finanziell arm oder/und als beeinträchtigt angesehen werden (vgl. Melter/ Karayaz 2013). Und die Studien zeigen, dass das Maß der Diskriminierung in vielen Ländern im Bildungsbereich wesentlich geringer ist.
Diese Erkenntnis über benachteiligende Praxen im Bildungssystem in Deutschland und Österreich ist schon etwa 100 Jahre alt. Bereits 1927 schrieb Siegfried Bernfeld über die systematische schulische Benachteiligung von Schüler_innen aus einkommensarmen Familien (Bernfeld 1927). Und auch rassistische Benachteiligung im Bildungsbereich lässt sich beispielsweise gegenüber Roma und Sinti sowie gegenüber Schwarzen Deutschen historisch kontinuierlich nachweisen (vgl. Addick/ Mehnert 2001; Oguntoye u.a. 2006; Strauß 2011). Geschlechter-, Klassen-, Behinderungs- und rassistische Verhältnisse wurden und werden stets in Nationalstaaten und Kolonien durch das Bildungssystem stabilisiert und neuen Verhältnissen gegenüber transformiert.
Rassistische Gesellschaftsdiskurse, racist profiling und racist stereotype threat
In den letzten Jahren war insbesondere die Debatte um die rassistischen und sozialdarwinistischen sowie antimuslimischen Aussagen von Sarrazin (vgl. Friedrich 2011) in der deutschen Öffentlichkeit präsent. Sowohl der Verkaufserfolg des rassistischen Buches von Sarrazin und die fehlende Abgrenzung seiner Partei der SPD und des anderen politischen Establishments wurden auch von der Europäischen Union gerügt. Diese rassistischen Stereotype haben ebenso wie die rassistischen Kontroll- und Ermittlungs-Methoden der Polizei allgemein und insbesondere die Handlungspraxen der Strafverfolgungsbehörden im Rahmen der rassistischen NSU-Mordserie das Vertrauen in die Institutionen der Polizei, der Strafverfolgung insgesamt sowie in die Politik nachträglich beschädigt (vgl. Deutscher Bundestag 2013) und das gesellschaftliche Klima negativ beeinflusst, also auch die Schüler_innen, Eltern und Lehrer_innen.
In der internationalen Diskriminierungsforschung wird der Begriff des „Stereotype Threat“, der Bedrohung durch Stereotype, verwendet (vgl. Goff u.a. 2008). Diese Bedrohung kann in zweifacher Wiese differenziert werden: 1) Lehrer_innen bedrohen die Lehrer_innen durch Negativeinschätzungen und Negativbehandlung hinsichtlich Zugang, Förderung und Bewertung. 2) Die Schüler_innen wissen um die tatsächliche oder mögliche Negativeinschätzung und Negativbehandlung oder befürchten diese, letzteres nennt Paul Mecheril antizipierte Rassismuserfahrungen (vgl. Mecheril 2006). Und es kann sein, dass die Schüler_innen durch die rassistischen Stereotype verunsichert, weniger leistungsstark werden oder die Abwertungen verinnerlichen oder auch ablehnen und transformieren (vgl. Ozawa 2014). In den benannten Forschungen geht es in der Regel im Sinne des Verständnisses von institutionellem Rassismus (s.o.) nicht um unbestimmte, sondern um rassistische Stereotype (vgl. Gomolla/ Radtke 2009), es geht um institutionellen Rassismus im Bildungswesen.
Frank Olaf Radtke hebt hervor, dass die Mechanismen polizeilicher Verfolgung von rassistisch konstruierten Gruppen, die Nicht-Verfolgung von als weiße Deutsche angesehenen Personen sowie der Nicht-Schutz von rassistisch angegriffenen Personen seitens der Strafverfolgungsbehörden (vgl. Amadeu-Antonio-Stiftung 2012) den rassistischen Benachteiligungslogiken und Mechanismen im Bildungssystem entsprechen (vgl. Radtke 2013).
Die rassistische Benachteiligung im Bildungssystem hat – verstärkt durch Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt trotz Schulerfolg – Folgen für den Arbeitsmarktzugang und das Einkommen der Familien mit und ohne (zugeschriebener) Migrationsgeschichte. „Familien mit Migrationshintergrund sind insgesamt etwa doppelt so häufig armutsgefährdet wie Familien ohne Migrationshintergrund. Die Armutsrisikoquote von Menschen mit Migrationshintergrund und ausländischer Staatsangehörigkeit ist gegenüber Personen ohne Migrationshintergrund sogar dreimal höher. (…) Familien mit Migrationshintergrund machen damit nach Sonderauswertungen des Mikrozensus 2009 45 Prozent aller Familien mit Kindern unter 18 Jahren aus, die als armutsgefährdet gelten. Besonders hoch ist die Armutsgefährdungsquote, wenn die Familien zusätzlich noch alleinerziehend sind oder drei und mehr Kinder haben.“ (Bundesregierung 2013)
Änderungsansätze gegen Rassismus im Bildungssystem
Mechthild Gomolla (2010), die Organisationen Imir/ Inssan/ Life (2013) oder Kiyoshi Ozawa (2014) haben umfassende Vorschläge zur Wahrnehmung, Thematisierung von rassistischer Benachteiligung im Bildungssystem, von Selbstorganisation von rassistisch Benachteiligten und Beschwerdemanagement gegen rassistische Benachteiligung erstellt. Neben für alle Schüler_innen notwendigen gerechtigkeitsorientierten Änderungen im Schulsystem (Ganztagsschule, gemeinsames Lernen bis zur achten Klasse und individuellem Didaktiken – vgl. Melter/ Karayaz 2013) wird es einen langen Atem und viele Auseinandersetzungen brauchen, damit die von der Mehrheitsgesellschaft und den Bildungsinstitutionen ausgeübte historisch kontinuierliche rassistische Benachteiligung – u.a. im Bildungssystem – von als „anders“ angesehenen Personen endlich thematisiert, verringert und abgeschafft wird. Wie Alana Lentin beschrieben hat werden derartige Veränderungsprozesse in der Regel von selbstorganisierten Gruppen der Unterdrückten, dann evtl. von sich solidarisierenden Privilegierten und später zum Teil von den kritisierten Institutionen angegangen (vgl. Lentin 2004). Die Integrations- und Bildungspolitik der Bundesregierungen in den letzten 30 Jahren legt demgegenüber den Schwerpunkt auf den Ausgleich zugeschriebener Defizite der als „anders“ konstruierten Schüler_innen, anstatt grundsätzlich für mehr Bildungsgerechtigkeit hinsichtlich aller Schüler_innen sowie gegen historische und aktuelle rassistische Ungleichbehandlung systematisch Anstrengungen zu unternehmen.
Literatur
Addick, Christel/ Mehnert, Wolfgang (2001): Deutsche Missions- und Kolonialpädagogik in Dokumenten – eine kommentierte Quellensammlung aus den Afrikabeständen deutschsprachiger Archive 1884 – 1914 Frankfurt
Antidiskriminierungsstelle des Bundes/ Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (2013): Wechselwirkung zwischen Diskriminierung und Integration. Analyse bestehender Forschungsstände. Berlin
Amadeu-Antonio-Stiftung 2012: Das Kartell der Verharmloser. Wie deutsche Behörden systematisch rechtsextremen Alltagsterror bagatellisieren. Berlin
Bernfeld, Siegfried (1927): Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt am Main
Boos-Nünning, Ursula/ Karakasoglu, Yasemin (2006): Viele Welten leben. Münster u.a.
Bundesregierung (2013): Lebenslagen in Deutschland Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung. Berlin
Deutscher Bundestag (2013): (NSU-Untersuchungsausschuss-Abschlussbericht) Deutscher Bundestag Drucksache 17/14600. 7. Wahlperiode 22. 08. 2013 . Beschlussempfehlung und Bericht des 2. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes*. Berlin
Friedrich, Sebastian (Hrsg.) (2011): Rassismus in der Leistungsgesellschaft. Analysen und kritische Perspektiven zu den rassistischen Normalisierungsprozessen der „Sarrazindebatte“. Münster
Goff, Phillip Atiba/ Steele, Claude M./ Davies, Paul G. (2008): The Space Between Us:
Stereotype Threat and Distance in Interracial Contexts. In: Journal of Personality and Social Psychology 2008, Vol. 94, No. 1, 91–107
Gomolla, Mechthild (2010): Institutionelle Diskriminierung im Bildungs- und Erziehungssystem. Berlin. Zu finden unter: http://www.migazin.de/2010/04/22/institutionelle-diskriminierung-im-bildungs-und-erziehungssystem/ (Zugriffsdatum 15.08.2014)
Gomolla, Mechtild/Radtke, Frank-Olaf (2009): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule, Wiesbaden
Muisken, Freerk (2006). Der „PISA-Schock“ und seine Bewältigung. Oder: Wie viel Dummheit braucht die Republik? Wiesbaden.
Imir/ Inssan/ Life (2013): Diskriminierungsfreie Schule – eine bildungspolitische Notwendigkeit. Policy Brief. Arbeitspapier.
Karayaz, Erol (2013): Männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund: Ergebnisse eigener Untersuchungen und was diese für eine diversitätsbewusste Pädagogik bedeuten können. Oldenburg
Lentin, Alana (2004): Racism & Anti-Racism in Europe. London
Mecheril, Paul (2006): Was Sie schon immer über Rassismuserfahrungen wisssen wollten. In Leiprecht/Kerber (Hrsg.): Schule in der Einwanderungsgesellschaft. Schwalbach/Ts.
Melter, Claus (2006): Rassismuserfahrungen in der Jugendhilfe. Eine empirische Studie zu Kommunikationspraxen in der Sozialen Arbeit. Münster u.a.:
Melter, Claus/Karayaz, Erol (2013): Die fehlende Debatte über Diskriminierungsformen im Bildungssystem in Österreich und Deutschland. In: Mecheril, Paul/Thomas-Olalde, Oscar, Arens, Susanne/Romaner, Elisabeth/Melter, Claus (Hrsg.): Migrationsforschung als Kritik? Wiesbaden, S. 245-260
Oguntoye, Katharina/ Ayim, May (Opitz)/ Schultz, Dagmar. Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. Berlin 2006
Ozawa, Kiyoshi (2014): Underrepresentation of male youth with migration background at higher education in Germany: Voices of society vs. voices of youth. Oldenburg Dissertation
Radtke, Frank-Olaf (2013): Schulversagen. Migrantenkinder als Objekt der Politik, der Wissenschaft und der Publikumsmedien Der Essay beruht auf einem Vortrag bei der von NAVEND – Zentrum für Kurdische Studien e. V. veranstalteten Fachtagung „Chancen durch Vielfalt in Bildung und Erziehung“ in Berlin am 20. Februar 2013 und wurde vom Autor im September 2013 für den Mediendienst Integration aktualisiert.
Rottleuthner, Hubert/ Mahlmann, Matthias (2011): Diskriminierung in Deutschland. Vermutung und Fakten. Baden-Baden
Simon, Patrick (2008): Discrimination in the TIES-Survey. A cross country comparison on the Turkish Second Generation. Amsterdam
Sachverständigenrat deutscher Stiftungen zu Integration und Migration (2014): Diskriminierung am Ausbildungsmarkt Ausmaß, Ursachen und Handlungsperspektiven. Berlin
Strauß, Daniel (Hrsg.) (2011): Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma. Dokumentation und Forschungsbericht. Marburg