Prof. Dr. Paul Mecheril
Universität Oldenburg
Knapp 60 Millionen Menschen sind gegenwärtig auf der Flucht und alle Prognosen, die ich kenne, verweisen darauf, dass die Zahl zukünftig steigen wird. Von diesen 60 Millionen sind mehr als die Hälfte unter 18 Jahren alt. 86% dieser 60 Millionen fliehen in sogenannte Entwicklungsländer und leben dort unter existenziell bedrohlichen Verhältnissen.
60 Millionen Menschen.. Ich wünsche diesen Menschen ein einigermaßen erträgliches Jahr 2016, das wird es für die Mutter und den Vater von Mohamed kaum. Mohamed – wie Sie vermutlich noch wissen und im Zuge der kollektiven Aufgebrachtheit auf Grund der Ereignisse in der Silvesternacht zu Köln noch nicht vergessen haben, ich komme auf diese Nacht noch zurück – ist vier Jahre alt geworden. Er ist mit seiner Familie aus Bosnien geflohen. Er wurde am 1. Oktober vom Gelände des Berliner Landesamtes für Gesundheit und Soziales entführt, mehrfach sexuell missbraucht und erdrosselt. Der Täter ist ein nordländisch aussehender, mutmaßlich dem christlichen Kulturkreis zuzurechnender 32jähriger Brandenburger, der zugegeben hat, auch den sechsjährigen Elias im Juli letzten Jahres ermordet zu haben. Ich komme darauf und auch auf meine Kennzeichnung des Täters als nordländisch aussehend und vermutlich dem christlichen Kulturkreis entstammende zurück.
Ich will nicht über die Ursachen von Fluchtbewegungen sprechen, diese finden sich beispielsweise in globaler Ungleichheit und einer Weltordnung, die Not global sehr unterschiedlich verteilt und verortet: ca: 45% der Weltbevölkerung lebt von weniger als 2 US-Dollar am Tag und der Großteil diese 45% lebt erstaunlicher Weise in Ländern, die ehemalige Kolonien Europas sind, in Afrika und Asien also. Südlich der Sahara sind auf Grund der nicht unmaßgeblich auf das Handeln westlicher Akteure zurückgehenden Weltordnung nach Angaben der UNO über 200 Millionen von Hungersnot betroffen. Nun müssen wir aber Richtung Pegida, AfD und den vielen, vielen Stimmen in Deutschland, die sich seit Tagen rassistisch äußern, beschwichtigend sagen: macht Euch keine Sorgen. Diese Menschen werden nicht zu und zu Euch kommen, dafür sind sie zu schwach, körperlich wie finanziell. Zu uns kommen glücklicher Wiese nur die starken Notleidendenden, so dass wir unter diesen starken noch einmal die besonders starken, das funkelnde Humankapital, auswählen können. Der Rest wird, um es sarkastisch zu sagen, dämonisiert oder in sozialpädagogischer Obhut verwahrt.
Gut, aber über Fluchtursachen will ich ja gar nicht sprechen, sondern über die mediale, politische, alltagsweltliche kommunikative Behandlung der von geflüchteten Menschen angezeigten Verhältnisse, z.B. das Titelbild des Fokus: Wir haben es hier, 8. Januar 2016, mit einer weidlich sexualisierten, pornographischen Darstellung einer Frau zu tun. Wir sehen den Körper einer nackten weißen, eher jungen, vielleicht 28jährigen, blondhaarigen Frau, deren Brüste von einem quer über ihren Körper verlaufenden roten Balken verdeckt werden, ihre Scham hingegen verdeckt ihre eigene rechte Hand. Ihr Mund ist leicht geöffnet. Auf ihrem Körper sind, den Körper stempelnd, ihn in Besitz nehmend fünf prankenartige Abdrücke von Männerhänden nicht in blauer, nicht grüner, sondern in schwarzer Farbe, ölig und schmutzig zugleich, zu sehen. Die Titelseite fragt: „Nach den Sex-Attacken von Migranten: Sind wir noch tolerant oder schon blind?“
Rassistische Darstellungen und Rede sind im postnationalsozialistischen Deutschland des 21. Jhr. salonfähig. Denn diese Darstellung des Fokus ist rassistisch, weil in reißerischer und aufdringlicher, Affekte heraufbeschwörender Art und Weise Migranten mit Hilfe sexualisierter Darstellungen dämonisiert werden und darin zugleich ein Wir (Sind wir noch tolerant oder schon blind?) errichtet wird, das weiß ist. Das Titelbild spielt das schwarz –weiß Spiel. Die Anderen sind: schwarz, handgreiflich, gesichtslos, schamlos, gefährlich, schmutzig. Wir hingegen sind: weiß, rein, gefährdet, zivilisiert, schamvoll, erhaben. Das Wir, das sich fragt ob es tolerant oder nicht schon blind ist, und an den sich der Fokus wendet, besteht aus weißen Frauen, die von schwarzen Migrantenhänden begrapscht werden, und weißen Männer, die „unsere Frauen“ schützen müssen. Der Schutz „unserer Frauen“ vor der Sexualität der anderen Rasse war immer schon Bestandteil rassistischer und zugleich rassistisch-patriachaler Traditionen, unter anderem ein wichtiges Moment beim Lynchen von Schwarzen in Nordamerika.
Damit kein Missverständnis entsteht oder produziert wird: Die Kritik an sexueller Gewalt gegen Frauen, so wie sie sich in Köln offenbar ereignet hat, die Kritik an sexueller Gewalt gegen Frauen und Kinder und seltener auch gegen Männer, die Kritik und Ablehnung ist unumgänglicher Bestandteil einer wünschenswerten politischen Lebensform. Das Best Case Szenario der Konsequenzen aus Köln wäre, dass wir in Deutschland vermehrt über sexuelle du sexualisierte Gewalt vor allem gegen Frauen und Kinder sprechen und dagegen etwas unternehmen. 58% aller Frauen in Deutschland geben nach einer aktuellen Studie des Bundes-Familienministeriums an, seit ihrem 16Lebensjahr sexuell belästigt worden zu sein. Der erste und häufigste Ort sexueller Belästigungen und Übergriffe sind dabei die eigenen vier Wände, die Familie und die Männer der Familie. Sexuelle Übergriffe und Gewalt gegen Frauen in Europa und in Deutschland finden also vor allem zu Hause statt. Werden wir die sexuellen Übergriffe in Köln so ablehnen und besprechen, dass Sexismus als allgemeines Problem deutlich wird? Ich bin skeptisch, weil ich dem Wir nicht traue, das sich gegenwärtig und wieder einmal mit enormer Kraft formiert.
Was haben der weiße, irgendwie christlich aussehende 32-jährige Brandenburger, der das vierjährige Flüchtlingskind Mohamed im Oktober in Berlin entführt, mehrfach sexuell missbraucht und getötet hat, was haben die in Köln Frauen sexuell Attackierenden, und die christlichen Priester und Lehrer der Regensburger Domspatzen – der mit der Untersuchung betraute Anwalt Ulrich Weber schätzt am 8.Janur 2016 die Zahl der von Misshandlungen und sexuell motivierter Gewalt Betroffenen auf 600 bis 700 (stellen Sie sich vor, was los wäre, wenn dies in einer Koranschule passiert wäre) – was haben diese Aggressoren und Täter gemeinsam? Die Antwort und die Lösung des Rätsels ist: Es sind Männer. Wenn man also nach einem gemeinsamen Merkmal der meisten Akteure sexueller Gewalt Ausschau halten möchte, dann findet man dieses zunächst darin, dass es sich um Männer handelt. Wir benötigen, und das könnte eine sinn- und maßvolle Konsequenz sein, Untersuchungen, die verdeutlichen, in welchen Kontexten Männer wann und wie auf die Handlungsoption männlicher Gewalt zurück greifen und wir benötigen eine Pädagogik, die es möglich macht, dass die Identitäts- und Beziehungsform, die die australische Soziologin Raewyn Connell hegemoniale Männlichkeit nennt, Männlichkeit mit Herrschaftsanspruch sozusagen, weniger attraktiv ist – für Männer wie für Frauen.
Gut, warum aber dieser rassistische Affekt in diesen Tagen? Warum empören sich ältere weiße und politisch konservative Männer, die jahrelang dagegen gewettert und agiert haben, dass Vergewaltigungen in der Ehe in Deutschland als Straftatbestand anerkannt werden, warum empören sich diese Männer in dieser Intensität und betreiben ohne dass übrigens im Hinblick auf die Geschehnisse in Köln juristisch beurteilte Sachverhalte bekannt sind, eine gnadenlose Kollektivverurteilung? Warum triumphiert im Netz, wie Heribert Prantl in der SZ vom 11. Januar schreibt, ein Rassismus wie ihn die Bunderepublik noch nie gesehen hat?
Mit ganz sicher nur skizzenhaften und nicht erschöpfenden Überlegungen zu dieser Frage und einer Konsequenz aus diesen Überlegungen will ich meine Rede beenden. Diese Überlegungen kreisen um zwei Themen, die ich Imagination der Anderen und Sicherung von Ressourcen- und Herrschaftsansprüchen nenne. Der Affekt, den wir gegenwärtig erleben, die Intensität mit der eine ganze Gruppe abgeurteilt wird, kann nur erklärt werden, wenn wir uns klar machen, dass es um den Kampf um Herrschaft und Privilegien geht und dass in diesem Kampf Bilder und Vorstellungen und Imaginationen der Anderen notwendig sind.
Es ist – psychoanalytisch gesprochen – nicht nur so, dass an den, nicht zuletzt über Medienbilder, vielfach imaginierten Anderen („arabisch“, „nordafrikanisch“, „muslimisch“) , dass an diesen phantasierten Anderen auch das bekämpft wird, was ich an mir selbst nicht zulassen darf (ich als Mann schimpfe also so maßlos über den Chauvinismus des vermeintlich muslimischen Mannes, weil ich an ihm etwas zu erkennen vermeine, das ich bei mir selbst nicht zulassen kann und darf), vielmehr ist der Affekt gegenwärtig so intensiv, weil es in ihm darum geht, das Eigene, vor allem in der Figur Europa zu überhöhen, dar zu sakralisieren.
Wir sind gegenwärtig einmal mehr Zeitzeuginnen der gewaltvollen Selbstsakralisierung Europas (welche nicht zufällig vor dem Hintergrund der medial in den Hintergrund getreten Euro-Krise stattfindet). Europa befindet sich aus mehreren Gründen in einer grundlegenden Krise und inszeniert sich unter Ausblendung oder sagen wir lieber im Spiegel der 30. 000 Toten im Mittelmeer, die dort ihr Leben als direkte Folge Europäischer Grenzpolitik verloren haben als Ort des auserwählten Guten, der Werte, als Hort der Geschlechteregalität, zynischer Weise der Menschenrechte und im Lichte und Spiegel einer ausgeprägten und zunehmenden sozialen Ungleichheit doppelzüngig als Raum der Gerechtigkeit. Für diese Inszenierung brauchen wir die Anderen, ihre Hässlichkeit, ihre Gefährlichkeit, ihre Unzivilisiertheit.
Der Britische Kulturwissenschaftler Stuart Hall hat einmal in einem Interview gesagt, dass weiße Engländer nicht deshalb rassistisch seien, weil sie die Schwarzen hassen, sondern weil sie ohne die Schwarzen nicht wissen, wer sie sind. An dem phantastischen Bild des muslimischen Anderen, das in Europa und im Westen überhaupt nicht erst seit dem neunten September 2001 errichtet wird, bestätigt sich Europa seines Vorzugs.
Auch meine zweite Überlegung, warum in Deutschland und in Europa so intensiv abfällig über Flüchtlinge, die nordafrikanischen Männer, über die Muslime gesprochen wird, hat etwas mit Imagination und Herrschaft zu tun.
Wie gehen wir angesichts dessen, dass die Anwesenheit von geflüchteten Menschen uns täglich nicht nur die geopolitischen Verhältnisse und damit die Not und das Leiden der geopolitisch Anderen vor Augen führt, sondern auch unsere eigene unverschuldete Privilegiertheit verdeutlicht, wie gehen wir mit dieser Situation um? Vielleicht gibt es drei empirisch beobachtbare Reaktionsweisen. Erstens: Privilegien abgeben und teilen, zweitens: Gleichgültigkeit und drittens: eine spezifische Wut. Es ist die paradoxe Wut auf die leidenden Anderen. Man kann sich dies mit Bezug auf den Typus von Antisemitismus vergegenwärtigen, der für Deutschland insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jhr. bedeutsam gewesen ist und der “Sekundärer Antisemitismus” genannt wird, also ein Judenhass nicht trotz, sondern wegen Auschwitz. Der israelische Psychoanalytiker Zvi Rex hat dies sarkastisch so auf den Punkt gebracht: “Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nicht verzeihen.” In Anlehnung daran will ich diese Überlegung einbringen: Wir, die wir geopolitisch privilegiert sind, verzeihen den Flüchtlingen, dem Abfall der Weltordnung, eine Ordnung, die nicht unwesentlich von westlichen Akteuren und Instanzen errichtet wurde und von der der Westen unermesslich profitiert, wir verzeihen den Flüchtlingen nicht, dass sie leiden und uns mit ihrem Leid in den gut eingerichteten Vierteln unseres Wohlstands im wahrsten Sinne zu Leibe rücken. Deshalb müssen sie dämonisiert, herabgewürdigt und letztlich entmenschlicht werden.
Europa ist widersprüchlich, Europa ist ein Ort und Projekt der Barbarei, der Shoa, der ökologisch-ökonomischen Ausbeutung der Welt, des Kolonialismus und Europa ist Ort und Projekt der Aufklärung, der Menschenrechte und des Strebens nach einem guten Leben für alle. Europa ist also widersprüchlich und antagonistisch. Wir sind Zeuginnen dieses Kampfes und auch Akteure in diesem Kampf, der gegenwärtig symbolisch und ganz materiell-physisch auf dem Rücken geflohener Menschen ausgetragen wird. Wie kann ein Einsatz für ein Europa aussehen, das Ort und Projekt eines Strebens nach einem guten Leben für alle ist?
Zwei Punkte, kurz und stichwortartig:
- Wenn wir Gewalt als Versuch der Herstellung und Wiederherstellung, der Bewahrung und Errichtung einer sozialen Ordnung verstehen, haben wir es in Zeiten der Brüchigkeit und des Kampfes um die Ordnungen umso mehr Gewalt mit zu tun. Unter Bedingungen der Zunahme von Gewalt macht es Sinn, vermehrt über Gewalt zu sprechen. Über männliche Gewalt, über Gewalt im Namen einer Religion, über rassistische Gewalt. Aber wir müssen über Gewalt sprechen, ohne dass dieses Sprechen und Handeln selbst zu einer selbstherrlich unangemessen Gewalt wird. Wer wie die NPD, AfD, manche Politiker/innen der als respektabler geltenden Parteien, nicht nur der CSU, religiöse, ethnische, migrantische Gruppen unter Generalverdacht stellt, handelt nicht gegen Gewalt, sondern ist Teil und Motor der Gewalt-Verhältnisse, die es zu verändern gilt.
- Wie ist es möglich, dass Menschen gut leben und zwar nicht auf Kosten anderer, insbesondere nicht auf Kosten jener, die entfernte Nahe sind. Meines Erachtens ist das die ethische Frage des 21. Jahrhunderts. Wie können wir hier gut leben, ohne dass dafür Kinder und Frauen in Bangladesh unter erbärmlichsten Bedingungen arbeiten müssen. Die Bearbeitung dieser Frage ist in erster Linie eine politische Aufgabe. Aber sie ist auch eine pädagogische Aufgabe, meines Erachtens, ich spreche als Erziehungswissenschaftler und pathetisch, die pädagogischen Aufgabe des 21. Jhr. Damit lautet die erste Maxime der Pädagogik des 21. Jhr. also nicht: Wie können wir Humankapital ausbilden? Wie können wir zu Subjekten beitragen, die der mehr und mehr total werden ökonomistischen Logik dienlich sind? Die erste Maxime der Pädagogik des 21. Jhr ist auch nicht: Welchen Beitrag können wir zur Bewahrung eines partikularen Wir, etwa der Nation oder des Volkes leisten? Die erste Leitlinie lautet viel eher: Wie können wir dazu beitragen, dass etwas was ich Solidarität in der Weltgesellschaft nennen möchte, einer Solidarität, die sich auf Andere bezieht, mit denen ich zwar in einem praktischen Zusammenhang (die Näherin in Bangladesh) stehe, die aber entfernt sind, wie können wir dazu beitragen, dass diese nicht mehr im Modell der Gemeinschaft (Nation) ausbuchstabierte Modell von Solidarität, diese Solidarität unter Unverschwisterten für Menschen sinnvoller wird und möglich ist. Solidarität heißt: Den und die Andere als Subjekt anerkennen und ermöglichen. Das ist mehr und anderes als jene Barmherzigkeit, die den Sommer über in Deutschland als eine Art nationaler Selbstgenuss gefeiert wurde, Solidarität ist mehr und anderes, da es den Anderen auch als politisches Subjekt anerkennt, das für sich sprechen kann und darf.
Und diese Anerkennung ist wohl die größte Schwierigkeit, die wir weltgesellschaftlich erleben, weil sie damit einhergeht, von sich selbst Abstand nehmen zu können in einem sehr grundlegenden Sinne. Wer die andere hört, muss zunächst einmal still sein. Bescheidenheit statt Wachstum, nicht dermaßen auf die eigene Identität angewiesen sein, nicht in dieser Art und nicht in dieser Intensität meinen identitären und materiellen Interessen verpflichtet sein. Es scheint mir lohnenswert, diese Bildungsperspektive für diejenigen, die geopolitisch priviligiert sind, ernst zu nehmen.