Jürg Brühlmann
Dachverband Lehrerinnen Und Lehrer – Schweiz
Öffentlich finanzierte Bildung beschränkt sich bisher auf die obligatorische Schulzeit für Kinder und Jugendliche. Bildung für Alle wäre mehr: Spiel- und Entdeckungsmöglichkeiten für Kinder im Vorschulalter, Nachholbildung für migrierte Menschen oder Erwachsene ohne Lesekenntnisse, berufliche Weiterbildung, Weiterbildung für Eltern oder Senioren. Die Kosten für diese Angebote werden zu einem grossen Teil von den Interessierten selber, von NGO’s, Stiftungen und manchmal Arbeitgebern getragen und kaum gemeinschaftlich über progressive Steuern finanziert.
Während etwa 11 Jahren in der Kinder- und Jugendphase ist die Bildung (noch) weitgehend untentgeltlich. Vor und nach der „Volks“-schule, wie die obligatorische Schule in der Schweiz genannt wird, entstehen den Familien jedoch Kosten in Form von namhaften Elternbeiträgen und Gebühren. Auf der Tertiärstufe ist Bildung ohne finanzielle Polster sogar meist nur mit Krediten und Schulden finanzierbar.
Bildung muss über Steuern finanziert werden
Das Menschenrecht auf Bildung erweitern heisst deshalb zuerst einmal über die Finanzierung von Bildung sprechen. Der gnadenlose Steuerwettbewerb erlaubt es Unternehmen und reichen Einzelpersonen, sich den gemeinschaftlichen Verpflichtungen zu entziehen. Der ehemalige Chef von Novartis grüsst als milliardenschwerer Steuerflüchtling aus Monaco, während gleichzeitig in seinem Land die Bildungsangebote abgebaut werden. Dafür werden von ersten Kantonen neoliberal inspirierte “Studienaktien” gefördert, die gewinnbringende Investitionen in Studierende ermöglichen, die so in eine lebenslängliche Verschuldung und Abhängigkeit geraten. Weil Bildung in unserem heutigen Verständnis mehr ist als ein schulisches Fenster in der Kinder- und Jugendzeit, mehr als ein Proviantsack für das Leben sondern ein über das ganze Leben verteilter Prozess, müsste sie als Menschenrecht nicht nur anders verstanden, sondern auch gemeinschaftlicher und solidarischer finanziert werden.
Bildungsabbau trotz Sonntagsreden
Zuerst treffen die laufenden Einsparungen die Schwächsten: Angebote von Deutsch für fremdsprachige Kinder werden halbiert, immer höhere Gebühren den Eltern aufgebürdet. Die Kosten für Kittas, Spielgruppen Hausaufgabenhilfe fressen die Einkommenszuwächse gleich wieder weg. Im Vergleich zu den USA oder ärmeren Ländern wirkt das vielleicht als Jammern auf hohem Niveau. Besorgniserregend ist, dass nun trotz politischen Sonntagsreden über die Bedeutung einer guten Bildung für den Wohlstand das Prinzip der unentgeltlichen Grundschulbildung und der bezahlbaren höheren Bildung auch in wohlhabenden Ländern ausgehöhlt wird. Abhängige und verschuldete Länder werden sich kaum wehren können, wenn Forderungen nach Kostenüberwälzung auf die Familien auch an sie gestellt werden.
Eine bessere Zukunft denken
Die inhaltliche Wunschliste für eine Erweiterung des Menschenrechts auf Bildung in der Schweiz ist lang:
- Unentgeltliche vorschulische Spielgruppen und Tagesstrukturen
- Sichere und selbstständig zugängliche Entdeckungs-, Bewegungs- und Spielmöglichkeiten auch im Freien
- Unentgeltliche und gebührenfreie Bildungspflicht bis zum der Abschluss Sekundarstufe II, als Recht auch für Kinder und Jugendliche aus Familien ohne legalisierten Aufenthaltsstatus (“Sans Papiers”).
- Nachholmöglichkeit für einen unentgeltlichen Berufsabschluss oder ein Abitur / eine Matura, auch für geflüchtete und migrierte Kinder und Jugendliche
- Studiengebühren von max. 2000 Euro pro Semester an Hochschulen und Stipendien für tertiäre Erststudiengänge und Weiterbildungen
- Bildungsgutscheine für Erwachsene, insbesondere für Eltern, Menschen ohne IT-, Mathe-, Lese- oder Gastlandsprachkenntnisse und Senioren
- Bleiberecht für alle Kinder und Jugendliche, welche im Gastland während min. 6 Jahren obligatorische Schulen besucht haben.
ICH-AG auch in der Bildung
Solche Vorschläge stoßen in der heutigen Stimmung kaum auf Akzeptanz, wie der vom Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH vor den Parlamentswahlen lancierte “Harmomat” zeigt (1). Die dominierende neoliberale Denkweise fordert seit 30 Jahren mehr Freiheit und weniger Staat, private Eigeninitiative und möglichst wenig Steuern für Vermögende und Einkommensstarke. Wie lange die Länder in Mitteleuropa noch eine mit progressiven Steuern finanzierte Bildung auf einem hohen Stand anbieten können, wird zunehmend fraglich. Kommunikation, Energie und sogar Wasser werden privatisiert. Warum nicht auch die Bildung? Vor zehn Jahren wäre nur schon die Idee verrückt gewesen, sich eine Schweiz oder ein Europa ohne unentgeltliche und gemeinschaftlich getragene Bildung für Kinder und Jugendliche vorzustellen. Heute müssen wir uns mit dem Zerfall der gemeinschaftlich-demokratisch orientierten Staatsidee auseinandersetzen.
Globalisierung und Kommerzialisierung von Bildungsabschlüssen
Mit der neoliberalen Marktideologie hat ein hemmungsloser Wettbewerb mit Messen, Vergleichen und Testen Einzug gehalten. Abschlüsse werden zunehmend international zertifiziert. Die Definition von Ansprüchen verschiebt sich tendenziell von den abgebenden Schulstufen hin zu den übernehmenden Schulen und in die Berufsbildung, die ihrerseits wiederum Tests nutzen. Mit scheinbar objektiven Tests fallen zwar bisherige Ungerechtigkeiten weg, es entstehen aber neue Nachteile. Tests können umfassende Bildungsergebnisse gar nicht messen. Wie sollen erfolgreich erlernte soziale Kompetenzen wie Empathie und Beziehungsfähigkeit oder die Übernahme von Verantwortung gemessen werden? Wie werden Kreativität, Initiative und Durchhaltevermögen mit Tests beurteilt? Die Selektion und die Steuerung der öffentlichen Bildungsfinanzen über vermeintlich objektive Daten fördert nicht eine bessere Bildungsqualität.
Bildung nur noch für Eliten?
Breite öffentliche staatlich verordnete Bildung war im 19. Jahrhundert ein politisches und wirtschaftliches Ziel um die Nationalstaaten konkurrenzfähig zu machen und voran zu bringen. Heute wird zwar viel von lebenslanger Bildung gesprochen, weil der Zusammenhang zwischen Bildung und privaten sowie nationalen Einkommen evident ist. Mit der Globalisierung sinkt jedoch der Bezug der Reichsten 10% der Bevölkerung zu lokalen Standorten. Sie wohnen dort, wo es sicher und steuergünstig ist, sie können sich problemlos privat bilden und das überall auf der Welt. Gute Bildung schützt in vielen europäischen Ländern nicht (mehr) vor Arbeitslosigkeit. Auch weniger Privilegierte überlegen sich deshalb, ob es sich für sie überhaupt noch lohnt, Zeit, Geld und Mühe für das was öffentliche Bildung genannt wird zu investieren. Wer sich persönlich keinen Profit (mehr) erhoffen kann, wer sich Bildung selber finanzieren kann und wer mit Gesundheits- und Rentensorgen in der Alterspyramide weiter oben angesiedelt ist, muss gute Gründe haben, um öffentliche Bildungsausgaben mitfinanzieren zu wollen.
Politische Aufklärung ebnet den Weg
Die weiter oben präsentierten Vorschläge für ein erweitertes Menschenrecht auf Bildung machen die Stossrichtung der politischen Arbeit deutlich:
- Die beschränkenden Altersgrenzen der öffentlichen und unentgeltlichen Bildung müssen fallen: Bildung findet unabhängig vom Alter statt.
- Die Ausrichtung der Bildung auf legal anwesende gesunde „Normal“bürger muss weiter gefasst werden: Bildung muss alle Menschen erreichen.
- Die Gesellschaft und damit der Staat muss Träger der Bildungsangebote bleiben und diese finanzieren können.
Derartige Ziele können nur ethisch-normativ begründet werden, aus betriebsökonomischer Sicht sind sie nicht attraktiv. Dahinter steht ein bestimmtes Verständnis, was eine Gesellschaft ausmacht. Der volkswirtschaftliche Gewinn ergibt sich aus mehr Zufriedenheit, Wohlbefinden und Gesundheit, friedlichen und sicheren Zustände, einem größeren Innovationspotential. Die von profitmaximierenden Raidern getriebene Wirtschaft orientiert sich jedoch an volatilen Aktienkursen und Quartalsabschlüssen mit Boniprämien statt an nachhaltigen Entwicklungen. Je nach Bedarf werden möglichst günstige und mobile Arbeitskräfte irgendwoher importiert. Aus Anlegersicht wäre es hochinteressant, wenn rentable Teile der bisher vom Staat angebotenen Bildung den Unternehmen überlassen, aber weiter vom Staat bezahlt würden.
Die Herausforderung besteht somit darin, eine Koalition von stimm- und wahlberechtigten Menschen zu finden und zu bilden, welche Bildung als eine gemeinschaftliche Sache der Gesellschaft und damit des gemeinsam mit progressiven Steuern finanzierten Staats sehen. Bildung wäre so gesehen ein unverzichtbares Gut, ein Menschenrecht, wie das Dach über dem Kopf, der Zugang zu Wasser, die Gesundheitsversorgung und das Internet.
Harmomat
http://bildungstag.ch/images/Dokumentation_2015/harmomat_schweizerbildungstag2015.pdf