Prof. Dr. Claus Melter
Hochschule Esslingen
Historische Widersprüchlichkeit/ Heuchelei
Im Beantworten der Frage, wer in die Gemeinschaft der Erinnerungswürdigen aufgenommen wird, verhandeln wir auch die Frage, wem wir uns zugehörig fühlen und wer zu uns gehört und wer nicht (vgl. Peggy Piesche 2014, anlässlich der Rückgabe von Gebeinen und Schädeln zwischen 1904 und 1908 von Deutschen im heutigen Namibia ermordeter Herero und Nama in der Charité in Berlin). Es geht im Angesicht der systematischen Verletzung der Rechte insbesondere geflüchteter Personen jedoch auch verarmter Personen in einer gerechtigkeitsorientierten Perspektive, die ich im Folgenden darstellen möchte, sowohl um die Frage von Mindestrechten aller Menschen, um Fragen von Selbst- und Mitbestimmung als auch um Fragen weltweiter Produktions- und Verteilungsgerechtigkeit. Die weltweite und jeweils lokale Ungleichheit sind zentrale Konfliktgründe.
Götz Aly hat 2011 in seinem Buch „Warum die Deutschen? Warum die Juden?“ beschrieben wie eine Diskursfigur der christlichen bevorrechtigten Deutschen konstruiert wurde, in der bereits von 1800 bis 1933 diskutiert wurde, ob und wie viele Jüdinnen und Juden, denen in den Debatten die Zugehörigkeit zu Deutschland und Deutsch-Sein sozial und rechtlich immer wieder abgesprochen wurde, gebraucht werden …wie viele von diesen Personen nützlich für Gesellschaft und Wirtschaft seien, ob ihnen Rechte und welche gegeben werden sollten und wie stark mensch sich von den gewalttätigen Angriffen gegen sie distanzieren müsse. In diesen Debatten gab es stets auch gleichstellungsorientierte Stimmen. Bedeutsam in diesem Kontext ist jedoch die durch die Beteiligten erfolgende diskursive Herstellung der als bevorrechtigt angesehenen Wir-Gruppe und der Gruppe der oft als weniger wertvoll, als weniger Mitsprache-berechtigt angesehenen Gruppe, der zu „Anderen“ gemachten Personen. Diese Diskursfigur der bevorrechtigen Deutschen wurde auch gegenüber den Personen, in den von Deutschland kolonisierten Ländern angewandt und gewaltvoll durchgesetzt (vgl. El Tayeb 2001).
Wenn wir heute die Debatte um geflüchtete Personen und die „Aufnahmekapazität“ Deutschlands lesen, dann sehen wir eine ähnliche Diskurskonstellation, in denen nicht von den gleichen Rechten aller Menschen ausgegangen wird, sondern Menschen nach Nützlichkeit eingeteilt werden, ausgehend von einer als entscheidungsrelevant gesetzten nationalen Wir-Gruppe.
Diese Debatten sind konstitutiv für Zugehörigkeitsverhandlungen in kapitalistischen Migrationsgesellschaften. Neben den migrationsgesellschaftlichen, nationalstaatlich und rassistisch diskriminierenden Aspekten sind jedoch mit ersteren Klassen- und Geschlechterverhältnisse historisch und aktuell verwoben. Daher benötigen wir auch eine genderbezogene Analyse der materiell/finanziellen Besitzverteilung sowie der Care- und Produktionsverhältnisse. Zudem geht es um eine Besitz- und einkommensbezogene Analyse zwischen den immer mehr besitzenden Wenigen und der zunehmend ärmer werdenden Hälfte bis Mehrheit der Gesellschaft. Ebenso bedarf es Analysen der Herstellung von Gruppen, die behindert und die nicht behindert werden, und Analysen der jeweiligen natio-ethno-kulturell-religiös-rassistischen Zugehörigkeitsordnungen (vgl. Melter 2016)
Einige Zahlen zu diesen Themen: Bald besitzt 1 Prozent der Reichsten die Hälfte des weltweiten Reichtums (Oxfoam International/ Hardoon, Deborah (2015): WEALTH: HAVING IT ALL AND WANTING MORE . Oxford). “Women constitute half of the world’s population, Perform nearly two-third of its work hours, Receive one-tenth of world’ income and own Less than one hundredth of world’s property”. http://www.un.org/esa/socdev/social/meetings/egm10/documents/Nandal%20paper.pdf
Weder die quantitative noch die qualitative Dimension von Armut ist für weibliche und männliche Menschen gleich. Dabei gelten im Wesentlichen folgende Parameter: „Armut ist weiblicher. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern wirken sich quantitativ insbesondere bei Erwachsenen aus. Bei Kindern und Jugendlichen sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern eher qualitativ denn quantitativ. Die erhöhte Betroffenheit von Frauen findet sich insbesondere bei bestimmten Gruppen von Frauen. Die ungleiche Betroffenheit der Geschlechter von Armut hängt eng zusammenmit den gesellschaftlichen Vereinbarungen bezüglich der Geschlechterrollen.“ (Wallner 2010)
Intersektionale Diskriminierungskritik
Mit Intersektionalität wird die Verwobenheit, Überschneidung und Interdependenz verschiedener Differenz(-konstruktions)-Verhältnisse z.B. gendered Racism, classed disability uvm. benannt. Gekämpft wird gegen jede Form der Diskriminierung, verstanden als die Ungleichbehandlung konstruierter Gruppen oder die Gleichbehandlung mit gruppenbezogen benachteiligenden Effekten, da ungleiche Ressourcen und Fähigkeiten und Möglichkeiten vorhanden sind. Intersektionale Diskriminierungskritik strebt gerechtere Verhältnisse im Sinne von mehr Verteilungs- und Mitbestimmungsgerechtigkeit, fairen Möglichkeiten an.
Ungleich verteilte Rechte und geteiltes Mitgefühl
„Wir sind eine Menschheit: Alle schauen nach Paris und leiden zurecht mit den durch einen furchtbaren Terroranschlag Getöteten und Verletzten und ihren Angehörigen. An die vor wenigen Tagen in Beirut durch einen furchtbaren Terroranschlag Ermordeten, Verletzten und ihre Angehörigen wird weltweit kaum gedacht. Ich trauere und fühle mit beiden.“ (vgl. laut vielen Internetquellen: Angelina Jolie 14.11.2015). Der Erziehungswissenschaftler und Philosoph Mich Brumlik fordert Nächsten- und Fernstenliebe (vgl. Brumlik 2004). Und Peggy Piesche (siehe oben) erweitert diese Idee um die Frage, wen wir in unserer Gemeinschaft als zugehörig ansehen und wen wir aus unserer Gemeinschaft hinausdefinieren – sei es in Bezug auf zugeschriebene Staatsangehörigkeit, rassistische Unterscheidungen, Geschlechter- und Einkommensverhältnisse, Religionszugehörigkeit, zugeschriebene Kultur, Fluchtgeschichte oder Sprachpraxen .
In der globalen Welt-Migrationsgesellschaft sowie in einzelnen Nationen gibt es Phänomene von Einwanderung, Auswanderung, Pendelmigration, Transmigration u.a.. Es gibt einen diskriminierenden Umgang mit sprachlicher, religiöser und sozialer Vielfalt (vgl. Mecheril 2010). Realisiert wird in der Regel eine Hierarchie der Rechte und Möglichkeiten der als „Einheimische“ gegenüber den als „mit Migrationsgeschichte“ angesehenen Personengruppen. Formen nationalstaatlicher Diskriminierung in Form von Aufenthalts- und Asylrecht, wobei nur Staatsbürger_innen die vollen Rechte haben, werden EU-weit zunehmend asylrechtlich verschärft. Begründet wird dies – ebenso wie nach den rassistischen Übergriffen in den 1990er Jahren, die mit Asylrechtseinschränkungen einhergingen – zynischerweise mit nationalistischen und rassistischen Positionen, die sich in Medienberichten, Politiker_innen-Aussagen und Wahlerfolgen rechter Parteien zeigen. Hinzu kommen Formen rassistischer Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungssektor sowie bei Polizei, Justiz und Arbeits- wie Sozialbehörden.
Migrationsgesellschaften und Diskriminierung
Die Migrationstatsache, die Tatsache der sozialen Diskriminierung, die Tatsache der rechtlichen Diskriminierung, die Rassismustatsache, die Kolonialismus- und Rassismus-Verleugnungstatsache in der BRD, die Tatsache bisher geringer Veränderungsbestrebungen in Bezug auf Rassismus und nationalstaatliche Diskriminierung, der historische Zusammenhang von Kolonialismus, Nationalsozialismus, Rassismus und nationalstaatlicher Diskriminierung können als Grundlage aktueller Entwicklungen und Diskurse gesehen werden.
Gerechtigkeitsorientierte Bestrebungen
Gleichzeitig und im Widerspruch zu den Ungleichheitsverhältnissen und Diskriminierungspraxen wurde und wird insbesondere von widerständigen selbstorganisierten Gruppen derjenigen, die besonders diskriminiert werden, die Vorstellung der Achtung der Integritäten aller Menschen und der Gleichwertigkeit aller Menschen als Fundament gerechtigkeitsorientierten Handelns eingefordert. Integritäten beziehen sich sowohl auf die körperliche Dimension, die psychische Dimension, die kognitive Dimension sowie die soziale Dimension und die rechtliche Dimension (Erweiterung der Konzepte von Oevermann 2013 und Brumlik 2004). Zudem kann von räumlichen und gruppenbezogenen Integritäts-Dimensionen gesprochen werden (vgl. Bliemetsrieder 2016). Diese gerechtigkeitsorientierten Bestrebungen können verbunden werden mit Forderungen nach gleichem Zugang zu Teilnahme, Ressourcen, Posten und Mitgestaltung, nach fairer Förderung, damit jede_r die eigenen Möglichkeiten und Interessen realisieren kann, nach der gleichen Wertschätzung aller Personen, nach einem fairen Verhältnis von Ressourcen- und Möglichkeiten zwischen allen Beteiligten, dem gleichen Recht, sich zu rechtfertigen, mitzusprechen, gehört zu werden und mitzubestimmen, nach dem Selbstbestimmungs- und Mitbestimmung-Recht bei Angelegenheiten des eigenen Lebens.
Verwendete und weiterführende Literatur
Aly, Götz (2011): Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800 –1933. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung
Appiah, Kwame Anthony (2007): Der Kosmopolit. Philosophie des Weltbürgertums. München: Verlag C.H. Beck
Bliemetsrieder, Sandro (2016): Die Idee der Integritäten. Eine Erweiterung. Esslingen (mündliches Protokoll).
Brumlik, Micha (2004): Aus Katastrophen lernen? Grundlagen zeitgeschichtlicher Bildung in menschenrechtlicher Absicht. Berlin/ Wien: Philo.
El Tayeb, Fatima (2001): Schwarze Deutsche. Der Diskurs um “Rasse” und nationale Identität 1890-1933. Frankfurt am Main: Campus-Verlag
Forst, Rainer (2013) Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse. Berlin
Habermas, Jürgen (1991): Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a.M.
Mecheril, Paul (2006): Was Sie schon immer über Rassismuserfahrungen wisssen wollten. In Leiprecht/Kerber (Hrsg.): Schule in der Einwanderungsgesellschaft. Schwalbach/Ts.
Mecheril, Paul (2010): Migrationspädagogik: Hinführung zu einer Perspektive. In: Mecheril, Paul; Castro Varela, María Do Mar; Dirim, İnci; Kalpaka, Annita; Melter, Claus: Migrationspädagogik. Weinheim und Basel, Beltz: S. 7-22
Mecheril, Paul; Melter, Claus (2010) Gewöhnliche Unterscheidungen. Wege aus dem Rassismus. In: Mecheril, Paul; Castro Varela, María Do Mar; Dirim, İnci; Kalpaka, Annita; Melter, Claus: Migrationspädagogik. Weinheim und Basel, Beltz: S. 150-178
Melter, Claus (2006): Rassismuserfahrungen in der Jugendhilfe. Eine empirische Studie zu Kommunikationspraxen in der Sozialen Arbeit. Münster u.a.: Waxmann.
Melter, Claus (Hrsg.) (2015): Diskriminierungs- und rassismuskritische Soziale Arbeit und Bildung. Weinheim/ München
Melter, Claus (2016): Koloniale, nationalsozialistische und aktuelle rassistische Kontinuitäten in Gesetzgebung und der Polizei am Beispiel von Schwarzen Deutschen, Roma und Sinti. Erscheint Mitte 2016 in Fereidooni, Karim/ El, Merat (2016): Transnationale Rassismuskritik. Trans)National Racism: (Trans-)National Racism: Interdependence of racist phenomena and resistance forms.
Pateman, Carole/ Mills, Charles (2008): Contract & Domination. Cambridge/ Malden: Polity Press.
Prantl, Heribert (2015): Flüchtlingsschutz. Jetzt erst recht! Süddeutsche Zeitung, München 16.11.2015, S. 4
Rorty, Richard (1991): Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a.M.
Scherr, Albert (2010:: Diskriminierung – eine eigenständige Kategorie für die soziologische Analyse der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheiten in der Einwanderungsgesellschaft? In:. Hormel, Ulrike/Scherr, Albert (Hrsg.): Diskriminierung. Wiesbaden
Sen, Amartya (2010): Die Idee der Gerechtigkeit. München
Spieker, Suanne (2015): Die Entstehung des modernen Erziehungsdenkens aus der europäischen Expansion. Frankfurt am Main: Peter Lang
Wallner, Claudia (2010): Hat Armut ein Geschlecht? In: Mattes, Christoph (Hg.): Armut ohne Ausweg: Sozialberatung im aktivierenden Sozialstaat. Freiburg 2010