Oder meenzerisch an Fastnacht 2016: Wolle mer se roi losse?
Prof. Dr. Franz Hamburger
Idar-Oberstein, 5.2.2016, Eröffnungsveranstaltung des Projekts ProIn des IB
Meine Damen und Herren,
Die Zeiten, in denen wir leben, sind zweifellos unübersichtlich. Mit der These von einer „neuen Unübersichtlichkeit“ hatte Jürgen Habermas schon 1985 die Diskussion über den Zeitgeist angeregt. Bei genauerem Hinsehen erkennen wir, dass solche Phasen der starken Veränderung und der darauf bezogenen Orientierungsdebatten regelmäßig zu beobachten sind. Damals ging es um die Frage, ob der moderne Sozialstaat seine Ressourcen erschöpft habe und die Kraft zu utopischem Denken, also die Kraft zu zukunftsoffenen Entwürfen eines gemeinsamen guten Lebens verloren gegangen sei. So könnten wir das heute auch sagen. Innerhalb eines halben Jahres hat die Zuwanderung einer Million Flüchtlinge nach Mitteleuropa scheinbar alles auf den Kopf gestellt.
Das europäische Projekt der Öffnung von Grenzen, zunächst nach innen, aber kontinuierlich auch nach außen, scheint zu scheitern. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die miteinander im Wettbewerb um die besten Investitionen und Profitraten liegen, grenzen sich gegeneinander ab, indem die Freiheit, auch die Sozialleistungen der Mitgliedsländer in Anspruch nehmen zu können, radikal eingeschränkt wird. Die Regelungen zu Wanderarbeitnehmer (dass sie nämlich den einheimischen Arbeitern gleichgestellt werden sollten) waren schon im ersten EWG-Vertrag von 1954 enthalten – in welcher Zeit leben wir denn heute?
Da verhält sich Deutschland genauso wie Großbritannien. Die armen Länder am Rande werden unter Kuratel gestellt und müssen außerdem die Lasten der Flüchtlingszuwanderung tragen. Das ist in Griechenland unglaublich widersprüchlich. Denn es werden gleichzeitig neue Einsparungen verlangt und gleichzeitig erhebliche Leistungen zur Versorgung und Abwehr der Flüchtlinge erwartet. Heute schon ist die medizinische Versorgung der griechischen Bevölkerung schlechter als die der Flüchtlinge – zumindest nach europäischen Normen. Aber wie dramatisch das tatsächlich aussieht, hat in dieser Woche der Bericht eines Mainzer Arztes aus Griechenland gezeigt. Deutschland hat nicht nur auf Kosten der südlichen Staaten die Dublin-2-Regeln des europäischen Asylregimes ausgenutzt, sondern hat mit seiner Wirtschaftspolitik der niedrigen Lohnstückkosten die anderen Staaten in die Verschuldung getrieben. Das zahlt sich nicht nur positiv aus. Und wenn man die Herausforderungen durch Flüchtlinge in Griechenland oder Süditalien vergleicht mit denen in Deutschland, dann muss man staunen, auf welchem Niveau das reiche Land sein Lamento anstimmt.
Interessant ist nun, dass Jürgen Habermas seine Diagnose in den 1980er Jahren besonders auf die Verwerfungen das Sozialstaats richtete und die Erosion der kollektiven Systeme sozialer Sicherung verantwortlich machte für die Depression der politischen Kultur. Diese Dynamiken sind auch heute nicht stillgestellt, aber sie bewegen sich in einem veränderten Rahmen. Dafür will ich zwei Entwicklungen benennen, die mir in dem Geflecht von vielfältigen Bedingungen wichtig erscheinen. Sie bilden den Hintergrund dafür, dass wir verbunden mit der Flüchtlingspolitik eine nationalistische Schließung der europäischen Staaten beobachten müssen.
Vorab möchte ich einige Daten und Informationen zusammenfassen:
Nach der Registrierung im EASY-System sind im Jahr 2015 1.091.894 Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. 476.649 Personen haben einen Asylantrag gestellt. Wenn es je einen absoluten Grund gegeben hat, sich beim Grenzübertritt registrieren zu lassen, dann jetzt: denn sonst gibt es keine Sozialleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Das ganze Geschwätz von der Flut, die unregistriert über die Grenzen schwappt, ist reine Panikmache. Die Mauern und Zäune zwischen den USA und Mexiko sind nur ein gutes Beispiel für die wahnhaften Vorstellungen, man könnte Gesellschaften ab- und einsperren, sie bilden eine Schwelle, deren Überschreiten mit einem hohen Preis verbunden ist.
Von der einen Million kamen 39% aus Syrien, 26% aus sonstigen Ländern, 14% aus Afghanistan, 11% aus dem Irak, 6% aus Albanien und 3% aus dem Kosovo. Gegen Jahresende sind diese beiden Länder fast nicht mehr vertreten gewesen. Kinder und Jugendliche machen ein Drittel aus, junge Erwachsene zwischen 18 und 24 Jahren ein Viertel und die 25- bis 34-Jährigen ebenfalls ein Viertel. Die Flüchtlingsbevölkerung ist also ausgesprochen jung. Rheinland-Pfalz hat im Jahr 2015 bis Mitte Dezember 48.000 Flüchtlinge aufgenommen. Im Jahr 2014 waren es 10.000 Menschen gewesen. Es hat 19 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte gegeben – deutlich weniger als in anderen Bundesländern. Auch die Demonstrationen gegen die Flüchtlinge sind selten. Die Vorbereitung der Bevölkerung im Falle größerer Unterkünfte ist intensiv, das Landesmanagement gilt als ausgezeichnet. Die Landesregierung zeigt im Gegensatz zur Bundesregierung, dass sie eine wirkliche Exekutive ist, in der die Minister nicht ihre Hahnenkämpfe und Wahlauseinandersetzungen austragen.
Ein Argument in der aktuellen Auseinandersetzung verweist darauf, dass schon wesentlich früher etwas hätte getan werden müssen. Das ist richtig. Seit 2011 bestehen in der Türkei und in Jordanien, im Libanon und im Irak riesige Flüchtlingslager. Seit 2005 wurden die EU-Außengrenzen durch eine eigens zu diesem Zwecke eingerichtete Grenzschutzagentur, Frontex, gesichert. Deren Etat ist eklatant gestiegen (von 6,2 Mio. € im Jahre 2005 auf 88 Mio. € im Jahre 2011), ohne aber dass dies dazu geführt hätte, die „Ströme“ wirklich effektiv zu bremsen. Es sind lediglich mehr Menschen ertrunken, aber es wurden auch viele gerettet. Genau dies zeichnet sich jetzt wieder ab, wenn die griechische Regierung gezwungen wird, ihre Grenzsicherung zu verstärken. Das alte Spiel wird fortgesetzt: Es wird nicht an der deutschen Grenze geschossen, sondern an der zwischen Griechenland und der Türkei. Das Dublin-Abkommen wird um eine brutale Variante erweitert.
Wenn ich diese Rede vor einigen Wochen gehalten hätte, dann wäre ich wahrscheinlich in der Einleitung auf die deutschen Skandale des Jahres eingegangen: Auf den Deutschen Fußballbund und die FIFA, auf die Deutsche Bank, auf den Volkswagenkonzern, auf die Desaster mancher Landesbanken, auf die Bundesregierung im NSA-Skandal, auf den Verfassungsschutz im NSU-Skandal, auf die Praxis mancher Staatsanwaltschaften im Umgang mit rechts und links. Ich hätte vielleicht den ADAC in Erinnerung gebracht oder den Missbrauch von Kindern durch Priester oder den Berliner Flughafen oder den einmaligen Sturz eines Bundespräsidenten. Und vieles andere wäre zu erwähnen. Das Gemeinsame dieser Ereignisse, die der Kapitalismuskritiker problemlos unter der Überschrift „gieriges Geld und Doppelmoral“ abhandeln kann, wirkt bis heute nach: Das Vertrauen auf wichtige Institutionen der Gesellschaft ist erschüttert – nicht das erste Mal, aber in dieser Häufung nachhaltig. Die Orientierung an Solidität und Verlässlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und Prinzipientreue zentraler Institutionen verliert an Stabilität. Eine Reaktion auf diese Entwicklung ist die feierliche Beschwörung von Werten. Je mehr sie uns fehlen umso mehr reden wir darüber. An Stelle der Verfassung, die die Gesellschaft zusammenhält, reklamieren wir Werte. Aber Werte bestehen nicht in den Deklamationen, sondern in der Praxis einer Gesellschaft oder sie bestehen nicht. Wenn an die Werte appelliert wird, dann rufen wir in Erinnerung, wie wir sein möchten, wie wir aber nicht sind.
Wenn aber in einer Gesellschaft die „inneren Werte“ abhandengekommen sind, dann braucht sie vor allem einen äußeren Feind oder Gegner, der vielleicht noch liederlicher ist als sie selbst. Dieser Mechanismus ist der älteste in der Geschichte der Menschheit, in der Abraham-erzählung, die ja allen drei monotheistischen Religionen gehört, zum Ausdruck gebracht. Der Sündenbock in der Wüste nimmt alle Schuld auf sich. Das Bedürfnis nach Abspaltung und Verdrängung, Projektion und Aggressionslenkung ist nicht nur ein individuelles Phänomen, sondern auch ein gesellschaftlicher Mechanismus. Wir erleben ihn sowohl in unseren Alltagsbeziehungen wie auch in der medialen Herstellung von gesellschaftlicher Wirklichkeit. Samuel Huntington hat das auf den Begriff gebracht: Wenn wir wissen, wer unsere Feinde sind, dann wissen wir, wer wir sind. Und wer bietet sich da heute mehr an als die Flüchtlinge? Aber wichtig ist festzuhalten, dass gemeinsame Angst noch kein Vertrauen schafft – im Gegenteil. Angst wuchert – auch in den „eigenen“ Reihen.
Der Verlust des Systemvertrauens, also der intuitiven und unbefragten Sicherheit des alltäglichen Lebens wiegt schwer. Natürlich ist es nicht gänzlich verschwunden, und in manchen Gesellschaftsschichten ist es erheblich gewachsen, denn sie profitieren von der Polarisierung in Arm und Reich. Diese Polarisierung ist ein zweiter grundlegender Wandel unserer Gesellschaft, der im Vordergrund und im Hintergrund wirkt.
Unter globalisierten Rahmenbedingungen verändert sich das Verhältnis von Ökonomie, Politik, Sozialstruktur und Kultur. Die Legitimationsbasis von Politik ist weitgehend und nach wie vor die nationalstaatliche Ordnung und wird es in der Demokratie auch bleiben – solange es Wahlen gibt. Während sich die Nationalökonomie schon lange aufgelöst hat, wird die Vorstellung einer politischen Steuerung nach wie vor am Leben gehalten. Faktisch hat sie sich auf die Subvention von Standorten reduziert, um im Wettbewerb der Konkurrenzstaaten standhalten zu können.
Haben von diesen Entwicklungen bisher die mächtigen Staaten und starken Standorte profitiert, so werden sie jetzt Opfer ihrer eigenen Liberalisierungspolitik. Denn die Wirtschaftsmächte haben zusammen mit den transnationalen Akteuren des Finanzkapitals eine rasante Deregulierung betrieben und durch Liberalisierung der Märkte dafür gesorgt, dass die Ungleichheiten global ausgedehnt und erweitert wurden. Die Europäische Union ist dafür das praktische Erfahrungsfeld. Jetzt gibt es Wettbewerb auf einer höheren Ebene der Konzentration – nur noch Oligopole spielen global. Gleichzeitig wird von der Politik die Demokratie marktkonform umgebaut: Es soll keine Alternative zum Diktat der „Märkte“ geben.
Gleichzeitig sind öffentliche Tätigkeitsbereiche privatisiert worden, so dass die Ausdehnung der Märkte die staatlichen Interventionsbereiche verkleinert hat. Das Verhältnis von Politik und Ökonomie hat sich nicht prinzipiell verändert, denn die Politik hat schon immer die Bedingungen für die Entfaltung der Ökonomie gesichert; aber im globalisierten Kontext setzt die Ökonomie die Bedingungen, denen sich territorial gebundene Politik unterwerfen muss.
Migration als Element der Sozialstruktur entwickelt sich dabei in einem spezifischen Spannungsfeld. Einerseits muss die Politik eine sehr flexible Regulierung von Migration organisieren, damit die schnell wechselnden Bedarfe der Arbeitsmärkte befriedigt werden können. Die Anwerbung von Gastarbeitern im Jahr 1955 in Deutschland hat beispielsweise begonnen, obwohl gleichzeitig eine Million Arbeitslose registriert waren. Deren Mobilisierung im nationalen Rahmen erschien aber zeitlich und finanziell zu aufwendig, um den Arbeitsmarktbedarf schnell decken zu können. Ähnlich verhält es sich im neuen Jahrzehnt in der europäischen Zentralregion, wo die Wirtschaft nach schnell und unkompliziert einsetzbaren Arbeitskräften auf einem bestimmten Qualifikationsniveau giert, während gleichzeitig soziale Probleme durch Ausschluss von Qualifikationspotentialen erzeugt werden. Der Abbau von Ausbildungsstellen in den letzten zwei Jahrzehnten spricht Bände. Die Lebenszeiten verlängern sich – die Arbeitskräfte werden dagegen schneller verschlissen.
Die Deregulierung des Arbeitsmarktes und der Abbau sozialstaatlicher Armutsprävention (da hat lediglich der Mindestlohn eine kleine Verschnaufpause gebracht) führen zu einer Vergrößerung der Armutsbevölkerung. Rassistische Militanz und Abwehr auf der einen Seite, der Bedarf nach „transnationaler Flexibilität“ der Arbeitskräfte auf der anderen Seite stehen sich scharf gegenüber. Die deutsche Wirtschaft braucht, wie sie sagen lässt, pro Jahr 400.000 Arbeitskräfte, Fachkräfte. Ein solcher Migrationsüberschuss ist angesichts des Verhältnisses von Zu- und Abwanderung bei ca. einer Million jährlicher Zuwanderung zu erreichen. Das haben die demografischen Berechnungen seit Jahren gezeigt. Die eine Million Flüchtlinge, die im Jahr 2015 nach Deutschland gekommen ist, deckt also – rein rechnerisch – nur den Arbeitskräftebedarf von zwei Jahren – vorausgesetzt, sie bleiben in Deutschland und es wird in ihre Qualifikation ordentlich investiert. Eine so junge Bevölkerungsschicht, deren „Produktion“ uns bisher nichts gekostet hat, das haben die Herkunftsländer geleistet, wird der Arbeitsmarkt in Deutschland in absehbarer Zeit nicht mehr bekommen.
Aber noch einmal zurück zu den ökonomischen Fakten. Thomas Piketty hat für das 21. Jahrhundert eine unerfreuliche Prognose entwickelt (Piketty 2015). Die schon gegenwärtig ungeheure Ungleichverteilung des Reichtums und der Einkommen wird sich im 21. Jahrhundert weiter vergrößern und möglicherweise die Ausmaße des 18. und 19. Jahrhunderts, also des Feudalismus, erreichen. Denn das Einkommen aus Vermögen wächst stärker als das Einkommen insgesamt und vergrößert dabei das Vermögen derer, die aus Vermögen Einkommen erzielen. Die angesichts der relativ geringen Ungleichheit im 20. Jahrhundert wirksamen und Konvergenz fördernden Bedingungen werden im 21. Jahrhundert abgebaut und die Divergenz fördernden Ursachen werden ausgebaut. War das Verhältnis von Kapital und Einkommen im Jahr 1950 im Verhältnis von 3 zu 1 ausgeprägt, so hat es im Jahr 2010 schon das Verhältnis des 5- oder 6-fachen erreicht (in Frankreich und Großbritannien; Deutschland schleicht mit gleicher Tendenz hinterher). Das 21. Jahrhundert wird also das Jahrhundert des gesteigerten Reichtums Weniger und der Armut Vieler werden. Denn auch die pro Jahr erreichten Nationaleinkommen werden auseinandergezogen.
Während viele Prozesse ökonomischen Dynamiken folgen, sind diese Entwicklungen auch politisch initiiert. In der deutschen Politik kann man in jüngster Zeit auf drastische Beispiele verweisen:
- Mit der „Reform“ Hartz IV wurde die Arbeitslosenhilfe abgeschafft, die zwischen Arbeitslosengeld und Sozialhilfe einen sozialrechtlichen Puffer gebildet und vor dem Absturz in Armut nach einem Jahr Arbeitslosigkeit geschützt hatte.
- Die gleichzeitige und seitdem anhaltende Deregulierung des Arbeitsmarktes erweitert erheblich die Möglichkeiten von Arbeitgebern, Arbeitnehmer billig zu beschäftigen und Beiträge zur Finanzierung des Sozialstaats einzusparen sowie ihren eigenen Profit zu steigern.
- Die Deckelung der Beiträge zur Krankenversicherung für die Arbeitgeber bei gleichzeitiger Übernahme aller weiteren Steigerungen durch die Arbeitnehmer verlagert die Finanzierung des Gesundheitsmarktes weiter zu Ungunsten der Versicherten.
- Die teilweise Privatisierung der Altersvorsorge mit „Riesterrente“ überträgt die Finanzierung der Altersvorsorge ausschließlich auf die Arbeitnehmer – bei ungewissen staatlichen Zuschüssen.
- Die „Anreicherung“ der Rentenformel mit dem „demografischen Faktor“ sichert, nach gleich gerichteten Formen der Reform schon in der Vergangenheit, zwar die Rente, aber sie wird schmaler und damit Altersarmut flächendeckend.
- Der sogenannte „Energiekompromiss“ vom Sommer 2015 sichert den Kraftwerkbesitzern Prämien für stillgelegte Kraftwerke und der Bund wird die Kraft-Wärme-Koppelung mit 750 Millionen Euro jährlich fördern; alle entstehenden Kosten trägt „der Verbraucher und der Steuerzahler“.
Alle diese „Reformen“ wirken jahrzehntelang und tragen in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts erheblich zur Bereicherung der Reichsten bei, denn das profitabelste Kapital kumuliert bei einem Prozent der Bevölkerung. Die Bevölkerung wird umso stärker verarmen, je mehr sie in die Dynamiken der Reichtumspolitik negativ eingebunden ist. Und auch die Beschäftigung der Flüchtlinge hat schöne Effekte: Ein ausländischer Beschäftigter bezieht dank Werkvertrag ein wesentlich geringeres Gehalt als die einheimische Fachkraft. Mussten hochqualifizierte ausländische Fachkräfte früher mindestens 66.000 Euro verdienen, sind es heute nur noch 32.500 Euro. Man stellt in einem Krankenhaus etwa einen Facharzt ein und bezahlt ihm das Gehalt eines Assistenzarztes. Zum anderen werden auf diese Art aber auch die Gehälter der einheimischen Fachkräfte gedrückt. Das ist ein gutes Geschäft für die Arbeitgeber.
Die Wirtschaft blüht auf durch die Flüchtlinge. Sammelunterkünfte müssen kurzfristig gebaut werden und die Preise können nicht beliebig ausgehandelt werden. Die Belieferung mit Lebensmittel und allen Dingen für den täglichen Gebrauch muss gesichert werden. In Rheinland-Pfalz gibt es jetzt ein zentrales Lager für alle Erstaufnahmestellen. Die Caterer und die Sicherheitsdienste boomen. Da entstehen Tausende von Arbeitsplätzen für Küchenhilfen, Türsteher ohne Bildungsabschluss und Transportarbeiter. In den Gemeinden müssen die Mietkosten übernommen werden. Wahrscheinlich gibt es im ganzen Land kein altes Hotel mehr, das sich nicht jetzt wieder rentiert. Private Vermieter können richtig Reibach machen. Die Kommunikationselektronik erhält einen erheblichen Schub. Die Einheimischen haben ihre vollen Kleiderschränke geleert und sie zu Weihnachten wieder aufgefüllt.
Einen nicht unerheblichen Teil des belebten Marktgeschehens nimmt der Staat über die Steuern wieder ein (an dieser Stelle müsste man jetzt das schreiben, was ansonsten über die Ausbeutung des Bürgers durch den Staat geschrieben wird!!, aber in diesem Kontext natürlich nicht auftaucht) , auch die Sozialversicherungssysteme bekommen einen Teil ab, den Rest der Kosten übernehmen in der Tat die öffentlichen Haushalte. Mittelfristig wird sich das natürlich auch für den öffentlichen Haushalt lohnen: sowohl die Prognosen wie auch Berechnungen für die Vergangenheit stimmen in dieser Hinsicht überein: Die Ausländer erwirtschaften pro Jahr für Staatshaushalte und Versicherungen einen Überschuss von acht Milliarden Euro – wobei die Sozialausgaben für sie berücksichtigt sind. Es werden jetzt tatsächlich Milliarden für Flüchtlinge ausgegeben – aber genau dies ist das Konjunkturprogramm, das angesichts der Probleme auf dem Weltmarkt gefordert wird. Man kann nur die Rückkehr zu einer einigermaßen rationalen Diskussion der Gründe und der Folgen der Zuwanderung von Flüchtlingen fordern. Unterscheidung von Flucht und Arbeitsmigration ist wichtig und die Klärung von Interessen und menschenrechtlichen Verpflichtungen, denen wir uns deshalb unterworfen haben, weil wir einen freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat wollen.
In der öffentlichen Diskussion werden die Meinungen gebildet und die Orientierungsmuster vermittelt, die angesichts der gesellschaftlichen Verunsicherung durch Polarisierung und Vertrauensverlust gebraucht werden. Monatelang waren die Talkshows im Fernsehen mit PEGIDA angefüllt. Diese Shows folgen der Logik, dass die aggressivsten und auffälligsten Meinungen am meisten honoriert werden.
In diesen Wochen und Monaten greift die AfD vor allem das Thema Migration und die Zuwanderung von Flüchtlingen auf. Die psychische Struktur dieser Partei ist geradezu disponiert für dieses Thema und sie hätte deshalb eher einen Therapeuten nötig als eine ernsthafte politische Auseinandersetzung. Denn sie greift fremdenfeindliche und rassistische Emotionen und Aggressionen auf und gibt ihnen ungehemmt ein Sprachrohr. Und diese Partei strahlt aus. Sie setzt Themen auf die Tagesordnung, die an den Stammtischen schon lange diskutiert werden und verleiht ihnen öffentliche Anerkennung. Sie aktiviert die ohnehin schon aktiven, aber vor allem auch die latenten Hassgefühle und nationalistischen Abgrenzungsbedürfnisse. Die Medien greifen diese Möglichkeit einer aufgeregten und aufreizenden Inszenierung auf und setzen eine Drift nach rechts in Gang.
Ich spreche in diesem Zusammenhang nicht so sehr von Ängsten und Sorgen. Denn Angst, Furcht und Sorge um die Sicherheit sind auch menschendienliche Gefühle. Wir brauchen sie zum Leben in einer unüberschaubaren Welt. Was die AfD aber bedient, sind zumindest ethnozentrische und egozentrische Muster, mit denen man sich gegen andere durchsetzen will. Die viel beschworene Absicht, dass man Ängste und Sorgen ernstnehmen müsse, ist richtig, aber trivial. Man spricht mit den Menschen, die sich sorgen, und nicht über sie. Man bringt nicht ihre Ängste mit politischer Absicht in die Öffentlichkeit, in der sie dann dramatisiert werden. Das gilt ja nicht nur für die AfD, sondern auch für alle Parteien, mehr oder weniger.
Die AfD bewirkt mit ihrer bloßen Existenz eine ganz praktische Konfrontation der anderen politischen Parteien, die sich zu den Auffassungen der AfD zumindest positionieren müssen. Und weil diese Auffassungen öffentliche Resonanz finden und weil es in allen Parteien ebenso wie in allen Gesellschaftsschichten nationale Orientierungen gibt, sind die Wirkungen der AfD erheblich. Man konnte das in Frankreich sehen, wo ein Präsident, der im Frühjahr 2015 noch nicht einmal von einem Fünftel der Bevölkerung Zustimmung erhielt, als Kriegsherr aufgetreten ist. Er wollte die Konservativen und die Nationalisten der Front nationale übertrumpfen, aber hat sie tatsächlich eher beflügelt. Aber wir wissen, was aus politisierten Emotionen entstanden ist seit den Kriegen gegen Afghanistan und den Irak. Bomben bekämpfen vielleicht den Terror, aber sicherlich bringen sie neuen Terror hervor. Durch den Irakkrieg hat sich vor allem die Landschaft des Terrors entscheidend verändert. Und von dieser großen Koalition gegen den sogenannten IS hört man heute nicht mehr so viel, vielleicht auch deshalb, weil die deutschen Flugzeuge ihre Aufklärung nur bei Tag realisieren können.
Die AfD wird aber auch bedient und bestärkt in ihren gehässigen Thesen. Sie findet dadurch mehr Anhänger, dass andere politische Akteure nichts tun oder zu viel tun, um ihr das Wasser abzugraben.
Sie wird bedient durch eine Wirtschaft, von der heute kein klares Wort zu hören ist, dass die Verstümmelung des Asylrechts, nämlich die Verkürzung eines ersten Aufenthaltstitels auf ein Jahr und die Verhinderung der Familienzusammenführung, überhaupt keine Perspektive ist für Integration und für die Sicherung des Arbeitskräftepotentials. Seit mehr als einem Jahrzehnt hören wir täglich, dass 6,3 Millionen Arbeitskräfte aus der Zuwanderung gebraucht werden, um die demografische Lücke zu schließen. In diesen Tagen ist es ruhig geworden von den Unternehmern; jetzt ist aber ihre Stimme nötig, um wenigstens mit ökonomisch-rationalen Argumenten die Regierung von ihrem integrationspolitischen Unsinn abzubringen. Wenn es jetzt um die Reibungslosigkeit der Produktionsabläufe geht, melden sie sich wieder zu Wort mit Argumenten gegen die Schließung der Grenzen.
Und die AfD wird bedient von den bayrischen Dumpfbacken, die nicht müde werden, die ungarische Regierung in ihrer Menschenfeindlichkeit übertreffen zu wollen. Da gibt es Leute, die zündeln gerne, die produzieren nicht nur heiße Luft, sondern einen Sturm, der kalt die Menschlichkeit und Menschenrechte wegbläst. Auch „Transitzonen“ sind Lager, nichts anderes; heimtückisch verschleierte Begriffsbildung ist das. Wer Obergrenzen fordert, ist entweder ein hemmungsloser Populist, oder aber er will sie wirklich. Dann muss er in der Tat die Bundeswehr aufmarschieren lassen und die Flüchtlinge ertrinken nicht mehr im Mittelmeer, sondern werden an der Grenze erschossen. Überraschend ist nur, dass aus Bayern das alte DDR-Denken mit Mauer und Stacheldraht daher kommt. Wenn wir wirklich eine Verantwortung aus der Geschichte haben, dann die, an dieser Stelle eine Grenze der Demokraten zu ziehen.
Die AfD wird bedient von der CDU/CSU bzw. Teilen davon, die in der Regierung eine militante Opposition inszenieren, statt die Handlungsfähigkeit und auch die Handlungswirksamkeit einer Regierung zu besorgen. (Dass es so geht, zeigt die Regierung in diesem Bundesland.) Sich in verantwortlicher Position der Bundesregierung hinzustellen und so zu tun, als könnten nur die verschärften Gesetze etwas bewirken, aber gleichzeitig die bestehenden Möglichkeiten einer effektiven und konsequenten Politik mit Augenmaß und Menschenwürde nicht oder nur sehr langsam zu nutzen, das ist zerstörerische Politik. Sie schädigt das Vertrauen in den demokratischen Staat und treibt Menschen in die Arme der Rattenfänger von der AfD oder auf die PEGIDA-Demonstrationen. Sogar der hessische Innenminister Peter Beuth spricht von „Chaosgequatsche“. Was bisher an Verschärfungen durchgesetzt wurde und weiterhin droht, das hat keine Fluchtursachen beseitigt, sondern teilweise nur verschärft. Das gilt auch für die sogenannte Bekämpfung von Fluchtursachen; dabei handelt es sich lediglich um Bekämpfung der Flüchtlinge. Wer den autoritären Regimen Geld gibt, stärkt deren Herrscher und macht sie unabhängig von ihrer eigenen Bevölkerung. Die können sie dann umso willkürlicher beherrschen. Wir werden sehen, wie sich die Flucht der Kurden aus der Türkei entwickelt. Wir werden aber auch sehen, dass es auf absehbare Zeit in Deutschland keine Regierung mehr ohne die CDU geben wird. Der Einzug der AfD in die Parlamente macht sie in der 6-Parteien-Konstellation immer zur Königsmacherin. Das ist ihr Nutzen.
Die AfD wird auch bedient von vielen Medien. Seit Wochen sieht man von morgens bis abends in allen Fernsehprogrammen die immer gleichen Bilder des Schreckens. Aus den Archiven werden die Schreckensbilder von früheren terroristischen Attentaten hervorgeholt und wieder verbreitet – Hauptsache Gewalt, Hauptsache Emotionen, Hauptsache Kanalisierung von Hass und Aggressivität.
Die Dramatisierung durch die Bilder hinterlässt mehr Schrecken als wir im Moment ahnen. Es bildet sich ein stabiles kollektives Unbewusstes heraus, das jederzeit mobilisiert werden kann. Vor allem, und dies ist ein altes nationalistisches Motiv, kommt alles Unheil „von draußen“, aus dem Ausland. Dabei ist gerade der Terror schon lange da, von uns selbst erzeugt: sowohl in den banlieus als auch in den nationalistischen Milieus – nicht nur in Ostdeutschland. In der ungehemmten Konkurrenz um Aufmerksamkeit und Werbeeinnahmen wird die Berichterstattung der Medien immer hektischer und aufgeregter und produziert so eine Steigerung von Ängsten. Und selbst wenn immer wieder gebetsmühlenartig wiederholt wird, dass „die meisten Muslime in Deutschland friedfertig“ seien – die Bilder sprechen eine andere Sprache. Und was heißt: „die meisten“? Auch die Sprache ist verräterisch. Das Versagen der Polizeiführung in Köln hat die Sicherheitsängste ins Unermessliche gesteigert. Gleichzeitig wird das eine Muster verstärkt: Gefahren, Kriminelle und Terroristen kommen von außen in „unsere“ Gesellschaft hinein. Wir sind der Hort der Menschenrechte und die Erben von Freiheit und Gleichberechtigung. Die „anderen“ sind die Bedrohung. Dass wir mit mehr als tausend Straftaten gegen Flüchtlinge und ihre Unterkünfte den Terror im eigenen Land hervorbringen, der aber so nicht bezeichnet wird, dass der IS von vielen Tausend jungen Menschen aus Mitteleuropa genährt wird, dass die Terroristen von Paris und Brüssel in Europa aufgewachsen sind – all dies wird zur Seite geschoben.
Es ist relativ unwahrscheinlich, dass sich die zentralen Parameter der Lage in Zukunft ändern werden: Die Rüstungswirtschaft ist weiterhin an dem Export einer ungeheuren Menge von Waffen in den Nahen Osten interessiert. Die amerikanische Politik der militärischen Intervention, der völkerrechtswidrigen Kriege und der Zerstörung von Staaten ist auch unter der Leitung eines Präsidenten, der den Friedensnobelpreis erhalten hat, unverändert geblieben. Die deutsche Politik der Abwehr, der Verdrängung von Flüchtlingen und der Scheinlösungen findet in der Mehrheit der Bevölkerung Unterstützung. Die Sozialpolitik der schärferen Umverteilung von unten nach oben ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts erst richtig in Gang gekommen. Die Ausweitung der NATO nach Osten zerstört das mitteleuropäische Gleichgewicht der „Ära Kohl/Gorbatschow“, fördert neue Kriege und wird in der Folge zu unüberschaubaren neuen Fluchtursachen führen (Bauer 2015).
Wie trivial die Umstände der Produktion von Fluchtbewegungen sind, kann man am Beispiel der jungen Männer aus Marokko zeigen, die an Sylvester 2015 in Köln durch Diebstahl, Nötigungen und sexuelle Gewalt aufgefallen sind. Aus Marokko hatte Deutschland ab 1963 Gastarbeiter/innen angeworben. Ein kleinerer Teil der Angeworbenen lebt in Deutschland und unterhält Beziehungen zur Verwandtschaft in Marokko. In das Land mit seinen 33 Millionen Einwohnern kommen gegenwärtig pro Jahr acht bis zehn Millionen Touristen. Auch die Wirtschaftsbeziehungen sind „großartig“: „Das marokkanische Exportgeschäft im Automobilsektor boomt“, meldet die Deutsche Industrie- und Handelskammer in Marokko im Januar 2016. Die europäischen Global Players im Autobau freuen sich über die billigen Zulieferer. Das Investitionsschutzabkommen von 2004 sorgt dafür, dass den deutschen Akteuren in Marokko nichts passieren kann. Ebenso ein Steuerabkommen, das die Verlagerung von Gewinnen aus Marokko heraus ermöglicht. Das Handels- und Dienstleistungsfreiheitsabkommen mit der EU wird noch verhandelt. Dann ist Marokko frei für die nächste Stufe der wirtschaftlichen Eroberung. Die globalen Wanderungsbewegungen folgen in zentralen Linien den Wegen des Geldes. Das zeigt sich am Verhältnis der armen und reichen Länder.
Es ist nicht so, dass wir bei der Entwicklungshilfe zu wenig geben. Es ist vielmehr so, dass wir zu viel nehmen. Denn nach den Berechnungen des „Internationalen Netzwerkes Steuergerechtigkeit“ fließt aus den sogenannten Entwicklungsländern ein riesiger Strom Geld in die Steueroasen und die reichen Länder der Welt. „Die Entwicklungsländer verlieren durch illegale Finanzströme jährlich ein Vielfaches dessen an Kapital, was sie durch öffentliche Entwicklungshilfe erhalten. Allein durch Preismanipulationen von Konzernen verlieren die armen Länder jährlich 160 Milliarden US-Dollar an Steuereinnahmen; das ist deutlich mehr als sie an Entwicklungshilfe erhalten.“ (Markus Meinzer: Der neue Kolonialismus, SZ 12.4.2013, S.2)
Der Außenhandelsüberschuss für Deutschland betrug 2012 „nur“ 820 Millionen Euro; denn weder ist Deutschland für Marokko noch Marokko für Deutschland ein sehr wichtiger Handelspartner. Aber es geht hier ja um den Kontext, in dem offensichtlich junge Menschen aus Marokko nach Deutschland kommen und versuchen, in legalen und illegalen Weisen Geld zu verdienen, das sie (auch) an ihre Familien in Marokko schicken. Die Modernisierung des Landes in vielen Schritten ist der europäisch induzierte Wandel, der „unsere“ Freiheiten, Möglichkeiten und Reichtümer mit sich bringt, dessen Früchte aber nur von den europäischen Ländern geerntet werden sollen. Natürlich lassen die Touristen auch Geld im Land – aber den Reibach machen die europäischen Organisatoren des Tourismus. Und die Touristen schwärmen davon, was sie für ihr Geld in Marokko kaufen können. Glauben die jungen Menschen in Marokko, sie könnten den Pfaden des Geldes folgen, dann sind sie illegal, unerwünscht und werden kein Asyl erhalten.
Das Beispiel ist sehr ungeeignet, um die gegenwärtig besonders für Europa relevanten Fluchtursachen zu beschreiben. Denn obwohl Marokko im „Asylpaket 2“ zum sicheren Herkunftsland erklärt wird und der Anschein einer wichtigen, die Einwanderung erheblich vermeidenden Entscheidung erweckt wird (In Rheinland-Pfalz lebten zu diesem Zeitpunkt gerade 16 Menschen aus Marokko), geht es um eine kurzfristige Vermeidungsstrategie zur Abwehr der Flüchtlinge. Noch deutlicher wird der Charakter dieser Politik, wenn man überlegt, was im Falle der Ausweisung der marokkanischen jungen Menschen geschehen wird. Sie haben keine Erlaubnis zur Ausreise beantragt, was im Königreich Marokko wie im guten alten europäischen Feudalismus auch noch üblich ist, und gelten deshalb in Marokko als straffällig. Im Falle der Einkerkerung kann man sich den weiteren Lebens- und Migrationsweg vorstellen. Was aber die Situation der jungen Menschen in Marokko, von denen die Hälfte arbeitslos ist, ändern könnte, wäre der legale Einwanderungspfad für Afrika, den ProAsyl seit vielen Jahren fordert und der für wenige eine reale Chance, für viele aber eine einigermaßen realistische Hoffnung darstellen würde.
Ich habe, meine Damen und Herren, in meinen bisherigen Ausführungen einseitig auf Tendenzen hingewiesen, die einer kritischen Gesellschaftsanalyse auffallen. Aber schon Jürgen Habermas hat seinerzeit formuliert: „Die Lage mag objektiv unübersichtlich sein. Unübersichtlichkeit ist indessen auch eine Funktion der Handlungsbereitschaft, die sich eine Gesellschaft zutraut. Es geht um das Vertrauen der westlichen Kultur in sich selbst.“ (Habermas 1985, S. 143) Damit sind wir genau bei dem Satz „Wir schaffen das!“. Er ist deshalb so provozierend, weil die Sprecherin von dem „Wir“, also Staat und Gesellschaft, Politik und Bürgerschaft eine gemeinsame Anstrengung verlangt, um ein Problem zu lösen. Doch das „Wir“ zerfällt. Die Politik fördert den Reichtum weniger, die Mittelschicht franst nach unten stärker aus, eine Folge der Agenda 2010, die großen Institutionen verspielen den Kredit, den sie in der Bevölkerung haben. Und die Bürger? Ein Teil geht auf die Straße und lässt seinen Rassismus ungehemmt raus. Die sogenannten sozialen Medien werden von einer braunen Flut, die politisch und physikalisch braun ist, überschwemmt, in der jeder seine Menschenverachtung und seine Mordlust ausleben kann. Aber das ist nicht alles. Das „Wir schaffen das“ ist auch die Losung eines großen Teils der Bevölkerung, der sich tagtäglich engagiert, für die Flüchtlinge und für die Versorgung alter Menschen, für den sozialen Zusammenhalt und die Kohäsion der Gemeinden. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung hat ermittelt, dass gerade in Regionen mit einem hohen Migrantenanteil der Zusammenhalt, der die Migranten einschließt, besonders groß ist. Und eine andere Studie der Stiftung hat gezeigt, dass Ausländerfeindlichkeit in Rheinland-Pfalz von allen Bundesländern am wenigsten ausgeprägt ist. Das Engagement gerade in der sogenannten Flüchtlingskrise ist besonders stark.
Und noch eines können wir beobachten:
Mit dem Engagement der Bürger sind auch neue Aufgaben für die Soziale Arbeit verbunden. Sie wird zum Katalysator für viele diffuse und strukturierte Hilfsbereitschaften. Sie koordiniert sie, ermuntert zum langfristigen Engagement, kanalisiert ungestüme Bestrebungen, gibt ihre Kompetenzen der zielstrebigen Unterstützung an die Ehrenamtlichen weiter. Und auch sonst geht es ihr nicht schlecht. Sie boomt. Der Arbeitsmarkt ist leergefegt, ihre Kompetenzen werden für Koordination und Kommunikation gebraucht. Und gerade dies ist für die Vernetzung der staatlichen Infrastruktur, der Organisationen der Wohlfahrtspflege und des bürgerschaftlichen Engagements besonders wichtig. Wie in allen Krisen wächst die Soziale Arbeit und treibt – neben dem Gesundheitssektor – die Transformation der Dienstleistungsgesellschaft weiter voran. Da ist Führungsqualität gefragt, wenn Berufsanfänger in einem expandierenden Tätigkeitsfeld aktiv werden. Aber auch politische und professionelle Reflexion. Denn die Soziale Arbeit steht mitten in der Gesellschaft, teilt ihre Ansichten und ist nicht nur gutmenschlich tätig, wie es unser Selbstbild gerne hätte.
Und noch etwas zum Schluss: Die Integration der Zuwanderungsschübe seit 1946 ist gelungen. Niemand redet heute noch über Flüchtlinge aus dem Osten und Vertriebene, über heißblütige sizilianische Gastarbeiter (schon damals waren die blonden deutschen Frauen in Gefahr) und merkwürdige Aussiedler. Und welche Flut von rassistischen Briefen ist über Fritz Walter, den Heroen der Pfälzer Weltgeschichte, hereingebrochen, als er „Italia“ geheiratet hat! Und was hat es für Aufstände und mediale Aufregungen zum jeweiligen Einwanderungszeitpunkt gegeben! Aber: Wo wäre die Republik wirtschaftlich und kulturell ohne diese Einwanderungen?
Bauer, R. (Hrsg.)(2015): Kriege im 21. Jahrhundert: Neue Herausforderungen der Friedensbewegung. Annweiler am Trifels.
Piketty, T.(2015): Das Kapital im 21. Jahrhundert. 5. Auflage, München.
Habermas, J.(1985): Die neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt am Main