Deutschland ist ein Einwanderungsland. Dies würde heute niemand mehr ernsthaft bestreiten. Die Migrations- und Integrationspolitik der Bundesregierung ist aber nach wie vor geprägt von Vorurteilen, Verdächtigungen und Schikanen. An Teilhabe, Anerkennung und Gleichbehandlung mangelt es.
Vor zwei Jahren brachte das Bundesverfassungsgericht einen denkwürdigen Satz zu Protokoll: „Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“ Das höchste deutsche Gericht erklärte damit das bis heute geltende Asylbewerberleistungsgesetz für verfassungswidrig. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde, ungeachtet von Herkunft und Hautfarbe, ist für mich und meine Partei schon immer Leitmotiv allen politischen Handelns.
Dieser Tage ist im politischen Betrieb viel von „Willkommenskultur“ die Rede. Die Bundeskanzlerin spricht davon, SPD-Chef Sigmar Gabriel fordert sie ein und selbst die Konservativen der bayerischen CSU entdecken sie für sich. Doch woraus besteht diese viel zitierte „Willkommenskultur“? Bisher nur aus leeren Versprechungen und Worthülsen, wie aktuelle Beispiele aus dem Familien- und Staatsbürgerschaftsrecht zeigen.
Diskriminierung beim Ehegattennachzug beenden
Die Große Koalition weigert sich nach wie vor, gesellschaftliche Realitäten anzuerkennen. Dabei ignoriert sie nicht nur eindeutige Urteile des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch die des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser urteilte: beim Ehegattennachzug von türkischen Staatsangehörigen darf der Nachweis von Deutschkenntnissen nicht eingefordert werden. Anstatt diese schikanöse Praxis aber wie höchstrichterlich gefordert einzustellen, beharrt die Bundesregierung weiter auf der Durchsetzung dieser – so wörtlich – „vorgelagerten Integrationsmaßnahme.“ Vor allem die Union muss sich fragen lassen, wie ernst ihr eigentlich der viel beschworene Schutz von Ehe und Familie in der Praxis wirklich ist. Der Artikel 6 unseres Grundgesetzes scheint für binationale Ehen nicht zu gelten, zumal wenn einer der Partner aus der Türkei stammt.
Sprach- und Integrationskurse ausbauen
Das Erlernen der deutschen Sprache ist sicher ein wichtiger Beitrag zu Partizipation und Teilhabe in diesem Land , zumal es die Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessert und das alltägliche Leben vereinfacht. Aber wo kann man Deutsch besser lernen als in Deutschland? Oder besser gefragt: wo könnte man Deutsch besser lernen. Es ist nämlich dieselbe Bundesregierung, die an verpflichtenden Sprachtests für Menschen aus der Türkei festhält, hierzulande aber die Kapazitäten für Sprach- und Integrationskurse massiv zurückfährt. Seit Jahren ist dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bekannt, dass das immer dünner werdende Angebot an Sprach- und Integrationskursen die steigende Nachfrage nicht abdeckt. Die Menschen, die zu uns kommen, wollen also Deutsch lernen, die Bundesregierung lässt sie aber nicht. Nicht selten macht sie diesen Menschen später sogar mangelnde Sprachkenntnisse zum Vorwurf, etwa bei der Frage des Bleiberechts.
Doppelte Staatsbürgerschaft endlich akzeptieren
Auch den hier geborenen Kindern aus Einwandererfamilien macht die Große Koalition das Leben unnötig schwer. Dies zeigt sich gut am Beispiel der Doppelten Staatsbürgerschaft. Die angebliche Abschaffung der Optionspflicht durch die SPD, ist ein gern verbreitetes Märchen der Sozialdemokraten. Tatsächlich ist das, was die Große Koalition in diesem Jahr als Reform des Staatsbürgerschaftsrechts auf den Weg gebracht hat nichts anderes, als die Weiterführung einer weiteren schikanösen Praxis der deutschen Migrationspolitik. Immer noch bleiben viele Jugendliche mit türkischem oder arabischem Familienhintergrund nur Deutsche auf Probe. Sie müssen erst umständlich nachweisen, dass sie in Deutschland gelebt haben und hier sozialisiert sind, etwa durch Schulzeugnisse oder andere Ausbildungsnachweise. Ein wahres Bürokratiemonster. Nur so können sie dauerhaft die deutsche Staatsbürgerschaft behalten.
Es ist genau dieser offen artikulierte politische Zweifel an ihrem Deutschsein, der vielen Jugendlichen eine erfolgreiche Integration in die deutsche Gesellschaft erschwert. Nicht zu Unrecht fragen sie sich, ob sie in diesem Land willkommen sind, und ob ihre Leistungen im schulischen oder beruflichen Bereich ebenso honoriert werden wie die ihrer deutschen Mitschüler und Kollegen ohne Migrationshintergrund. Schon heute beantworten viele diese Frage mit Nein und verlassen das Land, in dem sie geboren und aufgewachsen sind. Ein Verlust, den wir uns alle nicht leisten können.
Vielfalt akzeptieren lernen
Bündnis 90/Die Grünen setzen dem Stillstand und den Schikanen der rot-schwarzen Migrationspolitik das Konzept einer offenen und modernen Einwanderungsgesellschaft entgegen. Für uns ist Migration keine Gefahr, sondern in vielerlei Hinsicht Chance und Bereicherung. Im Bezug auf Kultur und Sprache, aus wirtschaftlichen Gründen oder auf ganz persönlicher Ebene im Freundes- und Bekanntenkreis. Einwanderungsgesellschaft bedeutete, dass sich die, die schon hier sind und die, die noch kommen, aufeinander zu bewegen. Für uns Grüne sind dabei Chancengleichheit, kulturelle Selbstbestimmung und Teilhabe zentrale Werte.
Die immer wiederkehrenden Integrationsdebatten machen deutlich, wie schwer der Umgang mit Vielfalt einem Teil der Bevölkerung noch immer fällt. Dabei wird der Begriff der „Integration“ oft misslich und einseitig fordernd benutzt, obwohl das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft in Deutschland überwiegend friedlich verläuft. Debatten, die diese Realität bewusst untergraben, bilden einen gefährlichen Nährboden für rechte Stimmungsmache und Rassismus. Dem stellen wir uns entschieden entgegen.
Der Spaltung unserer Gesellschaft in „Wir“ und „die Anderen“ stellen wir ein positives Verständnis von Migration und Zusammenleben entgegen. Wir wollen keine neuen Zäune hochziehen, sondern Hürden abbauen. Viele Menschen aus Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft haben bereits erkannt, dass Abschottung und Ausgrenzung keine Lösung darstellen. Ein modernes, europäisches Einwanderungsland im 21. Jahrhundert muss neue Wege in der Migrationspolitik bestreiten. Wir Grünen stehen bereit, diesen Prozess aktiv mitzugestalten..