Im deutschen Bildungssystem stellt der Übergang zur Sekundarstufe I einen der für den späteren Bildungs- und Berufsverlauf wichtigsten Schritte dar. Deshalb ist es so bedeutsam, dass Kinder von Eltern mit höheren Bildungsabschlüssen und Berufspositionen sehr viel häufiger den Übertritt in das Gymnasium schaffen als Kinder von Eltern ohne solche Abschlüsse und mit niedrigen Berufspositionen. Während über ein Drittel der Kinder aus dem unteren Viertel der Bevölkerung nach der Grundschule auf die Hauptschule geht und nur ein Fünftel auf das Gymnasium, wechseln fast zwei Drittel der Kinder aus dem oberen Viertel auf das Gymnasium und nur ganze sieben Prozent auf die Hauptschule. Hat ein Elternteil (oder gar beide) eine Hochschule besucht, gehen sogar mehr als vier Fünftel der Kinder auf das Gymnasium.
Für diesen riesigen Unterschied gibt es drei wesentliche Gründe. Erstens gibt es Leistungsunterschiede, weil die Kinder aus Elternhäusern mit höherer Bildung zuhause bessere Voraussetzungen für die Aneignung von Wissen haben. Sie erfahren mehr Anregungen durch das familiäre kulturelle Umfeld in Form vor allem von Gesprächen, vorhandener Literatur oder Besuchen kultureller Einrichtungen und verfügen daneben auch über bessere materielle Lernbedingungen (ein eigenes Zimmer, eine günstige, d.h. vor allem ruhige Wohnlage etc.). Außerdem können sie bei schulischen Problemen in den meisten Fällen auf familiäre Unterstützung hoffen, weil die Eltern entweder direkt helfen oder zumindest die notwendige externe Nachhilfe ohne weiteres finanzieren können.
Zweitens werden gleiche Leistungen von den Lehrkräften je nach sozialer Herkunft unterschiedlich bewertet. Die Lehrkräfte an den Grundschulen geben Kindern aus der oberen Dienstklasse (größere Unternehmer, leitende Angestellte und Beamte, akademische Freiberufler) viermal so häufig eine Gymnasialempfehlung wie Kinder von Facharbeitern, Meistern oder Technikern und sogar siebenmal so häufig wie Kinder un- und angelernter Arbeiter. Berücksichtigt man die Leistungsunterschiede zwischen diesen Schülergruppen, so verringert sich der Abstand zwar, er bleibt aber immer noch bei mehr als dem Zweieinhalbfachen bzw. beim Viereinhalbfachen. Die soziale Herkunft beeinflusst den Wechsel auf das Gymnasium ganz offensichtlich nicht nur vermittelt über Leistungsdifferenzen, sondern auch ganz massiv durch die unterschiedliche Bewertung gleicher Leistungen seitens der Lehrkräfte.
Dieser Effekt hat sich im Zeitverlauf sogar noch verstärkt. 2001 reichten für ein Kind aus der oberen Dienstklasse in der Lesekompetenz 551 Punkte für eine Gymnasialempfehlung, während ein Arbeiterkind es auf gut 600 Punkte bringen musste. Fünf Jahre später war der Wert für das Kind eines Arztes oder eines höheren Beamten auf 537 Punkte gesunken. Für die Empfehlung reichte bei ihm nun eine Leistung aus, die nicht einmal den Durchschnittswert aller Schüler von 548 Punkten erreichte. Für ein Arbeiterkind waren die Anforderungen dagegen im gleichen Zeitraum spürbar gestiegen. Es musste jetzt ungefähr eine ganze Kompetenzstufe (von insgesamt nur fünf) besser sein als ein Kind aus der oberen Dienstklasse oder, anders ausgedrückt, ihm mehr als eineinhalb Schuljahre voraus sein, um von den Lehrkräften ebenfalls als geeignet für den Besuch eines Gymnasiums gehalten zu werden. Interessant ist dabei, dass die Kinder von Facharbeitern, Meistern und Technikern, die 2001 mit denen anderer Arbeiter gleichauf lagen, es ein halbes Jahrzehnt später mit nur noch 592 Punkten ebenfalls etwas einfacher hatten, die Kinder un- und angelernter Arbeiter demgegenüber mit 614 Punkten deutlich höhere Leistungen als 2001 erbringen mutssen, um eine Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen.
Die soziale Herkunft wirkt, was die Gymnasialempfehlung angeht, gleich dreifach. Ungefähr die Hälfte der Wirkung geht auf die Leistungsunterschiede zurück, ca. ein Viertel auf die unterschiedliche Benotung trotz gleicher Leistung aufgrund der sozialen Herkunft und ein weiteres Viertel auf die je nach Herkunft unterschiedliche Gymnasialempfehlung trotz gleicher Leistung und gleicher Noten.
Soziale Selektionsfilter lassen sich aber nicht nur beim Übergang auf die weiterführenden Schulen, sondern auch im weiteren Verlauf der Schullaufbahn beobachten. Ein Beispiel aus dem Deutschunterricht einer gymnasialen Oberstufe verdeutlicht den dabei wirksamen Mechanismus sehr anschaulich. Das Thema der Stunde lautet „Antigone“. Ein Schüler wird, nachdem ein Klassenkamerad zuvor ausführlich die zentralen Handlungsstränge, Personen und Probleme dargestellt hat, aufgerufen. Er hat das Buch aber überhaupt nicht gelesen. In dieser Situation zeigt sich der Vorteil seiner Herkunft – der Vater Professor, die Mutter Ärztin – gleich in zweifacher Weise. Erstens gibt er nicht zu, das Buch nicht gelesen zu haben, sondern glaubt, gestützt auf die im Rahmen der Familie eher beiläufig erworbenen Kenntnisse über griechische Mythologie und Geschichte, schon noch etwas retten zu können, indem er, statt auf Details der literarischen Vorlage einzugehen, gleich umfassend über das zu erzählen beginnt, was er kennt, griechische Geschichte und Mythologie. Zweitens, und das ist der eigentlich interessante Punkt, kommt die Lehrerin gar nicht auf die Idee, der Schüler könnte das Buch nicht gelesen haben. Sie lobt ihn vielmehr sogar ganz besonders dafür, dass er es nicht dabei belassen habe, wie sein Vorredner nur fleißig die für den Schulunterricht üblichen Fragen behandelt, sondern die Thematik gleich in ihren historischen Kontext eingebettet zu haben. Hier tritt derselbe Effekt ein, den Bourdieu in seiner Untersuchung der französischen Elitehochschulen so detailliert anhand der für die Bewertung der Kandidaten entscheidenden Differenz zwischen Fleiß und Brillanz schildert. Der soziale Aufsteiger ist fleißig, das Akademikerkind brillant. Das lässt es in den Augen der Lehrer über das Normalmaß hinausragen.
Zur Begünstigung durch die Lehrkräfte kommt dann als dritter Faktor noch hinzu, dass Eltern mit niedrigem Bildungsabschluss ihrem eigenen Urteilsvermögen in Bezug auf das Bildungssystem auch weniger trauen als Akademikereltern und deshalb dem Rat der Lehrer und Lehrerinnen folgen, wenn es um die Einschätzung der weiteren Schullaufbahn ihrer Kinder geht. Sie halten die Lehrkräfte in dieser Beziehung für eindeutig kompetenter und schließen sich daher zumeist ihrer Beurteilung an. Bei Eltern mit Hochschulabschluss und hoher beruflicher Position sieht das ganz anders aus. Sie schicken ihre Kinder vielfach auch dann auf das Gymnasium, wenn die Lehrkräfte davon abraten. Sie glauben, das Leistungsvermögen ihrer Kinder selbst besser beurteilen zu können als die Lehrer und Lehrerinnen an den Grundschulen. So genügen Eltern aus der oberen Dienstklasse bereits weniger als 500 Punkte auf der Skala der Lesekompetenz, um ihre Kinder für geeignet zu halten. Das sind ca. 40 Punkte weniger als die Lehrkräfte für erforderlich halten. Seit 2001 ist dieser Unterschied zudem spürbar gewachsen. Bei un- und angelernten Arbeitern lässt sich genau das Gegenteil beobachten. Sie sind noch skeptischer geworden, was die Schulaussichten ihrer Kinder angeht. Statt 595 Punkten wie noch 2001 halten sie mittlerweile über 600 Punkte für nötig, um ihren Kindern den Besuch des Gymnasiums zuzutrauen. Damit sind sie hinsichtlich der schulischen Perspektiven ihrer Kinder allerdings immer noch etwas optimistischer als die Lehrer.